Veröffentlicht am 19. April 2018
Der hier publizierte Festvortrag über die gegenwärtige Relevanz und Zukunft der Zeitgeschichte wurde im Rahmen der Festveranstaltung anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) am Donnerstag 12. Oktober 2017 von Andreas Wirsching gehalten. Das ZZF Potsdam nahm das Jubiläum zum Anlass, um den geschichtswissenschaftlichen Umbruch der 1990er Jahre genauer zu beleuchten. In einem öffentlichen Kolloquium wurden die turbulenten Anfangsjahre des ZZF und die damaligen Transformationen in der Geschichtswissenschaft diskutiert. In der Abendveranstaltung standen schließlich die gegenwärtigen Herausforderungen der Zeitgeschichtsforschung und ihre Zukunft im Mittelpunkt.
I.
Ich beginne mit zwei Szenen aus meinem Leben als Historiker, Szenen, die Sie sicher in der einen oder anderen Form selbst schon einmal erlebt haben.
Erstens, im Jahr 2013: eine private Einladung der gehobenen Kategorie zum Abendessen. Gastgeber ein pensionierter Bankvorstand. Anwesend in erster Linie andere Bankvorstände, durchaus prominenten Namens. Neben mir als zweite Geisteswissenschaftlerin eine Kunsthistorikerin ebenfalls unter den geladenen Gästen.
Thema der Konversation ist die Euro-Krise und damit verbunden die Lage Europas insgesamt. Starke Worte werden gesprochen. Weg in die Haftungsunion, Target2-Salden – nein, unser Leibniz-Kollege Hans-Werner Sinn war nicht unter den Gästen – zwangsläufiger Zusammenbruch der Euro-Zone binnen zweier Jahre, Katastrophe für Deutschland, Untergang des Abendlandes. Der Zeithistoriker kennt zwar nicht alle Geheimnisse der Target-Technik und ihrer Prognose; aber er hat eine durchaus fundierte Meinung zum Zustand Europas, tut sich indes schwer, seiner Stimme irgendein Gehör zu verschaffen angesichts des selbstgewissen Sachverstandes, der die Gegenwart in Grund und Boden ökonomisiert.
Irgendwann kommt das Gespräch auf andere Themen; und als dann die Frage auftaucht, wann genau Lieselotte von der Pfalz gestorben sei, drehen sich wie auf Befehl alle Köpfe herum zum Historiker: „Das ist eine Frage für Sie“ – Pech nur, dass ich sie nicht beantworten kann; ja, ja, irgendwann Anfang des 18. Jahrhunderts – inzwischen habe ich nachgeschlagen, es war 1722; aber aus dem Kopf…
Zweite Szene 2011: einen Zeitungsartikel geschrieben über den Islam und Europa, bemüht um historische Argumentation, vorsichtige Stellungnahme zu den gegenwärtigen Problemlagen…; daraufhin Dutzende von Hass-E-Mails, die mich der bewussten Falschaussage bezichtigen. Dabei garniert sich der Vorwurf der Lügenwissenschaft mit Drohungen. So sagt mir eine E-Mail: Auch Du – dann einer jener Schimpfausdrücke der deutschen Sprache, die hier definitiv nicht zitierfähig sind –, also, „auch Du … wirst eines Tages am Galgen der Scharia baumeln.“
Das sind zwei Szenen, die die zugeschriebenen gesellschaftlichen Rollen des Historikers und Zeithistorikers ganz gut abbilden: Einerseits der Spezialist für das Antiquarische, das wandelnde Lexikon für Jahreszahlen, vielleicht gern gesehenes schmückendes Beiwerk, aber ohne wirkliche Relevanz für die eigentlich wichtigen Dinge der Gegenwart.
Andererseits der Vertreter einer antinationalen Lügenwissenschaft, die dem eigenen Volk das Böse unterschieben will und den es mundtot zu machen gilt…
Auf beide dieser Zuschreibungen möchte ich zunächst etwas eingehen, bevor ich in einem dritten Gedankengang versuche, die Relevanz der Zeitgeschichte als Wissenschaft heute noch einmal zu reflektieren.
II.
Die erste Zuschreibung möchte die Historiker auf die – mit Nietzsche gesprochen – „antiquarische Art“ der Geschichte festnageln: bestenfalls Experten für Vergangenes, Museales, heute Irrelevantes, das heißt ohne Gegenwarts- geschweige denn Zukunftsrelevanz. Dieser Wind weht den Geschichtswissenschaften in klar erkennbaren Schüben ins Gesicht, so etwa in den 1960/70er Jahren, als Alfred Heuß und andere den „Verlust der Geschichte“ beklagten. Vor allem aber in den 1990er Jahren entstand eine eher geschichtslose, technokratische Zukunftsvision, die sich überwiegend aus ökonomischem Wettbewerbs- und Nützlichkeitsdenken speiste. Der gesellschaftliche Nutzen der Geisteswissenschaften im Allgemeinen, der Geschichte im Besonderen wurde – und wird – von hier aus grundsätzlich in Frage gestellt. Die Basis ist ein utilitaristischer Begriff des Wissens. Er erlaubt es, schnell und aggressiv zwischen nützlichem, erwünschtem Wissen und solchem Wissen zu selektieren, das als entbehrlich gilt und folglich auch keine Investitionen mehr erfordert. Die häufig gehörte, ebenso dramatische wie anfechtbare Behauptung, die „Halbwertzeit“ des Wissens verkürze sich in der „Wissensgesellschaft“ geradezu exponentiell, wendet sich in scheinobjektiver Weise gegen die Formen langfristig akkumulierten, grundlagengestützten Wissens, gegen traditionelle Kanones und last but not least gegen die zweckfreie Forschung und Bildung, die sich dem Diktat der Verwertbarkeit verweigert.
Demgegenüber gewinnt eine Zeitgeschichte Relevanz, die sich nicht um die Gegenwartsdeutung herumdrückt, sondern im Gegenteil sich offensiv in die Deutungskämpfe der Gegenwart einmischt. Das hat nicht so viel mit Ciceros inzwischen etwas totgerittener Formel Historia magistra vitae zu tun. Man kann bisweilen aus der Geschichte lernen, keine Frage. Aber kein Lernen aus der Geschichte ersetzt die Entscheidungen der Gegenwart. Keine Wissenschaft kann die Frage: „Was sollen wir tun?“ beantworten. Auch die Zeitgeschichte kann also nur im gemeinsamen Diskurs oder auch im Streit mit anderen Wissenschaften ein spezifisches historisches Wissen, historische Orientierung für die Gegenwart, zur Verfügung stellen. Das betrifft zum einen den Hinweis auf historische Erfahrungen aus anderen Epochen, die man sich vergegenwärtigen sollte. Zum anderen aber zeigt die Zeitgeschichte das historische Gewordensein der Gegenwart auf; sie warnt vor plattem Präsentismus ebenso wie vor ideologischem Voluntarismus: vor der Illusion, ganze Gesellschaften könnten aus der Geschichte gleichsam herausspringen; sich abschotten vor der historisch geformten Gegenwart und etwas gänzlich Neues tun. Gerade in ihrer zweckfreien Zuwendung zur Vergangenheit demonstriert Zeitgeschichte die Komplexität der Gegenwart und weist auf die Offenheit einer im Kern unverfügbaren Zukunft hin. Sie dekonstruiert Erfolgsgeschichten ebenso wie Niedergangsnarrative, dechiffriert Mythen und Legenden. Sie hält das Zukurzgekommene, auch das Gescheiterte, im öffentlichen Bewusstsein. Sie zeigt, wie sich das heute Unzeitgemäße morgen doch als adäquat, das gestern Moderne heute schlicht als irrig erweisen kann. Wenn sich die Zeitgeschichte in dieser Form als reflexive und pluralistisch verfasste Deutungswissenschaft der Gegenwart etabliert, dann hat sie auch ihren Platz in jeder Enquête-Kommission (wo Historiker fatalerweise so gut wie nie präsent sind). Denn sie hat aus ihrer genuinen wissenschaftlichen Perspektive heraus eine Kompetenz, die derjenigen der Ökonomie, der Sozialwissenschaften, der Philosophie und leider auch der Theologie um keinen Deut nachsteht.
III.
Aber wie verhält es sich mit denen, die überhaupt von Wissenschaft und ihrer Expertise nichts wissen wollen, sie im Gegenteil als manipuliert und unwahrhaftig attackieren? Das führt mich zur zweiten Rolle, die den Zeithistorikern heute allzu gerne zugeschrieben wird. Wir haben natürlich alle gesehen, dass sich in den Koordinaten unserer Gegenwartskultur etwas verändert hat. Tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der allzu oft die Wahrheit Lüge genannt wird und die Lüge als wahrheitsfähig gilt – die Ausrufung des postfaktischen Zeitalters lässt grüßen. Ich möchte mich jetzt nicht mit der Beobachtung aufhalten, dass dies nicht unbedingt ein neues Phänomen ist – da haben wir ja den immer wieder lästigen Hinweis der Historiker darauf, dass „alles schon mal dagewesen“ sei.
Ganz kurz darf ich trotzdem bemerken, dass zum Beispiel in der Weimarer Republik Tausende kleiner, höchst merkwürdiger Zirkel existierten. Hier tummelten sich völkisch-rassistische Gruppierungen, deren Druckerzeugnisse zahllose mediale Sumpfblüten und „Echokammern“ hervorbrachten. An kruden Mixturen aus politischen Hass- und Gewaltphantasien, Halb- und Unwahrheiten – Fake News eben – fehlte es keineswegs. Bis 1928 war im Übrigen auch die NSDAP auf diese Ebene beschränkt, ehe sie zu einem nationalen Faktor und mit ihrem Propagandaapparat zu einer gewaltigen medialen „Echokammer“ avancierte.
Echokammern, das heißt autopoietische Denksysteme oder auch geschlossene Ideologien sind immer eine radikale Form des Anti-Intellektualismus und auch des Anti-Empirismus. Sie können plurale, auf Vernunft und Erfahrung gegründete Einsichten nicht zulassen, sondern müssen sie mindestens immer dann als Lüge bezeichnen, wenn sie ihren eigenen Zwecken zuwiderlaufen. Der Vorwurf der Lügenwissenschaft – selbst eine begriffliche contradictio in adjecto – ist gleichbedeutend mit der systematischen Abkehr von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden. Klimawandel, Evolutionstheorie, Gender-Forschung und vieles andere mehr: Die Wissenschaft lügt, wenn sie die radikale Rechte stört.
Gegenwärtig lässt sich das auch bei der AfD sehr gut beobachten. Einst von Professoren gegründet, ist sie längst zur Anti-Professorenpartei mutiert. Zwar kann natürlich ein Fachhochschulprofessor aus Kehl, der zum Bundessprecher der Partei geworden ist, als schmückendes Beiwerk nicht schaden. Aber eine extreme Bewegung, die nach Macht, zumindest zunächst einmal nach Deutungsmacht strebt, muss vorhandenes wissenschaftliches Wissen durch das Sieb ihrer eigenen Bedürfnisse pressen, das heißt aggressiv selektieren zwischen dem, was für den eigenen Kampf nützlich und brauchbar ist, und dem was als Lüge gilt. Eine irgendwie geartete Infragestellung der eigenen, reduktionistischen Positionen kann dort natürlich keiner brauchen. Der Kampf gegen die Lügenwissenschaft gehört also zum politischen Programm.
Klimaforschung – unzutreffend
Genderforschung – Gelder abdrehen
Zeitgeschichte/Politikwissenschaft – Nazi-Keule
Aber diese Dichotomisierung von Wissenschaft und politischer Aktion fällt auch bei der AfD nicht vom Himmel. Man kann sich sogar fragen, ob hierfür nicht in einem längeren Prozess der Boden bereitet worden ist. Denn die Vorstellung, Macht und Geist, Politik und Wissenschaft stünden in einem dichotomischen Verhältnis zueinander, hat in Deutschland ja eine lange Tradition, die, wie wir alle wissen, weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht.
Eine spezifische Form des wissenschaftsfeindlichen Utilitarismus haben wir auch im ökonomistischen Technokratismus der 1990er und frühen 2000er Jahre kennengelernt. Rechnungshöfe und Strukturkommissionen empfahlen damals an bestimmten, als unproduktiv definierten Standorten bestimmte Fächer zu streichen oder sogar ganze Fakultäten zu schließen. Aus solchem Zeitgeist speisten sich auch Bemerkungen wie Gerhard Schröders süffisant-verächtliche Sottise über „diesen Professor aus Heidelberg“. Oder Angela Merkels Satz, sie habe den Plagiator Karl Theodor zu Guttenberg „nicht als wissenschaftlichen Mitarbeiter“ eingestellt.
Technokratie und Populismus, die beide den offenen Diskurs nicht schätzen bzw. nicht ertragen können, sind entfernte Geschwister, ja manchmal zwei Seiten derselben Medaille. Wenn sie den Diskurs beherrschen, dann gerät auch die Zeitgeschichte in die Defensive. Je nachdem, auf welcher Seite der Medaille man sich befindet, wird die Zeitgeschichte auf ihre vermeintlichen Rollen festgelegt: auf die der antiquarischen oder die der Lügenwissenschaft. Im schlimmsten Fall wird ihr entweder einfach die Stimme genommen im Getöse des technokratisch-utilitaristischen Präsentismus; oder aber ihr Anspruch auf Deutung der Gegenwart weckt Aggressionen, zumal wenn diese Deutung nicht in die wohlfeilen geschichtspolitischen Narrative der Reduktionisten passt.
Zeitgeschichte als kritische Wissenschaft muss also stets mit Gegenwind rechnen. Alle autoritären oder diktatorischen Regime müssen sie sehr schnell zum Schweigen bringen, ihre Vertreter entlassen oder zumindest soweit einschüchtern, dass sie sich anderen, unschädlichen, eben vielleicht antiquarischen Gegenständen zuwenden. Wir erleben das gegenwärtig in Polen und Ungarn, von der Türkei ganz zu schweigen.
Soweit sind wir in Deutschland natürlich nicht. Aber trotzdem ein Beispiel aus der jüngsten Debatte: Stefan Scheil, vielen bekannt als Vertreter der Präventivkriegsthese und anderen nationalapologetisch zugespitzten Auffassungen, und seit neuestem wohl so etwas wie der Vorzeigehistoriker der AfD, nimmt in einem Interview die „Verantwortung des Wissenschaftlers, wie ich sie sehe“ für sich in Anspruch: „nämlich objektiv zu arbeiten und dabei auch unbequeme und vielleicht sogar unerwünschte historische Tatsachen zu ergründen.“[1] Derselbe Stefan Scheil schreibt in einer kürzlich erschienenen Buchrezension: „Es wird die Zeit kommen, in der das Institut für Zeitgeschichte die offenkundigen Halbwahrheiten, Unwahrheiten und Legenden wird aufarbeiten müssen, die seine Publikationen und die seiner Mitarbeiter regelmäßig umrahmen. Ob das als Teil eines wissenschaftlichen Forschungsdiskurses möglich sein wird, scheint mit jedem Jahr fraglicher.“[2]
Ich zitiere das nicht, weil ich selbst als Vertreter des Instituts für Zeitgeschichte betroffen bin, und Scheil hier das IfZ als Hort der Lügenwissenschaft attackiert, der gegenüber er sich selbst als „objektiv“ arbeitend stilisiert. Nein, ich glaube vielmehr, daß diese Sätze paradigmatisch sind nicht nur für eine geschichtsrevisionistische, sondern für eine geschichtsrevanchistische Haltung, ja im Grunde Drohung, die nur darauf wartet, selbst Hegemonie zu gewinnen und zum geschichtskulturellen Roll back anzusetzen. Sollte es jemals einen Kultusminister der AfD geben, werden wir das erleben.
Meines Erachtens sollte sich die historische und zeithistorische „Zunft“ stärker als bisher wappnen, um in solchem Gegenwind zu bestehen. Nur dann hat sie eine Chance, beide ihr zugeschriebenen Rollen zurückzuweisen: die des gegenwartslosen Antiquarismus und die der gegenwartsverfälschenden Lügenwissenschaft. Dafür sollte sie allerdings die Prämissen der eigenen Methode und der eigenen Wissenschaftlichkeit prüfen, eine Übung, die ohnehin von Zeit zu Zeit guttut. Und damit komme ich zu meinem dritten und abschließenden Gedankengang und diskutiere einige Probleme, die sich mit der Frage nach der Relevanz der Zeitgeschichte heute verbinden.
IV.
Die Einmischung in die Gegenwart, deren Ende wir nicht kennen, ist für die Zeitgeschichte ja nichts Neues, und in der Vergangenheit war sie keineswegs immer ein Ruhmesblatt. Im Gegenteil hier liegen etliche Fußangeln oder geradezu Fallen, von denen ich zumindest zwei ansprechen möchte. Auf die erste Falle deutet schon das bekannte Wort von den Historikern als „rückwärtsgewandte Propheten“ hin: Allzu oft werden die eigene Position und die eigene Zeit eben doch zur Norm erhoben. Geschichte wird zur historischen Begründung eines normativ überhöhten Standorts. Sie wird dann – auch wenn ihr Ende nicht bekannt ist – in dem Maße teleologisch, in dem sie auf den Standort des Historikers zuläuft. Damit verliert Geschichte ihr gleichsam historisches Eigenrecht; offene Situationen in der Geschichte werden ausgeblendet und einem linearen Geschichtsbild untergepflügt.
Das war die Illusion der Zeithistoriker des 19. Jahrhunderts wie zum Beispiel die des Georg Gottfried Gervinus oder auch seines Antipoden und Schülers Heinrich von Treitschke. Beide stellen auf ihre Art ein reiches Anschauungsmaterial zur Verfügung, welche Irrwege und Fallstricke eine Zeitgeschichte bereithält, die sich als normativ grundierte Vorgeschichte der Gegenwart versteht. So begriff Gervinus als ein später Vertreter der liberalen Aufklärungshistoriographie die Geschichte stets gegenwarts- und zukunftsbezogen. Entsprechend definierte er „das handelnde Leben“ als den „Mittelpunkt aller Geschichte“. In Abgrenzung zu Rankes historischer Schule hatte der Historiker denn auch Partei zu ergreifen, hatte „Parteimann des Schicksals“ zu sein als ein „natürlicher Vorfechter des Fortschritts und der Freiheit“.[3] Befand er sich mit dem Hauptstrom der Geschichte im Einklang, konnte es ihm auch gelingen, in der Gegenwart zu wirken und „im wirren Chaos der Dinge die lenkende Hand der Gottheit zu errathen“, d.h. die Zukunft zu enträtseln.
Diese Form der Geschichtsbetrachtung verstand sich als aufklärerisch, aber sie neigte zum ahistorischen Doktrinarismus und verfehlte letztendlich die Gegenwart. Wenn Zeitgeschichte heute als Vorgeschichte der Gegenwart politisch-aufklärerisch wirken möchte, dann muss sie dies subtiler, offener und im Bewusstsein der eigenen Grenzen tun.
Zu diesen Grenzen gehört, wie wir längst genau wissen, die Zeit- und Standortgebundenheit des Historikers. Und hier liegt die zweite Falle, von der ich sprechen möchte. Die Zeitgeschichte hat zwar richtig erkannt, dass die Standortgebundenheit ein erkenntnistheoretisches Grundproblem ist. Aber hat sie den Bogen in dieser Hinsicht nicht längst überspannt, das Kind mit dem Bade ausgegossen? Jedenfalls gibt es eine inzwischen lang etablierte Tendenz, die Standortgebundenheit so zu interpretieren, als ob sie epistemologisch unüberwindbar wäre. Besonders klar wird das am Beispiel des Begriffs der Identität – zweifellos eines Schlüsselbegriffs unserer Zeit. Zu jeder Formung von Identität gehört bekanntlich die jeweilige Geschichte als Erinnerung, sei sie individuell oder kollektiv. Das ist, wie wir alle wissen, ein großes Thema der heutigen Zeitgeschichte. Wenn aber die Grenzen zwischen Historia und Memoria, zwischen Geschichte als Wissenschaft und Geschichte als Erinnerung zu verwischen beginnen, droht die Zeitgeschichte an öffentlicher Relevanz einzubüßen. Im Extremfall wäre das geschehen, wenn jeder nur noch über sich selbst schriebe: Zum Beispiel Deutsche nur über deutsche Geschichte, Katholiken über die Geschichte des Katholizismus, Sozialdemokraten über die Geschichte der Sozialdemokratie, Migranten über die Geschichte der Migration.
Wenn sich aber die Zeitgeschichte nur noch in diesem Sinne als ein spezifischer Beitrag zum jeweiligen Gedächtnis begreifen würde, dann würde sie zu einem Lieferanten kollektiver Identitätskonstruktionen. Ohnehin ist Identität ein höchst problematischer Begriff. Denn er fixiert Individuen und Gemeinschaften auf bestimmte Vergangenheiten, Gegenwartsfestlegungen und damit auch Zukünfte. In dem Maße aber, in dem er festlegt, wird er zu einem anti-emanzipatorischen Begriff.
Vorsicht also vor der Gefahr, als Zeithistorikerin oder Zeithistoriker solche identitären Festlegungen zu reproduzieren, seien sie national oder regional, politisch oder sozial, geschlechts- oder kulturspezifisch. Identitäten konstruieren können im Übrigen auch andere und manchmal durchaus effizienter. Umgekehrt heißt das: Epistemische Distanz herzustellen ist keineswegs unmöglich, entspringt aber einer nicht geringen methodisch-theoretischen Anstrengung. Ihr sollte sich niemand entziehen, der sich wissenschaftlich ernsthaft mit der Zeitgeschichte befassen will.
Epistemische Distanz herzustellen, verbindet sich denn auch immer mit dem Anspruch auf intersubjektiv vermittelbare Wahrheit.
Wahrheit…? werden Sie jetzt skeptisch murmeln. Ist nicht aber der Anspruch auf Wahrheit die einzig mögliche Antwort auf den Vorwurf der Lüge? Auf Wahrheit, so lautet Immanuel Kants zeitlos gültige Einsicht im „Streit der Fakultäten“, kommt alles an. „Die Nützlichkeit ist nur ein Moment vom zweiten Range.“[4] Natürlich wissen wir alle, dass es keine einfach verfügbare, objektiv ermittelbare Wahrheit gibt – weder in der Zeitgeschichte noch in der Mediävistik, weder in der Ökonomie noch in den Naturwissenschaften. Und natürlich wissen wir auch, dass eine Annäherung an die historische Wahrheit nur in einem pluralistischen System von unterschiedlichen, ja konträren Ergebnissen, von Diskussion und Kritik überhaupt möglich ist. Radikaler Pluralismus und Wahrheit bedingen daher einander. Und die öffentliche Relevanz der Zeitgeschichte als Wissenschaft bewegt sich zwischen diesen beiden Polen: Pluralität und Wahrheit. Nur ein solcher Begriff von Wissenschaft ist davor gefeit, sich in die babylonische Gefangenschaft der Ökonomie, der Politik oder auch des Zeitgeistes zu begeben.
Nicht „rückwärtsgewandte Propheten“ also, keine Verfechter einer linear auf die Gegenwart zulaufenden Entwicklung, aber auch keine Lieferanten für kollektive Identitäten sind die Zeithistoriker, wenn sie öffentlich relevant sein wollen. Was bleibt also? Ich meine, Zeitgeschichte kann heute nur etwas sein, was man mit Hans Günter Hockerts‘ glücklichem Begriff als Problemerzeugungsgeschichte bezeichnen kann.
Eine Problemerzeugungsgeschichte, wie wir sie pflegen sollten, nimmt die Komplexität der ganzen Geschichte in den Blick. Sie weiß sich einer pluralen und zugleich ganzheitlich-kritischen Sichtweise verpflichtet. Deshalb überwindet sie die Versuchung zur Harmonisierung und analysiert stets die konfliktuellen Kräfte der Vergangenheit. Damit zeigt sie wie keine andere Disziplin, wie die Probleme der Gegenwart entstanden sind. Sie ist daher das Gegenteil einer flachen Fortschritts- und Erfolgsgeschichte, wie sie gerade für die deutsche Geschichte immer wieder geschrieben wurde: sowohl für das Kaiserreich wie auch für die alte Bundesrepublik.
Mit ihrem pluralen Blick auf die Vergangenheit vermeidet die Problemerzeugungsgeschichte zugleich die Fragmentierung ihres Gegenstandes entlang identitärer Abgrenzungen. Sie lässt sich daher nicht vor den Karren außerwissenschaftlicher Identitätskonstruktionsbedürfnisse spannen, sondern analysiert diese selbst als Problemhorizont der Gegenwart.
So – und wie ich meine nur so – lässt sich die Zeitgeschichte als Vorgeschichte der Gegenwart verstehen. Und als solche kann sie nicht nur, sondern sollte unbedingt ihre Stimme in der Deutung aktueller Problemlagen erheben. Gegenüber den Reduktionisten aller Couleur wirkt sie störend, aber eben das erweist ihre öffentliche Relevanz.
Und in nicht wenigen Diskussionen liegt darin auch ihre besondere Kompetenz. Historische Wissenschaften sind nämlich die einzigen Disziplinen, die gleichsam mit zwei Augen sehen. Während das eine Auge in der Zeit- und Standortgebundenheit des Wissenschaftlers haften bleibt, richtet sich das andere auf die historische Tiefe. Und erlauben Sie mir zum Schluss eine nicht ganz ernstzunehmende Weiterführung des Bildes. Denn sind nicht die rein gegenwartsorientierten Wissenschaften gleichsam die Einäugigen unter den Blinden – den blinden Zeitgenossen, die ihre Gegenwart nicht zu verstehen vermögen? Und ist es demgegenüber nicht allein die Zeitgeschichte, die mit ihren beiden Augen zusammen räumlich sehen kann. Wenn es sich so verhält, ist die Zeitgeschichte weder antiquarische noch Lügenwissenschaft und um ihre Relevanz braucht uns nicht bange zu sein.
Außerdem:
Annette Schuhmann, Interview mit Andreas Wirsching. „Zuhören, was andere sagen, oder lesen, was andere schreiben, und das, wenn möglich, rückkoppeln an die eigene Arbeit“, in: Zeitgeschichte-online, August 2011.
und
Michael Hagner, Wider den Populismus. Paul Feyerabends dadaistische Erkenntnistheorie, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 14 (2017), H. 2, Druckausgabe: S. 369-375.
[1] Sezession, 15. Oktober 2015: Björn Höcke, Stefan Scheil und die AfD – ein Doppelinterview (1. Teil), (zuletzt abgerufen am 14.4.2018).
[2] Stefan Scheil, Speer und sie. Die Biographie über NS-Rüstungsminister Albert Speer gerät zur Abrechnung mit einer ganzen Generation, in: Junge Freiheit, 8.9.2017; (zuletzt abgerufen am 14.4.2018).
[3] Dies und das Folgende zit. n. Lothar Gall, Gervinus, in: Deutsche Historiker V, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1972, S. 7-26, hier S. 10-11.
[4] Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Hamburg 1959, S. 21.
Von der Lügenpresse zur Lügenwissenschaft?
Zur Relevanz der Zeitgeschichte als Wissenschaft heute