Osteuropa

„Erst die Geschichte mag solche Helden“

Anmerkungen zur Selbstverbrennung von Piotr Szczęsny in Polen * Von Sabine Stach * Januar 2018 Am 19. Oktober 2017 hat sich Piotr Szczęsny, ein 54-jähriger Chemiker aus der Nähe von Krakau, vor dem Kulturpalast in Warschau selbst angezündet. Auf diese Weise demonstrierte er gegen die schrittweise Aushöhlung der Demokratie in seinem Land. In Deutschland wurde das Ereignis kaum wahrgenommen. Und auch in Polen scheiden sich die Geister daran, ob seine Tat eine angemessene Reaktion erfahren hat. Auf der Suche nach Gründen dafür erscheint nicht zuletzt eine historische Perspektive aufschlussreich, denn die Selbstverbrennung als Akt politischen Widerspruchs hat eine spezifische Tradition in Ostmitteleuropa.

„It is me. The Spaceman.“ Eine Identitätssuche zwischen Altstädter Ring und Venus

Tschechische Autoren geraten eher selten in den Radius der Wahrnehmung internationaler Literaturkritiker. In diesem Jahr aber ist es wieder einmal soweit: Jaroslav Kalfařs Roman Spaceman of Bohemia wird in den US-amerikanischen Feuilletons als literarische Sensation gefeiert; die Übersetzung ins Deutsche soll in den nächsten Wochen erscheinen (ebenso die französische Version, in spanischer und tschechischer Übersetzung ist das Buch bereits auf dem Markt).

Politisches Bewusstsein und politische Gemeinschaft in Polen

Ein Interview mit dem polnischen Philosophen Andrzej Leder * Von Magdalena Saryusz-Wolska, Katrin Stoll und Andrzej Leder * August 2016 Der polnische Philosoph Andrzej Leder im Gespräch mit Magdalena Saryusz-Wolska und Katrin Stoll über Identität, gesellschaftliche Verantwortung und die Folgen einer Hegemonie des Populismus .

Süße Erinnerungen

Eisverpackungen als Träger populärer russischer Geschichtserzählungen zwischen Stalin und Pin-up * Von Monica Rüthers * September 2016 Werbekampagnen funktionieren umso besser, je geschickter sie sich an populärkulturelle Vorstellungen und das Selbstverständnis ihrer jeweiligen Zielgruppe anpassen. Daher kann man davon ausgehen, dass regelmäßig auftauchende Motive und Klischees die Kunden ansprechen. Glaubt man der russischen Werbung für den heimischen Markt, vermögen Russen große Kälte und außerordentliche Hitze zu ertragen. Beweise dafür sind Polarexpeditionen, das winterliche Baden in Eislöchern und die Banja.

Patriotische Geschichtsschreibung im Staatsauftrag

Polens neue Rechtsregierung bricht mit der historischen Legitimation des Neuanfangs von 1989 * Von Florian Peters * Mai 2016 Nachdem die nationalkonservative polnische Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit bereits das Verfassungsgericht lahmgelegt und den öffentlichen Rundfunk nach parteipolitischen Kriterien gesäubert hat, nimmt sie nun die Geschichtspolitik ins Visier: Ende April verabschiedete der Sejm mit den Stimmen der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) und der rechtspopulistischen Kukiz-Bewegung eine Gesetzesnovelle zum „Institut des Nationalen Gedächtnisses“ (Instytut Pamięci Narodowej, IPN), mit der das polnische Äquivalent zur ostdeutschen Gauck-Behörde zum zentralen Instrument einer „patriotischen“ Geschichtspolitik umgebaut werden soll. Das kurz vor der Eröffnung stehende, multiperspektivisch angelegte Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig würde der Kulturminister hingegen am liebsten zu einem regionalgeschichtlichen Zentrum für Militaria-Enthusiasten degradieren. Während die regierungsnahen Medien neu aufgetauchte Stasi-Unterlagen zur öffentlichen Demontage des Solidarność-Führers und Freiheitssymbols Lech Wałęsa nutzen, fördert die PiS-Regierung den Kult der antikommunistischen Widerstandskämpfer der späten 1940er Jahre nach Kräften. Anstelle der kompromissbereiten Solidarität der friedlichen Revolutionäre von 1989 soll offenbar der rücksichtslose „Patriotismus“ dieser sogenannten „verfemten Soldaten“ (żołnierze wyklęci) zur neuen Leitlinie staatlicher Geschichtspolitik in Polen werden. Damit stellt die Partei Jarosław Kaczyńskis die historische Legitimation des demokratischen Neuanfangs seit 1989 grundsätzlich infrage.

Die „Flüchtlingsfrage“ in Deutschland nach 1945 und heute

Ein Vergleich * Von Matthias Beer * April 2016 Eindeutiger kann das Ergebnis eines Vergleichs der gegenwärtigen und der Flüchtlingsfrage nach 1945 nicht ausfallen. Die strukturellen Voraussetzungen sind, welche Parameter man auch betrachtet, grundverschieden. Für die beliebte Gleichsetzung der Flüchtlingsfrage nach 1945 und der gegenwärtigen, für eine Analogie oder auch nur eine Anspielung liefern die empirischen Befunde keine Grundlage. Der in der Öffentlichkeit, in der politischen Auseinandersetzung, in den Medien und auch in der Wissenschaft bemühte Vergleich führt daher nicht nur in die Irre, er ist auch falsch. Die gedeuteten, vermuteten oder angenommenen Gemeinsamkeiten der beiden Flüchtlingsfragen liegen nicht vor. Auch deshalb sollte der Griff in die Kiste der Geschichte Urteilen und Unterscheiden nicht ersetzen, auch nicht bei der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage. Daraus aber im Umkehrschluss den Schluss zu ziehen, der Blick in die Vergangenheit sei zu vermeiden, wäre sicher voreilig. Denn gerade die Analyse einer Zwangsmigration von rund 12,5 Millionen Menschen mit den ihr eigenen Charakteristika und deren weitgehend erfolgreiche Integration und Assimilation in der Bundesrepublik erlaubt es, zumindest Schlüsse aus einem mittlerweile historisch gewordenen Prozess zu ziehen: Die Aufnahme von Millionen von Migranten in kurzer Zeit kann gelingen, ihre Integration kann erfolgreich verlaufen und die Flüchtlinge und die aufnehmende Gesellschaft können daraus Vorteile ziehen. All das kann, muss aber nicht eintreten und tritt schon gar nicht zwangsläufig ein.

Späte Entschädigung für die Opfer einer kalkulierten Vernichtungsstrategie

Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen in den besetzten Gebieten * Von Tanja Penter * November 2015 Siebzig Jahre nach Kriegsende beschloss der Deutsche Bundestag im Mai 2015 eine zumindest symbolische Entschädigung für das unvorstellbare Leid, das sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Gefangenschaft erlitten hatten. Eine Geste, die in den Augen vieler Betroffener längst überfällig war. Das Beispiel der Debatten um die Entschädigung für die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen macht deutlich, wie lange es dauern kann, bis die Forschungen der Historiker/innen eine breitere Öffentlichkeit und schließlich auch die politischen Eliten erreichen...

Europa an der Grenze

Zeithistorische Anmerkungen zur „Flüchtlingskrise“ * Von Annette Schuhmann, Christoph Plath * Dezember 2016 Zu den Zielen des Fachportals Zeitgeschichte-online gehört nicht zuletzt die Beobachtung der Gegenwart. Allerdings, und das unterscheidet das Portal vom Auftrag der sogenannten Leitmedien, beobachten wir aktuelle Ereignisse, Konflikte und Debatten aus der Perspektive der zeithistorischen Forschung. Das Thema, das derzeit alle europäischen Gesellschaften am heftigsten umtreibt, sind die Migrationsbewegungen aus den Krisenländern der Welt. [...] Zwar verspricht eine Erweiterung der aktuellen Diskurse um die Perspektiven der zeithistorischen Forschung keine Lösung des Problems. Eine sachlichere und ehrlichere Analyse der Krisenhintergründe, der Verzicht auf Ost-/West- Stereotype und eine Debatte, die den historischen Verlauf nicht mehr unterschlägt, sollte jedoch möglich sein. Um den Rahmen der Diskussionen zu erweitern, haben wir einen Themenschwerpunkt initiiert, der mit Beiträgen von Historiker/innen beginnt, die sich mit dem Phänomen der Fremdenfeindlichkeit und ihrer Geschichte in Osteuropa, in der ehemaligen DDR und dem heutigen Tschechien auseinandersetzen. Der Themenschwerpunkt wird sukzessive erweitert, denn die Krise hat gerade erst begonnen…

Die Angst vor dem Schornsteinfeger

Wieder einmal: Osten gegen Westen?

Die aktuellen Diskussionen über das europäische Bemühen und Versagen im Umgang mit der großen Zahl von Flüchtlingen sind sehr stark bestimmt von einem Dualismus zwischen Ost und West. So banal diese Feststellung jedem auch nur oberflächlichen Zeitungsleser erscheinen muss, so viele Fragen und Probleme eröffnet sie doch.