1920er

Die Erfindung des Biodeutschen

Die Erfindung des Biodeutschen * Von Bodo Mrozek * November 2016 Als Erich Mühsam den Monte Verità bei Locarno erklomm, kam ihm „recht lächerlich“ vor, was er auf dem Berggipfel erblickte: Menschen mit langen Haaren und wallenden Bärten bar jeglicher Textilien bei der Feldarbeit. Den kommunistischen Schriftsteller Erich Weinert inspirierte die Szene wenig später zu einigen respektlosen Versen: „Wer sich von innen her beschaut / und Nietzsche liest, und Rüben kaut / was kümmern den die andern? / Juchu! Wir müssen wandern!“. Weinerts „Gesang der Edellatscher“ und Mühsams Spott, den der Essener Historiker Jürgen Reulecke auf einer Tagung über „Avantgarden der Biopolitik“ im Archiv der Jugendbewegung zitierte, scheinen einen maximalen Abstand zwischen der im Mythischen irrlichternden Lebensreform und der politischen Linken zu illustrieren. Doch der Schein trügt.

„Das, was wir machen, ist alles andere als eine Texthuldigung“

Oder: Wann über „Mein Kampf“ gelacht werden darf * Interview mit Sebastian Brünger * Von René Schlott und Mirko Winkelmann * Januar 2016 Sebastian Brünger, Zeithistoriker am Zentrum für Zeithistorische Forschung und Doktorand an der Humboldt-Universität Berlin, ist seit 2007 Mitglied der Theatergruppe Rimini Protokoll. Anlässlich der Berliner Erstaufführung gibt er Auskunft über ihr Projekt „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 &2", an dem er als Dramaturg und Rechercheur mitgewirkt hat. Die Fragen stellten die Historiker René Schlott und Mirko Winkelmann: Wie kam es dazu, dass „Mein Kampf“ von Rimini Protokoll inszeniert wurde? • Welche persönliche Beziehung hast Du zum Gegenstand? • Du bist selbst Historiker. Wie hat das den Rechercheprozess für das Stück beeinflusst? • Welche Rolle spielt historisches Faktenwissen für das bzw. im Stück? • Seht Ihr Euer Stück in einer bestimmten Dokumentartheater-Tradition? • Darf man über „Mein Kampf“ lachen? Muss man es fürchten? • Trägt ein solches Stück nicht weiter zur Mythenbildung um Hitler und „Mein Kampf“ bei? ...

„Halbheiten“

Auf der Hitlerwelle von Marx zu ISIS * Von René Schlott und Mirko Winkelmann * Januar 2016 Auf dem Kamm der neuen Hitler-Welle, die derzeit durch das Land und die Medien rollt, am selben Tag, an dem das Institut für Zeitgeschichte die kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ vorstellt, gastiert die Theatergruppe Rimini-Protokoll mit ihrer neuen Produktion am HAU HAU Hebbel am Ufer Berlin. Ein Fernseher mit Bildern des Eichmann-Prozesses, ein künstliches Weihnachtsbäumchen, unter dem noch verpackte Geschenke liegen, ein Mülleimer, meterhohe Regalwände und ein Brief, der bei der deutschen Forschungsstation in der Antarktis nachfragt, ob „Mein Kampf“ in deren Bibliothek vorhanden sei. So beginnt die Inszenierung mit dem Titel „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“, die die Regie- und Theatergruppe Rimini Protokoll zuerst im September 2015 in Weimar auf die Bühne brachte und die just am Tag der vielbeachteten Veröffentlichung der kommentierten Edition des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) am ausverkauften Berliner HAU zu sehen war. Die Idee, das 800-Seiten Werk als Theaterstück aufzuführen, entstand vor drei Jahren. Anlass war das absehbare Ende der urheberrechtlichen Schutzfrist von Hitlers „Mein Kampf“ zum 1. Januar 2016. Bis dato unterband die bayerische Landesregierung eine Publikation dieses Werkes in Deutschland, das bis 1945 knapp 12,5 Millionen Mal gedruckt worden war. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit dieser wichtigen programmatischen Schrift des Nationalsozialismus und mit ihrem Verfasser wurde hierdurch freilich nicht geklärt. Sie bot seither regelmäßig Anlass zu heftigen Debatten, in denen nicht zuletzt auch die Haltung der deutschen Gesellschaft zur nationalsozialistischen Vergangenheit verhandelt wurde.