Mittel-/Osteuropa

Des Kaisers neue Kleider

Eine Analyse des aktuellen rechtskonservativen Geschichtsdiskurses in Polen * Von Karol Franczak und Magdalena Nowicka * August 2016 Einer der Gründe für den Erfolg der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) in der polnischen Öffentlichkeit ist ihr konsequentes Eintreten für eine Geschichtsnarration, die, Michel Foucault folgend, als Gegen-Geschichte bezeichnet werden kann[1]. Dabei handelt es sich um ein affirmatives Geschichtsbild, welches bis vor Kurzem noch von der Mehrheit der polnischen Eliten als radikal und manipuliert bezeichnet wurde. Diese Gegen-Geschichte kehrt die vorherrschende Interpretation der Ereignisse um: der Erfolg des Runden Tisches von 1989 wird als eine verräterische Absprache der Opposition mit den kommunistischen Machthabern dargestellt, die führenden Akteure des Transformationsprozesses werden als käufliche Eliten beschrieben und die letzten hundert Jahre der polnischen Geschichte als Epoche ungebrochenen Heroismus‘ erzählt. Diese Gegen-Geschichte ist im heutigen Polen ein Instrument der Abrechnung.

Die „Verstoßenen Soldaten“

Embleme eines Erinnerungsbooms * Von Maria Kobielska * Juli 2016 Als Wissenschaftlerin, die sich mit der aktuellen polnischen Erinnerungskultur – und damit auch mit dem eigenen kulturellen Umfeld – beschäftigt, kann ich den neuesten Erinnerungsboom kaum übersehen. Dabei handelt es sich vor allem um das forcierte Gedenken an die sogenannten „Verstoßenen Soldaten“. Die polnische Erinnerungskultur konzentriert sich gegenwärtig in hohem Maße auf die militärische und politische Geschichte des Landes, auf große historische Ereignisse und die Leistungen der polnischen Armee. Diese Erinnerungskultur ist männlich, katholisch, ethnisch polnisch, zentralisiert, antikommunistisch und in jeder Hinsicht normativ. Zwar gibt es darin auch innovative, abweichende und kritische Elemente, diese nehmen jedoch stets auf die beschriebene Fokussierung der Erinnerungskultur Bezug, reagieren darauf und verarbeiten sie. Der „Boom der Verstoßenen“ treibt diese Form des Gedenkens allerdings ins Extreme.

Dreißig Jahre Tschernobyl

Zur Aktualität der Reaktorkatastrophe * Von Joachim Radkau * April 2016 Was können wir aus der Geschichte der Atomtechnik für die Energiewende lernen? In langen Gesprächen, die ich gemeinsam mit Lothar Hahn und Klaus Töpfer führte, kristallisierte sich vor allem ein Punkt heraus: In der Frühphase der Atomenergiewirtschaft hatte sich ungeachtet aller Differenzen eine Community an Fachleuten herausgebildet. Sie alle kannten einander und trafen sich auf den Fachkonferenzen der Welt. Sie spielten, wenn es darauf ankam, einander die Bälle zu. Diese Community war entscheidend für den Aufstieg der Atomkraft, ungeachtet aller von Anfang an herrschenden Bedenken. Eine solche Community gibt es als Basis für die Energiewende bislang kaum. Stattdessen ertönt unendlich viel Polemik und es herrschen oft destruktive Kritikformen. Soweit ich es beurteilen kann, sind die Vorkämpfer der Energiewende derzeit in viele unterschiedliche Szenen aufgesplittert: in Anhänger der Windkraft und der Solartechnik, der zentralen und der dezentralen Energieerzeugung, der Förderung energiesparender Technologien, und schließlich der Bioenergie und Geothermie. Hier fehlt die Kommunikation zwischen den VertreterInnen der verschiedenen Konzepte, eine konstruktive Kritik und nicht zuletzt Solidarität untereinander. Das ist eine Herausforderung, der sich die junge Generation stellen sollte.

Die „Flüchtlingsfrage“ in Deutschland nach 1945 und heute

Ein Vergleich * Von Matthias Beer * April 2016 Eindeutiger kann das Ergebnis eines Vergleichs der gegenwärtigen und der Flüchtlingsfrage nach 1945 nicht ausfallen. Die strukturellen Voraussetzungen sind, welche Parameter man auch betrachtet, grundverschieden. Für die beliebte Gleichsetzung der Flüchtlingsfrage nach 1945 und der gegenwärtigen, für eine Analogie oder auch nur eine Anspielung liefern die empirischen Befunde keine Grundlage. Der in der Öffentlichkeit, in der politischen Auseinandersetzung, in den Medien und auch in der Wissenschaft bemühte Vergleich führt daher nicht nur in die Irre, er ist auch falsch. Die gedeuteten, vermuteten oder angenommenen Gemeinsamkeiten der beiden Flüchtlingsfragen liegen nicht vor. Auch deshalb sollte der Griff in die Kiste der Geschichte Urteilen und Unterscheiden nicht ersetzen, auch nicht bei der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage. Daraus aber im Umkehrschluss den Schluss zu ziehen, der Blick in die Vergangenheit sei zu vermeiden, wäre sicher voreilig. Denn gerade die Analyse einer Zwangsmigration von rund 12,5 Millionen Menschen mit den ihr eigenen Charakteristika und deren weitgehend erfolgreiche Integration und Assimilation in der Bundesrepublik erlaubt es, zumindest Schlüsse aus einem mittlerweile historisch gewordenen Prozess zu ziehen: Die Aufnahme von Millionen von Migranten in kurzer Zeit kann gelingen, ihre Integration kann erfolgreich verlaufen und die Flüchtlinge und die aufnehmende Gesellschaft können daraus Vorteile ziehen. All das kann, muss aber nicht eintreten und tritt schon gar nicht zwangsläufig ein.

Späte Entschädigung für die Opfer einer kalkulierten Vernichtungsstrategie

Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen in den besetzten Gebieten * Von Tanja Penter * November 2015 Siebzig Jahre nach Kriegsende beschloss der Deutsche Bundestag im Mai 2015 eine zumindest symbolische Entschädigung für das unvorstellbare Leid, das sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Gefangenschaft erlitten hatten. Eine Geste, die in den Augen vieler Betroffener längst überfällig war. Das Beispiel der Debatten um die Entschädigung für die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen macht deutlich, wie lange es dauern kann, bis die Forschungen der Historiker/innen eine breitere Öffentlichkeit und schließlich auch die politischen Eliten erreichen...

Europa an der Grenze

Zeithistorische Anmerkungen zur „Flüchtlingskrise“ * Von Annette Schuhmann, Christoph Plath * Dezember 2016 Zu den Zielen des Fachportals Zeitgeschichte-online gehört nicht zuletzt die Beobachtung der Gegenwart. Allerdings, und das unterscheidet das Portal vom Auftrag der sogenannten Leitmedien, beobachten wir aktuelle Ereignisse, Konflikte und Debatten aus der Perspektive der zeithistorischen Forschung. Das Thema, das derzeit alle europäischen Gesellschaften am heftigsten umtreibt, sind die Migrationsbewegungen aus den Krisenländern der Welt. [...] Zwar verspricht eine Erweiterung der aktuellen Diskurse um die Perspektiven der zeithistorischen Forschung keine Lösung des Problems. Eine sachlichere und ehrlichere Analyse der Krisenhintergründe, der Verzicht auf Ost-/West- Stereotype und eine Debatte, die den historischen Verlauf nicht mehr unterschlägt, sollte jedoch möglich sein. Um den Rahmen der Diskussionen zu erweitern, haben wir einen Themenschwerpunkt initiiert, der mit Beiträgen von Historiker/innen beginnt, die sich mit dem Phänomen der Fremdenfeindlichkeit und ihrer Geschichte in Osteuropa, in der ehemaligen DDR und dem heutigen Tschechien auseinandersetzen. Der Themenschwerpunkt wird sukzessive erweitert, denn die Krise hat gerade erst begonnen…

Der Fall Reinefarth, 1944-2014

Informationen zum Foto: 
Reinefarth war als Leiter der Waffen-SS und der Polizei verantwortlich für die Massaker der SS an der polnischen Zivilbevölkerung im Verlauf des Warschauer Aufstandes. In Polen wurde er der „Schlächter von Wola“ genannt. Auf dem Foto ist er mit Jakub Bondarenko, dem Kommandeur des III. Kuban-Kosakenregiments während des Warschauer Aufstandes in der Nähe der Wolska-Straße zu sehen.

Die Vielfalt des Erinnerns

Die russische Gesellschaft hat bisher kein einheitliches Geschichtsbild entworfen, auch kein ‚postsowjetisch verordnetes Geschichtsbild‘, wie Hans Mommsen titelte.[1]
Vor allem die russische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war und bleibt heterogen.