8. Mai

Young Boy Walks Past Corpses

Das Bild zeigt den siebenjährigen Simon Maandag aus Amsterdam in Bergen-Belsen. Sein „Tag der Befreiung“ war der 15. April 1945, als britische Truppen das Lager erreichten. Das Foto wurde zwei Tage (nach anderen Angaben fünf Tage) später aufgenommen. Der Junge ist bereits neu eingekleidet. Er schaut den Fotografen skeptisch an – oder blendet ihn nur die Sonne? Sein Schatten spricht für Letzteres. Würde man nur die Bäume und den Waldweg sehen, wäre es eine Spaziergangsidylle aus den 1940ern Jahren.

Fotos für die Freiheit

Ein Mensch ohne eigene Erfahrung in Diktaturen, Kriegen und Krisen denkt bei "Befreiung" zuerst in fremden Bildern, in Medienbildern und Momenten, die er oder sie nicht selbst erlebt hat. Es ist mehr als eine individuelle Erfahrungslücke. Der Soziologe Niklas Luhmann schreibt: ,,Alles, was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien."[1]

#75liberation

Dieses Jahr läuft vieles ganz anders als geplant: Wegen der Corona-Pandemie dürfen bis mindestens zum Ende des Sommers keine Großveranstaltungen stattfinden. Diese Einschränkung traf auch viele Gedenkfeierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung nationalsozialistischer Konzentrationslager durch die Alliierten. Innerhalb von wenigen Wochen musste ein Alternativprogramm geschaffen werden. Es erfolgte eine digitale Übersetzung der Gedenkfeiern in den virtuellen Raum, um trotzdem ein würdiges Gedenken an Opfer und Befreier möglich zu machen.

 

Der Eigensinn der Überlebenden

Im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald findet sich ein Bild von vier jungen Männern, die den Fotografen und damit uns direkt anschauen. Die Oberkörper, auch die Beine sind bei zwei Männern unbedeckt und lassen einen Zustand der starken Abmagerung erkennen. Zwei der Männer stehen, einer sitzt aufrecht auf einem Stuhl oder einer Kiste, wobei ihm ein gestreiftes Kleidungsstück als Unterlage dient. Der vierte sitzt vor einem der stehenden Männer auf dem Boden.

„I had survived“

Diese Zeichnung des 15-jährigen Thomas Geve zeigt amerikanische Medienmenschen: einen Fotografen, einen Kameramann und einen Kameraassistenten mit Klappe. Sie fotografieren und filmen die Stirnwand von Block 3 im Hauptlager mit der Aufschrift: The german political prisoners welcome their american friends, während ein englischsprachiger Häftling mit Armbinde eine Gruppe bewaffneter, rauchender amerikanische Soldaten durch das Lager Buchenwald führt.

Bilder der Befreiung

Am 7. Mai 1945 unterzeichneten Vertreter des Führungstabs der Wehrmacht im amerikanischen Hauptquartier in Reims die bedingungslose Kapitulation, die einen Tag später, am 8. Mai, in Kraft trat. Damit endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Im Jahr 2020 erinnern Generationen an einen Krieg, den sie nie erlebt haben; in einer globalisierten und digitalisierten Welt und in einem Deutschland, das fünfundsiebzig Jahre lang – mal mehr und mal weniger – über den Umgang mit dem 8. Mai, dem „Tag der Befreiung“, diskutiert hat.

„Auftauchen“ im befreiten Berlin

Vor 75 Jahren, am 27. April 1945, rückten sowjetische Truppen ins Herz von Berlin-Kreuzberg vor. In einem Bunker in der Nähe des U-Bahnhofs Kottbusser Tor entdeckte ein Soldat der Roten Armee eine junge Familie, die dort seit fünf Tagen fast völlig ohne Essen und Wasser ausharrte. Ihre beiden Kinder Peter-Uri (2 Jahre) und Michael (6 Monate) hatte Leonie Frankenstein (23 Jahre) auf das obere Hochbett in dem engen Raum gelegt, sie selbst saß unten und achtete auf sie.