Einführung: Zur Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) und ihrer Kontexte

Seit Ende der 1990er-Jahre ist in der Publizistik und in wissenschaftlicher Literatur mehrfach versucht worden, die Geschichte der Roten Armee Fraktion chronologisch darzustellen.[1] Gewöhnlich wird dies als ein „zusätzlicher Service“ im Anhang abgehandelt, und die diversen Chroniken sind lückenhaft und teilweise unpräzise. Auch auf zahlreichen Websites existieren mehr oder weniger ausführliche und mehr oder weniger verlässliche Chronologien zur Geschichte der RAF und verwandten Themenbereichen.[2] In manchen dieser im Internet publizierten Chronologien werden jedoch einseitige politische Wertungen transportiert – was belegt, dass eine Historisierung der RAF noch am Anfang steht und der Linksterrorismus bis heute (auch) Teil des politischen Meinungskampfes ist. Der Themenschwerpunkt „Die RAF als Geschichte und Gegenwart“ bei Zeitgeschichte-online soll nun einen Beitrag zur sachlichen Orientierung über Ereignisse und Entwicklungen leisten.
 
Bei der Erarbeitung der folgenden Chronologie wurde Wert auf bestimmte zentrale Aspekte gelegt. So erweist sich „die RAF“ bei genauerem Betrachten als ein durchaus heterogenes, binnenstrukturell gewachsenes Phänomen, das als radikalisierte Strömung linker Subkulturen betrachtet werden muss. Generell fanden sich Akteure aus der Studentenbewegung und verschiedene linke Szenegruppen vor allem aus West-Berlin seit Ende der 1960er-Jahre häufig für eine bestimmte Zeit ohne feste Mitgliedschaft zusammen und gruppierten sich mehrfach neu. Zu ihnen gehörten etwa der „Zentralrat der Umherschweifenden Haschrebellen“, die „Tupamaros West-Berlin“ sowie der „Blues“. Diese und andere Gruppen organisierten sich ab 1972 in der Stadtguerillagruppe „Bewegung 2. Juni“. Einige Beteiligte der „Bewegung 2. Juni“ wiederum schlossen sich im Frühjahr 1980 der RAF an. Derartige organisatorische Verschiebungen und wechselnde Allianzen tragen dazu bei, dass die heutige Suche nach klaren Entwicklungslinien nicht ganz einfach ist.
 
Ein weiterer relevanter Aspekt in der Chronologie sind die politischen Bedingungen, unter denen sich Teile der Studentenbewegung radikalisierten. In den 1960er-Jahren spielte hier vor allem die US-Intervention im Vietnamkonflikt seit 1965 eine wichtige Rolle. Akteure wie der Studentenführer Rudi Dutschke bezogen öffentlich Stellung gegen die amerikanische Kriegspolitik und konnten viele Studenten erreichen. Innenpolitisch verschärfte sich das Klima in der Bundesrepublik Ende der 1960er-Jahre, weil die Bundesregierung die USA unterstützte. Einen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung zwischen Studenten und „Staat“ am 2. Juni 1967, als der Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg während der Demonstration gegen den Schah-Besuch in West-Berlin erschoss. Am 11. April 1968 wurde Dutschke durch das Attentat des Rechtsextremisten Josef Bachmann lebensgefährlich verletzt; Bachmann war vermutlich von den antistudentischen Hetzkampagnen des Springer-Verlages beeinflusst worden. Diese Ereignisse bedeuteten für viele Studenten einen Einschnitt: Der Verdacht, in einem „postfaschistischen System“ zu leben, schien sich zu bestätigen. Doch wählten nur wenige unter ihnen den Weg in den „bewaffneten Kampf“, der schließlich in Form der RAF über die „Mai-Offensive 72“ zum „Deutschen Herbst“ im Jahre 1977 führte. Die Vorgeschichte sowie die Geschehnisse des „Deutschen Herbstes“ gehören aus heutiger Sicht zweifellos zu den prägnantesten Ereignissen in der Geschichte der Bundesrepublik und nehmen in der Chronik dementsprechend breiten Raum ein.
 
Dass die „RAF“ kein rein westdeutsches Phänomen darstellte, zeigte sich an den Kontakten der Gruppe mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Im Jahre 1980 tauchten nach der fehlgeschlagenen „Offensive 77“ zehn demoralisierte RAF-Mitglieder mit neuen Identitäten in der DDR unter. Ein gesonderter kurzer Abriss gibt einen Überblick zu den Verbindungen zwischen RAF und „Stasi“.
 
Die weiterhin „aktiven“ RAF-Kader der so genannten „zweiten Generation“[3] versuchten nach dem Tod der in der JVA Stammheim inhaftierten Gründungsmitglieder, den Kampf gegen das „Establishment“ weiter zu forcieren. Doch wurden nahezu sämtliche Mitglieder der zweiten Generation, nachdem sie im Jahr 1982 einen Strategiewechsel angekündigt hatten,[4] bis 1984 verhaftet. Mitte der 1980er-Jahre wurde eine weitere „Generation“ der RAF aktiv, die sich mit ihrem „bewaffneten Kampf“ noch weiter von der Gesellschaft und vom linken Milieu isolierte. Die Gründe dafür bestanden in der zunehmenden Kaltblütigkeit der Aktionen gegen einfache US-Soldaten, Wirtschaftsmanager, Politiker und deren Angehörige; die Rechtfertigungen der RAF für ihre menschenverachtenden Taten sorgten dafür, dass die Gruppe bei früheren Sympathisanten kaum noch Unterstützung fand.
 
Mit der fortschreitenden Desillusionierung versuchte die RAF im Jahre 1992 schließlich die „Eskalation zurückzunehmen“. Anfang der 1990er-Jahre entstand so, angestoßen von der „Kinkel-Initiative“ des damaligen Innenministers, eine Debatte innerhalb der RAF und ihrer inhaftierten Gesinnungsgenossen. Besonders dieser Aspekt wurde bislang in anderen Chronologien vernachlässigt – trotz der Tatsache, dass sich aus historischer Perspektive ein deutlicher Weg vom Beginn der internen RAF-Debatte zur endgültigen Auflösungserklärung der Gruppe im Jahre 1998 nachzeichnen lässt. Abschließend wird in der Chronologie versucht, auf einige prägnante Daten der jüngsten Debatten und der Erinnerung an die RAF hinzuweisen. Das Jahr 2007 spielt dabei eine besonders große Rolle – mit den Diskussionen um die Haftentlassung Brigitte Mohnhaupts, um die Gnadengesuche Christian Klars und Birgit Hogefelds sowie möglichen neuen Indizien zur Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977.
 
Neben der Aktualität des Phänomens „RAF“ in den Medien (die einmal selbst zu historisieren sein wird) und den damit verbundenen moralischen und juristischen Dimensionen fällt auf, dass für wichtige Teilstränge der RAF-Geschichte nach wie vor Forschungsdefizite bestehen. Dies betrifft die bislang nicht aufgeklärten Attentate der RAF Ende der 1970er- bis Anfang der 1990er-Jahre, besonders aber die Zusammenhänge auf der internationalen Ebene des Terrorismus – die internationalen Verflechtungen der RAF sowie auch die eigenständigen Aktivitäten vergleichbarer Terrorgruppen in anderen Ländern. Die Medienaufmerksamkeit ist bisher stark auf den deutschen Linksterrorismus fixiert, und auch in der Zeitgeschichtsforschung haben vergleichs- oder transfergeschichtlich angelegte Studien erst begonnen.[5]
 
Grundsätzlich besteht das Ziel der Chronologie darin, anhand von Daten einen ausgewogenen und differenzierten Überblick zur Geschichte der Roten Armee Fraktion zu bieten. An einigen Stellen finden sich vertiefende redaktionelle Kommentare und Periodisierungsvorschläge, die zum besseren Verständnis beitragen sollen und vom übrigen Text abgesetzt sind.
 
[1] Vgl. z.B. die Chronologien bei Klaus Pflieger, Die Rote Armee Fraktion -RAF-. 14.5.1970 bis 20.4.1998, Baden-Baden 2004, S. 187-201; Butz Peters, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004, S. 833-843; ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte  der RAF, Berlin 1997, S. 514-523; Willi Winkler, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007, S. 519-527. Beispiele für journalistische Chronologien zur RAF-Geschichte bieten jüngst: ZEIT, 30.8.2007, S. 17-21, sowie ZEIT Geschichte Nr. 3/2007: Die Jahre des Terrors, S. 86ff.
[3] Der Generationenbegriff ist in der Literatur zur RAF allgemein üblich – allerdings weniger in einem sozialwissenschaftlichen Sinne als mit dem Ziel, verschiedene Phasen voneinander abzugrenzen.
[4] In der Chronik sind die ideologischen Pamphlete und Anschlagserklärungen größtenteils verlinkt und nachzulesen. Dank der Bemühungen der Redaktion von <http://www.extremismus.com/> steht der Öffentlichkeit umfangreiches Primärquellenmaterial im Kontext der RAF-Geschichte zur Verfügung.
[5] Vgl. dazu jetzt v.a. Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006; Klaus Weinhauer/Jörg Requate/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a.M. 2006.

 

 

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