Karl Marx war in Deutschland wohl nie präsenter und beliebter als rund um den 200. Jahrestag seines Geburtstages. Mit einigem Erstaunen konnte man in den letzten Monaten das große öffentliche Interesse zur Kenntnis nehmen, das die Deutschen einem ihrer berühmtesten und zugleich umstrittensten Philosophen entgegenbrachten. Dabei war Marx ein Mann, dem die preußische Regierung in jungen Jahren die Staatsbürgerschaft entzogen und der den größten Teil seines Lebens im französischen, belgischen und englischen Exil verbracht hatte; ein Mann, dessen Name sich noch zu seinen Lebzeiten in einen Ismus verwandelte, der im Jahr 1917 in Russland zur Staatsdoktrin avancierte und nach dem Untergang des Nationalsozialismus die Errichtung einer zweiten deutschen Diktatur inspirierte; ein Mann, nicht zuletzt, der lange vor und nach den ideologischen Grabenkämpfen des Kalten Krieges mit seiner geschichtsphilosophisch getünchten Kapitalismuskritik Generationen von Intellektuellen, Politikern, Aktivisten und Revolutionären in seinen Bann gezogen hat. Die jüngste Marx-Welle ist vielleicht eine der bemerkenswertesten Episoden in dieser langen Streitgeschichte. Denn unabhängig davon, wie nachhaltig dieses Interesse nun tatsächlich gewesen sein wird, eröffnet sie einen aufschlussreichen Blick auf das geistige Leben der Deutschen anno 2018.
Zum einen fällt auf, dass die Deutschen Marx zum 200. Geburtstag wirklich beschenkt haben. Er stand im Mittelpunkt einer „Matinee“ im Schloss Bellevue, die der sozialdemokratische Bundespräsident mit der Bemerkung eröffnete, dass das Setting, in dem er Marx nun empfange, durchaus paradox sei: mit all dem repräsentativen Pomp, zwischen den preußischen Königsgemälden und den Vertretern der sogenannten bürgerlichen Eliten, mitten im von ihm so verhassten Berlin. Er stand ferner im Zentrum einer Gedenkstunde in der Konstantinbasilika zu Trier. Auch dort eröffnete der Hausherr, Bischof Ackermann, die Feierlichkeit mit einem Verweis auf die Paradoxie des Ortes. Ausgerechnet in einem Gotteshaus erwies die Stadt ihrem berühmten Sohn nicht die letzte, sondern eigentlich die erste wirkliche Ehre.
Marx wurden in den Blättern und Kanälen der gutbürgerlichen Mitte ganze Reihen gewidmet. In den Feuilletons und im Radio wurde sein Erbe debattiert – von den anspruchsvollen Essays Dietmar Daths in der FAZ, über den Vortragsreigen zur „aktuellen Brisanz“ der Marxischen Ideen prominenter Politiker, Soziologen und Ökonomen im Deutschlandfunk bis hin zur Duell-Serie „Tacheles. Marx trifft auf Politik“ in eben jenem Sender, in dem Vertreter der sieben Bundestagsparteien – darunter so illustre Gäste wie Christian Lindner (FDP), Robert Habeck (Bündnis 90/DIE GRÜNEN), Dietmar Bartsch (DIE LINKE) und Marc Jongen (AfD) – mit jeweils wechselnden Marx-Experten über die Aktualität und Hinfälligkeit von Marx und Marxismus debattierten.
Nimmt man die gefühlt wöchentlich stattfindenden wissenschaftlichen Tagungen hinzu, die sich meist ebenso der Frage widmeten, „was Marx uns heute noch zu sagen hat“, spricht dies für ein außerordentlich hohes Maß an gesellschaftspolitischem Orientierungsbedürfnis, prinzipieller Nachdenklichkeit und vielleicht sogar Utopie-Verlangen. Denn der Diskurs beschränkt sich keineswegs auf eine routinierte Kritik an Sinn und Moral des Kapitalismus oder die Suche nach einer alternativen Wirtschaftsordnung. Vielmehr führt er unter Verweis auf die verunsicherte Postmoderne nicht selten zurück zu Marx‘ philosophischen Urkonzepten wie „Entfremdung“, „Verdinglichung“ und „Emanzipation“. Und er mündet gerade unter Akademikern in bemerkenswerten Projekten und Appellen. Während die Hamburger online-Plattform soziopolis.de völlig ironiefrei fordert: „Sozialwissenschaftler*innen aller Disziplinen, vereinigt euch!“, stand das renommierte Herrenhäuser Gespräch in Hannover in diesem Jahr unter dem famosen Titel „Marx hat keinen Bart“. Letztlich geht es in diesem Diskurs wohl um die Wiederbelebung des „unversöhnten Marx“, wie ihn der Münsteraner Philosoph Michael Quante nennt. Reingewaschen von den roten Flecken der kommunistischen Verbrechen, wird er als Denker rehabilitiert, als einer der Großen der deutschen Geistesgeschichte, der durchaus noch etwas zu sagen hat.
Eine vorläufige Bilanz dieses Marx’schen Frühlings lässt jedoch vermuten, dass diese Neu- oder Wiederaneignung eine stark westdeutsch geprägte Entwicklung darstellt. Das drängt sich nicht nur mit Blick auf den intellektuellen oder geografischen Ort der angeführten Beispiele auf (Berlin, Hamburg, Hannover, Münster, Wuppertal, Trier etc.). Dies zeigt sich vor allem dann, wenn man den Marx-Geburtstag aus erinnerungskultureller Perspektive betrachtet.
Während man im touristenfreundlichen Trier eine überlebensgroße Statue von Marx aufstellt, die die Stadt ausgerechnet von der Kommunistischen Partei Chinas „geschenkt“ bekommen hat, debattieren die Bürger in Ostdeutschland, ob und wie man die aus DDR-Zeiten stammenden Büsten in den Depots der Stadtmuseen wieder aufstellen soll – liegend, also umgelegt und damit erledigt wie der Staatssozialismus in Neubrandenburg, oder als Aktionskunstwerk mitten im Konsumtempel der Jenaer Innenstadt, vor den toskanischen Pappwänden eines Schnellimbisses, gleich neben dem Kunden-WC. Die Hamburger Sozialforscher feiern Marx – natürlich kritisch – dafür, dass er „einen Sprengstoff bereitstellen [wollte], der die bürgerliche Gesellschaft, den sich durchsetzenden Industriekapitalismus und die verächtliche Lebensweise, zu der sich die lohnabhängigen Citoyens gezwungen fanden, zur Explosion bringen und also in Geschichte verwandeln würde“, während ein älterer Herr in einer Diskussion in Jena leise darauf hinweist, dass die erneute Marx’sche Bilderflut bei ihm schmerzliche Erinnerungen hervorruft. Vom einzigen Bild im Verhörzimmer des örtlichen Stasi-Gefängnisses, in dem er einst festgehalten wurde, blickte nicht etwa Erich Honecker, sondern das bärtige Antlitz von Karl Marx.
Und schließlich war da noch Mario Adorf, der aus dem Ruhestand zurückgekehrte Grandseigneur des seichten deutschen Films, der in einem „ZDF-Dokudrama“ Marx‘ letzte Jahre nachspielt (eine Rolle, die er sich immer gewünscht hat) und mit der bemühten Grummelattitüde des deprimierten Weltverbesserers nicht nur sich, sondern auch seinen Protagonisten als vermeintlich „deutschen Propheten“ lächerlich macht. Der MDR produzierte unterdessen eine Hörspiel-Satire des Autors Thilo Reffert, die vieldeutig „Karl Marx statt Chemnitz“ heißt. Der irre Plot um einen Stadtverwalter, der Chemnitz zu Marketingzwecken wieder in Karl-Marx-Stadt umbenennen will, dokumentiert, wie man in der einzigen Stadt Deutschlands, die jemals gezwungen worden ist, den Namen Karl Marx zu tragen, und sich 1990 zwar von diesem Namen, bewusst aber nicht von dem monströsen Denkmalskopf („Nischel“) befreite, mit Marx heute umgeht und ihn dabei, ganz beiläufig, im besten Sinne (kapitalistisch-)kritisch historisiert – ernsthaft, abgekühlt und leichtherzig zugleich. Könnte der Kontrast größer sein? Wie lässt er sich erklären?
Im Frühjahr 2018 wurden zwei Befreiungsbewegungen sichtbar, die die spezifischen ost- und westdeutschen Erfahrungen mit Karl Marx und dem Marxismus spiegeln. Im Westen – und das ist zugleich auch eine gesamtdeutsche Tendenz – ist nun, eine Generation nach dem Ende des staatlich verordneten „Marxismus-Leninismus“ mit all seinen Verkürzungen und Banalisierungen von Marx‘ Gedanken, die Zeit gekommen, Marx aus den Trümmern des Kommunismus wieder hervorzuholen und sich mit ihm unbefangener und unbelasteter auseinanderzusetzen, als das jemals zuvor möglich gewesen ist. Das sind nicht einmal vorrangig die sogenannten Alt-68er, die im Zuge des kulturellen Aufbruchs der 1960er Jahre Marx als doppelte Antidote gegen Staatskommunismus einerseits und Marktkapitalismus andererseits gelesen hatten. Das sind vielerorts jüngere Intellektuelle, Wissenschaftlerinnen und Publizisten, die geradezu erleichtert sind, dass Marx endlich in diesem Sinne „ohne Bart“ zu haben ist.
Im Osten hingegen begegnet einem eine ganz andere Art der Erleichterung. Von den Bevormundungen des SED-Regimes befreit, befassen sich viele Ostdeutsche mit Marx und dessen Erbe heutzutage nicht, weil sie dazu angehalten werden, sondern aus freien, ja befreiten Stücken. Für sie ist es undenkbar, Marx ohne den Marxismus und dessen realhistorische Auswirkungen zu denken. Vielmehr nähern sie sich ihm mit einer feinen Mischung aus Skepsis und Neugier. Auch hier hat Marx also in gewisser Weise „keinen Bart“ mehr. Und doch bleibt der auf unwiderrufliche Weise dran: So wie die vielen aus DDR-Zeiten noch herumstehenden Betonköpfe im Osten Marx noch lange als bärtige Ikone zeigen werden, wird die Erfahrung des real-existierenden Sozialismus dort die meisten Leute davor bewahren, sich an einem „Neudenken“ des Marxismus zu beteiligen – zumindest vor dieser Gemeinschaftsutopie scheinen sie gefeit. Doch spätestens seit nun der „Nischel“ mit den gewalttätigen Ausschreitungen von Chemnitz im Spätsommer 2018 wieder ganz neu in das Bildgedächtnis der Deutschen zurückgeholt wurde, stellt sich die Frage, welche „alternativen“ Gesellschaftsvorstellungen besonders, aber nicht nur im Osten Deutschlands, Anziehungskraft entfalten.
Marx ohne Bart
Eine zeitgemäße Betrachtung zum Gedenken an Marx' 200. Geburtstag