Von Mythen und Metadaten

Ein markantes Kennzeichen jener Autobiografien, die entlang der politischen Epochenzäsuren der Zeitgeschichte erzählt wurden, ist das Streben ihrer Autor*innen, eine innere „Ich-Kontinuität“ jenseits der erlebten Systembrüche zu wahren. Eine besondere Herausforderung stellt dies für Personen dar, deren Vita unmittelbar mit der Stabilität, dem Aufstieg oder dem Niedergang politischer Systeme oder militärischen Konflikten verknüpft ist. Funktionärs- und Generalsmemoiren neigen deshalb dazu, in zwei gegenläufige Kategorien zu zerfallen: die Konversionsbiografie, die den Prozess einer politisch-ethischen Umkehr beschreibt; sowie die Kontinuitätsbiografie, die das Festhalten an einem inneren konstanten Wertehimmel trotz aller äußerer politischer Verstrickungen behauptet.[1]

In gewisser Hinsicht steht Edward Snowden vor einem ähnlichen Problem: Denn der weltpolitische Sturm, in den er geriet, wurde von ihm selbst – und nur von ihm – entfacht. Der Aha-Moment, den er der Welt-Informationsgesellschaft im Sommer 2013 bescherte, und der tiefgreifende Außenwirkungen auf die Innen- und Außenpolitik zahlreicher Staaten hatte, ging auf seine einsame, wohl eine der einsamsten Entscheidungen der Geschichte zurück, als er sich entschloss, die Methoden der amerikanischen Internet-Überwachung öffentlich zu machen.

Dementsprechend umfassend ist auch sein biografischer Ansatz, der nichts weniger versucht, als eine veritable Mischung aus Läuterungs- und Kontinuitätsbiografie hinzulegen. Denn einerseits gehört er zu den wohl prominentesten Renegaten der Geschichte: So betont Edward Snowden gleich am Anfang seines Rückblicks, dass er mittlerweile seine Zeit damit verbringe, „die Öffentlichkeit möglichst vor der Person zu schützen, die [er] einmal war: ein Spion der CIA“ (S. 9). Der breite Strom jedoch, in dem er sich zugleich immer wieder verortet, ist die Tradition der amerikanischen Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen.

Edward Snowden-Cover des Wired Magazine an einem Zeitungsstand, August 2014, von Mike Mozart/TheToyChannel und JeepersMedia/YouTube. Quelle: flickr, Lizenz: CC BY 2.0.

 

Dementsprechend folgt „Permanent Record“ zwei Narrativen: dem persönlichen Werdegang vom kleinen Computer-Nerd und blutjungen NSA-Spezialisten hin zum biografischen Bruch als international gesuchter Paria. Eingebettet wird dieses „Coming of Age“ gleichzeitig in die familiären Wurzeln Snowdens, die gemäß seiner Schilderung bis zur Pilgerväter-Besatzung der Mayflower reichen und ihn gleichsam als legitimen Wahrer der Flamme der Freiheit ausweisen (S. 31). Bis in die unmittelbare Gegenwart, so erfahren wir, reichte die stabile Regierungstreue der Snowdens: so besaßen seine Eltern beide die Top-Secret-Freigabe, die Familie wohnte im sogenannten „Beltway“, einem Ring aus Schlafstädten um Washington, deren Bewohner „fast ausschließlich entweder bei der US-Regierung oder bei einem der Unternehmen, die mit der US-Regierung Geschäfte machen“ beschäftigt waren. „Es gibt schlechthin keinen anderen Grund dort zu wohnen“ (S. 51.) Auch der Standort von Crypto City, der Zentrale der NSA in Fort Meade, wurde „auf Land erbaut, das einst meinen Snowden-Verwandten gehörte und ihnen von der US-Regierung (nach einem Bericht) abgekauft oder (nach einem anderen) einfach weggenommen wurde.“ (S. 49)

Bei solch tonnenschwerem familiären Stars-and Stripes-Ballast, war eine regierungsnahe Beschäftigung dem kleinen Edward vielleicht in die Wiege gelegt. Im Fall Snowdens kam jedoch noch etwas anderes hinzu, das seinen Weg bestimmte: Geboren im Jahr 1983 gehörte er der ersten Generation von Jugendlichen an, die – wie er es so treffend formuliert – vom Internet regelrecht erzogen wurden. Der besondere Reiz der vorliegenden Autobiografie liegt deshalb weniger in der Verratsgeschichte, die man in ihren Grundzügen bereits kennt, sondern vielmehr der Reflexion, weshalb überall auf der Welt kleine Jungs (und zunehmend auch Mädchen) der Faszination des Internets erliegen. Snowden betrachtet die „Ausbildung“, die er durch das Internet erhielt, als wichtiger, jedenfalls entscheidender, als seine Schulbildung. Zwar hatte der digitale Zugriff damals noch nicht den Alltag des gesamten Familienlebens erreicht: „Meine Generation ist in Amerika und vielleicht auch in der Weltgeschichte die letzte, für die das gilt: die letzte nicht digitalisierte Generation, deren Kindheit nicht in der Cloud gespeichert ist.“ (S. 25). Doch überall erlagen die kleinen User*innen bereits um die Jahrtausendwende unaufhaltsam dem Sog, den das neue Medium ausübte. Die Faszination lag, so Snowden, vor allem in dem logischen „Zusammenhang zwischen Input und Output.“ Denn dass „eine fehlerfrei geschriebene Reihe von Kommandos fehlerfrei immer und immer wieder die gleichen Tätigkeiten auslöste, erschien mir – wie auch so vielen anderen, schlauen, technik-affinen Kindern des neuen Jahrtausends – als einzig stabile, rettende Wahrheit unserer Generation.“ (S. 47)

Seine Fertigkeiten machten Snowden dann auch an seinem Arbeitsplatz, der NSA, schnell zu einem der Pioniere der neuen Technik: Dass ein einzelner Mensch – noch dazu ein so junger „Hacker“ (Barack Obama) – in eine Schlüsselposition geraten konnte, die einen „Verrat“ solchen Ausmaßes überhaupt möglich machte, scheint Snowden mitunter selbst unheimlich zu sein: „Ich besetzte in der Intelligence Community eine Position, die mit höchst unerwarteter Allwissenheit verbunden war. Auf der Hierarchieleiter stand ich nahezu auf der untersten Stufe, aber was den Zugang anging, war ich ganz oben im Himmel.“ (S. 347)

Seine unverhoffte Machtposition war vor allem das Resultat einer sich radikal ändernden Arbeitsweise und damit auch Kultur der Geheimdienste: Snowden beschreibt die Ungleichzeitigkeit der überkommenen „Case Officers“ und der jungen, T-Shirt tragenden und Kaugummi kauenden Exekutoren der Online-Überwachung im Geheimdienst: Die „Case Officers (COs) waren mit einem Bein schon im Grabe stehende Zyniker, charmante Lügner, die rauchten, tranken und eine tiefe Abneigung gegen das Aufkommen von SIGINT (Signals Intelligence) hegten, das heißt gegen verdeckte Erkenntnisgewinnung durch abgefangene Kommunikation.“ (S. 194) Während die Whiskey-Glas schwenkenden COs in old-school Manier noch Menschen mit persönlichen Intrigen auszuhorchen trachteten (und mitunter ins Verderben stürzten, Snowden schildert dies an einem fast herzergreifenden Fall in Genf), hatten es die jungen Nerds mit ihren Blitzkarrieren im System längst übernommen, das zu erledigen, was die Zukunft der klandestinen Wissensabschöpfung darstellte: Nicht die einzelne Information, sondern die Metadaten galt es zu gewinnen. Und auch nicht die Metadaten weniger, sondern aller, der gesamten Bevölkerung. Denn die CIA bemühte „sich im Grundsatz darum, alles zu sammeln und es für immer festzuhalten.“ Die Mitarbeiter*innen wähnten sich in „Reichweite, alle von Menschen erzeugten Informationen zu erfassen“. (S. 315)

Die Speicherung aller von Menschen erzeugten Informationen mag ein Traum der Geheimdienstler sein – für Historiker*innen erscheint es eher als Alptraum. Und während in Deutschland gerade erst mit viel Mühe begonnen wurde, das Treiben der Geheimdienste im 20. Jahrhundert zu rekonstruieren, erscheint schwer vorstellbar, wie diese historische Einordnung für das Handeln der gegenwärtigen Dienste jemals erfolgen kann – ohne selbst auf das Wissen und die Einsicht von Computerexperten zurückgreifen zu müssen. [2]

Snowden kritisiert nicht nur den hybriden Anspruch der CIA und die sprachliche Camouflage der Massenüberwachung durch den von der Regierung benutzten Begriff der „Sammelerhebung“, der „eher nach wohltätiger Einrichtung klingt“. (S. 229) Er liefert zudem eine interessante Erklärung dafür, weshalb gerade die Vereinigten Staaten der Versuchung der Massenüberwachung anheimfielen: So charakterisiert Snowden „nicht nur die Infrastruktur des Internets als im Wesentlichen amerikanisch, sondern auch die Software (Microsoft, Google, Oracle) und Hardware (HP, Apple, Dell).“ Gleiches gelte „für alles andere, von den Chips (Intel, Qualcomm) über die Router und Modems (Cisco, Junipert) bis zu den Webservices und -plattformen, die den Mailverkehr, soziale Netzwerke und Cloudspeicher ermöglichen (Google, Facebook und – strukturell höchst bedeutsam, wenn auch unsichtbar – Amazon, das der US-Regierung Cloud-Dienste und das halbe Internet bereitstellt).“ (S. 209-2010). Angesichts der „von den USA geprägten weltweiten Kommunikationsstrukturen lag es eigentlich auf der Hand, dass die US-Regierung diese Art von Massenüberwachung anstreben würde.“ (S. 210.)

Stilistisch wird die Erzählung immer wieder mit – leider wenig subtilen – Anspielungen auf Märchen, Mythen, den Inhalt von Computerspielen und Werken der Weltliteratur garniert, die sämtlich nur einen einzigen Fluchtpunkt zu haben scheinen: das Schicksal des Helden und seines einsamen Kampfes gegen den Überwachungsdrachen vorzuzeichnen. So etwa, wenn die PC-Firma Nintendo Snowden die „eigentliche Bildung“ in Form des legendären Super-Mario-Spiels vermittelt: Mario bewegt sich hier vor einer unsichtbaren Wand, die ihm den Weg zurück versperrt und ihn immer weiter voran ins Unbekannte treibt. (S. 39) Allzu deutlich fällt auch die penetrante biografische Anspielung im ausführlich beschriebenen „Loom“ aus, auch dies ein PC-Game seiner Kindheit: Hier geht es um „eine Webergilde, deren älteste Weberinnen, benannt nach den griechischen Schicksalsgöttinnen, einen geheimen Webstuhl bauen, der die Welt regiert oder, so das Drehbuch des Spiels, ‚subtile Muster der Einflussnahme ins Gewebe der Realität einflicht‘. Als ein Junge die Macht des Webstuhls entdeckt, wird er verbannt, und alles stürzt ins Chaos, bis die Welt zu der Erkenntnis gelangt, dass eine geheime Schicksalsmaschine vielleicht doch keine sonderlich gute Einrichtung ist.“ (S. 57) Und als Edward Snowden beim Standort der NSA in Genf anheuert, liest er zur kulturellen Akklimatisierung den dort entworfenen Roman „Frankenstein“ von Mary Shelley – auch das natürlich ein untrüglicher Vorbote: „In Genf, in derselben Stadt, in der Mary Shelleys Kreatur Amok lief, war Amerika eifrig mit der Errichtung eines Netzwerks beschäftigt, das sich schließlich verselbständigen und eine eigene Mission verfolgen sollte, um das Leben seines Schöpfers ins Chaos zu stürzen – und ich war einer von ihnen.“ (S. 193)

Diese stilistischen Montagen beruhen sicherlich auf authentischen Erfahrungen, fungieren jedoch etwas zu ergebnisorientiert als unübersehbare Zeichen an der Wand, oder, um in der Terminologie des Autors zu bleiben: Sie sind erkennbar ausgewählter „Input“, der auf einen bestimmten „Output“ hinausläuft. Aber vielleicht ist das ein Kennzeichen der erzählerischen Konstruktion jeder Autobiografie, wenn sie auch hier auf eine allzu schematische Spitze getrieben wird. 

Interessanter sind die Momente, in denen Snowden eigenwillige Entscheidungen trifft, die sich nicht auf die Logik eines Computerspiels herunterbrechen lassen: Etwa, wenn er nach dem 11. September 2001 freiwillig als Soldat in den Krieg ziehen will. Oder wenn er als einziger in seiner Klasse aus Geheimdienst-Eleven, die in einem schäbigen Motel ihre Elite-Ausbildung durchlaufen müssen, gegen die erbärmlichen Ausbildungsbedingungen rebelliert. Diese Episode liefert auch einen der witzigsten Momente des Buchs: Nachdem der eigens angereiste zuständige Vorgesetzte entnervt auf Snowdens Forderungen einging, verabschiedete er sich mit den hoffnungsvollen Worten: „Bevor ich fahre, möchte ich nur sicher sein, dass wir hier Klartext reden: Ich werde doch keinen weiteren Ed-Snowden-Moment erleben, oder?“ (S. 191) Auch dies natürlich ein schicksalhafter Wink mit dem Zaunpfahl – aber doch ein amüsanter.

Die Autobiografie von Snowden ist ein Einblick in das Innenleben der Geheimdienste – viel mehr jedoch eine lebensnahe Schilderung und Analyse, wie und warum seine Generation und die nachfolgenden dem „Blick durch das Fenster“, das der PC-Bildschirm offerierte, nicht widerstehen konnten: Bot er doch mit dem Internet zugleich das Versprechen, die Welt nicht nur zu sehen, sondern per Mausklick zu beeinflussen. „Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“[3]: Snowden hat rückblickend seinen Weg hin zur lebensverändernden Entscheidung als ein weitgehend logisch ablaufendes Programm beschrieben, mit dem von ihm so wertgeschätzten klaren Zusammenhang zwischen Input und Output und einer immer nur in eine Richtung möglichen Handlungsrichtung, die unaufhaltsam vorantreibt – und diese innere Überzeugung von der schlüssigen Kausalität der Ereignisse mag die moralische Standfestigkeit erklären, mit der Snowden bis heute trotz aller persönlicher Widrigkeiten an der Richtigkeit seiner Entscheidung festhält.

Englisches Buchcover von Edward Snowden: Permanent Record (2019).

Deutsche Version: Edward Snowden: Permanent Record. Meine Geschichte. Frankfurt am Main 2019.

 


[1] Martin Sabrow: Autobiographie und Systembruch im 20. Jahrhundert, in: Martin Sabrow (Hg): Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2012, S. 9-24.
[2] Für die Organisation Gehlen übernahm das die Unabhängige Kommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, für die auch die Autorin einen Beitrag verfasste. Dazu eine Sendung unter dem Titel "Geheime Dienste. Die dunkle Seite des Bundesnachrichtendienstes" auf DLF vom 11.10.2018 und eine Rezension der aus dem Projekt hervorgegangenen Veröffentlichung von Christopher Nehring auf in der Ausgabe 19/2019 der Sehepunkte“, [zuletzt abgerufen am 24. Juni 2020].
[3] Populäre Abwandlung eines Tagebucheintrags von Sören Kierkegaad.

 

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Von Mythen und Metadaten

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In „Permanent Record“ erzählt Edward Snowden sein Leben als Computerspiel

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