Literaturaustausch?

Krieg und Frieden oder deutsch-deutscher Literaturaustausch

Bei den Neuerscheinungen der DDR-Verlage hielten sich im Jahr 1988 Publikationen von Schriftsteller_innen, wie Volker Braun, Eva Strittmatter und Christa Wolf mit den Produktionen ausländischer Literaten, etwa Gabriel García Márquez oder Norberto Fuentes die Waage.[1] Auffällig – wenn auch nicht unbedingt überraschend – ist für letztere die Dominanz jener Autoren, die aus sozialistischen Staaten stammten oder dem Sozialismus positiv gegenüber standen.[2] Besonders verehrt wurde in der DDR der Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda, der sich durch seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Chiles und der Unterstützung Salvador Allendes im Wahlkampf 1970 für sozialistische Ziele eingesetzt hatte.[3] In der DDR ging man schließlich soweit, ihn zum „bedeutendsten Dichter [...] des Jahrhunderts“ zu stilisieren.[4] Die Würdigung des Autors beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Neruda hatte schon 1951 den jungen Staat in Abgrenzung zur Bundesrepublik positiv charakterisiert: „Während die alten Kriegsknechte jenseits der Grenze zusammen mit den Faschisten – wie schon zuvor – provozieren, gibt es hier einen neuen Lebenssinn und eine Jugend, die aufbaut und singt.“[5] In der Presse wurden neben den aktuellen Werken insbesondere literarische Klassiker gelobt, die zum sozialistischen Bildungskanon zählten: Brecht, Schiller, Fontane und Bettina von Arnim.

Literarische Vorlieben wurden in Ost und West geteilt. Auf beiden Seiten wurden Bücher des jeweils anderen Landes selbstverständlich gelesen und nicht selten genossen ausländische Autoren hier wie dort große Popularität. Ein in beiden deutschen Staaten vielgelesener Autor des Jahres 1988 war beispielsweise Gabriel García Márquez, der sich in seinen Werken intensiv mit der Geschichte Lateinamerikas auseinandergesetzt hat. In Europa avancierte er schnell „zum Symbol seines Kontinents“.[6] Während ältere Romane wie Chronik eines angekündigten Todes und Der Herbst des Patriarchen in der Bundesrepublik bereits in die achte beziehungsweise neunte Auflage gingen, wurden anlässlich seines 60. Geburtstages erstmals in der DDR Die Liebe in den Zeiten der Cholera und Das Abenteuer des Miguel Littín[7]verlegt. In Westdeutschland erreichten beide Titel einen Platz in der Spiegel-Bestsellerliste dieses Jahres.[8]

Wie nah sich beide deutschen Staaten aus literarischer Perspektive waren, zeigt sich an den Buchausstellungen, die die Verlage auf beiden Seiten initiierten. Eine der wichtigsten Ausstellungen war Bücher aus der Bundesrepublik Deutschland, die gemeinsam vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler in Leipzig und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main organisiert wurde. Sie fand vor dem Hintergrund des 1986 beschlossenen Kulturabkommens zwischen der DDR und der Bundesrepublik statt, dem ein fast dreizehnjähriger Verhandlungsmarathon vorausgegangen war. 1988 sollte das erste Jahr werden, in dem der darin geplante Kulturaustausch verwirklicht wurde.[9] In besagter Ausstellung wurden über 3.000 Werke von 413 westdeutschen Verlagen in Berlin, Rostock, Dresden und Weimar präsentiert. Das Medienecho in der DDR war gewaltig: Alle großen Zeitungen berichteten; kritische Stimme über die westdeutsche Literatur waren nicht zu vernehmen.[10] Auch Günther Christiansen, der als Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ein Grußwort beisteuerte, wusste über die innerdeutschen Beziehungen nur Gutes zu berichten.[11]

Im Gegenzug wurde für das Jahr 1989 eine Ausstellung der DDR-Verlage in Hamburg, Köln, Heidelberg und München vorbereitet. Noch am 4. Dezember 1988 fand in Saarbrücken eine vergleichbare Exposition mit knapp 4.000 Büchern aus der DDR statt, die im Beisein der Landesregierung eröffnet wurde. Das Medienecho in den ostdeutschen Zeitungen fiel eher schwach aus – dem Neuen Deutschland und der Berliner Zeitung war dieses Ereignis lediglich eine kurze Meldung wert.[12]

Stellten DDR-Verlage dagegen auf einer internationalen Buchmesse aus, berichteten die Medien ausgiebig über das „[r]ege Interesse für Bücher aus der DDR“, so etwa auf der Frankfurter Buchmesse: „Die Nationalausstellung der DDR auf der 40. Buchmesse in Frankfurt (Main) war bereits am Mittwoch, dem ersten Messetag, ein Magnet für Buchhändler und Verleger aus vielen Ländern.“[13] Besonders betont wurde das breite Spektrum an Literatur, das die heimischen Verlage im Programm führten, sowie den hohen Stellenwert des Lesens in der DDR. Mit dem Aushängeschild „Leseland DDR“ schmückten sich DDR-Politiker und Journalisten äußerst gerne.[14] Dass diese Charakterisierung indes die Praxis nur bedingt wiedergibt, zeigen Umfragen aus den 1980er Jahren, in denen Freizeitbeschäftigungen wie Fernsehen und Musikgenuss das Lesen an Bedeutung deutlich überragten. Einen entscheidenden Anteil am Mythos „Leseland“ besaßen, die aus westdeutscher Perspektive vergleichsweise niedrigen Buchpreise. Dabei korrespondierten die Buchpreise in der DDR vor allem mit den deutlich geringeren Einkommen. Ins Verhältnis gesetzt, unterschieden sich die Preise kaum von denen in der Bundesrepublik.[15] Auffällig ist jedoch, dass das Lesen in der DDR tatsächlich eine größere Rolle spielte als in der Bundesrepublik: So lasen 1992 ca. 68 % der Ostdeutschen mindestens einmal pro Woche, wohingegen im selben Zeitraum von den Westdeutschen lediglich 42 % zu einem Buch griffen.[16] Vielleicht ist dieser Unterschied vor allem auf die Funktion des Lesens als „Erlebnisersatz“[17] und „Ersatzöffentlichkeit“[18] zurückzuführen, die es aufgrund beschränkter Reisemöglichkeiten und kontrollierter öffentlicher Meinung in der DDR einnahm.


Die Rezeption der Verleihung des Friedenspreises an Siegfried Lenz in der DDR

Anders als in den westdeutschen Medien fand die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Siegfried Lenz in der DDR kaum Beachtung. Während das Neue Deutschland die Meldung in die letzte Ecke seiner Kulturseite verbannte,[19] erwähnten die Neue Zeit wie auch die Berliner Zeitung die Verleihung zwar auf der Titelseite, im letztgenannten Fall allerdings neben solch bedeutsamen Nachrichten wie der Geburt von Sechslingen in Rom.[20] Die Berichterstattung beschränkte sich zudem auf den Fakt der Preisverleihung. Die Laudatio des mit Lenz befreundeten ehemaligen israelischen Botschafters in der Bundesrepublik, Yohanan Meroz, oder auch die Dankesrede des Geehrten fanden hingegen kaum Berücksichtigung. Die Auseinandersetzung mit dem Schaffen des Preisträgers beschränkte sich hingegen auf die üblichen Phrasen zum Thema „Friedenssicherung“.[21]

In seiner Dankesrede ging Siegfried Lenz auf die Frage ein, welche Wirkung Literatur haben könne und ob sie sich zur Friedensstiftung eigne. Er selbst habe „erfahren, wie wenig Literatur vermag, wie dürftig und unkalkulierbar ihre Wirkung war und immer noch ist“[22] – eine Sichtweise, die jener der DDR-Eliten diametral gegenüber stand, schließlich wurde die Literaturproduktion staatlich gelenkt und war zugleich zentraler Bestandteil der Kulturpolitik. Wobei man sich nicht nur auf eine bloße Vorzensur beschränkte, bei der das Manuskript zur Genehmigung vorgelegt werden musste. Vielmehr wirkten die verschiedensten Mechanismen der Zensur vom Moment der Planung bis zur Fertigstellung kontinuierlich auf Autor und Verlag ein, sodass kritische Inhalte häufig schon im Vorfeld zensiert wurden.[23] Dennoch betrieben die DDR-Behörden einen hohen Aufwand bei der Zensur, der, wie der Literaturwissenschaftler Dietrich Löffler konstatiert, aus einer von der politischen Führungsebene „zweifelsohne überschätzte[n] Wirkung der Literatur auf gesellschaftliche Basisprozesse im Sozialismus“ resultierte.[24] Dass aber diese Kontrolle nur bedingt zur Schaffung des ‚Neuen Menschen‘ beitragen konnte, schien 1988 selbst der ergrauten politischen Elite bewusst geworden zu sein. So wurde das Druckgenehmigungsverfahren, dem sich alle zur Publikation bestimmten Schriften unterziehen mussten, im November 1988 abgeschafft, wenngleich dies nicht das Ende der Zensur bedeutete. Wie von Lenz bemerkt, war es mit dem Einfluss der Literatur auf politische und gesellschaftliche Verhältnisse mitunter doch etwas komplizierter – und dies galt sowohl in West als auch in Ost.

Doch zurück zu Siegfried Lenz: Über den „geachteten und auch bei uns vielgelesenen BRD-Autor“, wie Isa Speder in der Berliner Zeitung schrieb[25] konnten sich die Menschen in der DDR nicht nur über die wenigen Notizen aus Anlass der Friedenspreis-Verleihung informieren. Angekündigt wurde etwa zeitgleich der Band Motivsuche im Aufbau-Verlag, der 20 Erzählungen aus vier Jahrzehnten bündelte, sowie der ebenfalls dort veröffentlichte Erzählungsband mit masurischen Geschichten So zärtlich war Suleyken.[26] Insbesondere der Band Motivsuche wurde überaus positiv rezensiert. Von der Kulturjournalistin Waltraud Mohnholz wurde Lenz gar mit Dostojewski verglichen.[27] Der deutsch-deutschen Teilung stand auf dem Gebiet der Literatur augenscheinlich eine durchlässige Grenze gegenüber; Werke aus der Bundesrepublik wurden in der DDR verlegt, sofern sie das Regime nicht direkt kritisierten.


Christa Wolf, eine Staatsdichterin? Zur Wahrnehmung der Schriftstellerin in der DDR

 „Immer wieder bewährt sie sich als DDR-Staatsdichterin, die man schon zweimal mit dem Nationalpreis ausgezeichnet hat. Zugleich lässt sie gern durchblicken, sie sei gar nicht so linientreu, wie sie sich gibt, sie müsse nur – wie in Deutschland oft üblich – manches, was ihr mißfällt, hinnehmen, um Schlimmeres verhüten zu können. Mut und Charakterfestigkeit gehören nicht zu den hervorstechenden Tugenden der geschätzten Autorin Christa Wolf.“[28]

Mit diesen Worten kanzelte der wohl wichtigste deutsche Literaturkritiker, Marcel Reich-Ranicki, die Schriftstellerin Christa Wolf im Jahr 1987 ab. Für die westdeutsche Literaturkritik war es nachgerade charakteristisch, Autoren aus dem östlichen Teil Deutschlands auf ihre Beziehung zu Staat und Partei zu reduzieren. Besonders deutlich zeigte sich diese Tendenz im ausbrechenden Streit um die Rolle Christa Wolfs und anderer Schriftsteller in der DDR nach 1989,[29] der inhaltliche Auseinandersetzungen mit den literarischen Werken häufig überlagerte. Für das Jahr 1988 allerdings tritt das Schaffen Christa Wolfs tatsächlich in den Hintergrund. Aufgrund eines im Juni erlittenen Blinddarmdurchbruchs, der sie dem Tod nahebrachte, veröffentlichte sie lediglich den Band Ansprachen,[30] eine Sammlung verschiedener Vorträge der letzten Jahre. Die Relevanz Wolfs für das Jahr 1988 ergibt sich vielmehr aus ihrer Omnipräsenz in der medialen Berichterstattung im Bereich der Literatur. So fungiert sie in den DDR-Medien wiederholt als Referenz: Andere Autorinnen und Autoren werden „zur Generation von Ingeborg Bachmann und Christa Wolf“ gezählt, behauptet die Neue Zeit;[31] in Frankreich wiederum sei die deutsche Gegenwartsliteratur selbstredend in Person Christa Wolfs bekannt, so das Neue Deutschland.[32]

Wolfs Roman Störfall,[33] in dem sie die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vom 26. April 1986 verarbeitete, hatte auf den ersten Blick keine direkte Bedeutung für das Jahr 1988, ist aber aus zwei Gründen wichtig: Erstens zeigt der Roman sehr deutlich Wolfs literarischen Stil, zweitens hatte das Thema und damit der Roman große politische Relevanz. „So zu schreiben, wie unser Gehirn arbeitet – mit dessen Unmittelbarkeit, Fülle, Genauigkeit, Schärfe“,[34] so lautet die durchaus typische Beschreibung von Wolfs Ausdrucksform durch den Literaturwissenschaftler Peter Braun. Ihr Schreiben zeichne sich durch einen starken Subjektivismus aus, die Geschichten werden aus einer unmittelbaren, eigenen Perspektive erzählt, ohne dabei Anspruch auf Allgemeingültigkeit, Objektivität oder Realismus zu erheben. In Störfall wird der Tag des GAUs aus der persönlichen Sicht der namenlosen Ich-Erzählerin wiedergegeben. Neben der übergeordneten Katastrophe des Reaktorunfalls ist die Gehirnoperation des Bruders der Protagonistin der entscheidende Vorgang im Roman. Gesellschaftliche und private Dramen spielen sich also parallel ab. Der technische Fortschritt bringt zwar Vorteile mit sich, macht er doch die Tumorentfernung erst möglich, bedroht aber zugleich den Menschen auf existenzielle Weise. Ermöglicht wird das Weiterleben vor allem durch alltägliche soziale Kontakte im Dorf, beim Einkaufen oder am Telefon, die die rationalisierende Technikaffinität kontrastieren.[35]

Da die DDR-Behörden wider besseren Wissen die Gefährdung ihrer Bürger durch die Reaktorkatastrophe leugneten,[36] wird die politische Dimension des Unglücks offenbar. Das Überschreiten der hohen Grenzwerte wurde verschwiegen, die Katastrophe durch Ausdrucke wie ‚Unglück‘ oder ‚Havarie‘ bagatellisiert[37] – und das, obwohl den Menschen in der DDR mit dem Westfernsehen eine alternative Informationsquelle zur Verfügung stand. Durch den GAU erhielt der Glaube an den technischen Fortschritt und die Überlegenheit des Sozialismus erhebliche Risse. Mit den Worten Christa Wolfs: „Jenes Ziel in einer sehr fernen Zukunft, auf das sich bis jetzt alle Linien zubewegt hatten, war weggesprengt worden, gemeinsam mit dem spaltbaren Material in einem Reaktorgehäuse ist es dabei gewesen zu verglühen.“[38]

Deutlich konkreter äußerte sich Christa Wolf in ihrem Band Ansprachen mitgebündelt abgedruckten Reden: So widersprach sie der Ausgrenzung kritischer Autoren und Künstler, die seit 1976 zu Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband und nicht selten zur Emigration in die Bundesrepublik geführt habe. Mit eben diesen müsse der Dialog gesucht werden, um die mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns erlittenen Wunden zu schließen.[39] Auch sprach sie sich für eine Abschaffung der bestehenden Zensurregelungen aus, wie es auch Christoph Hein und Günter de Bruyn auf der Berliner Bezirksversammlung des Schriftstellerverbandes der DDR im März 1988 forderten.[40] In ihren Reden mahnte sie die Einlösung der Idee des „Neuen Denkens“ an, das für sie „in seinem Kern nicht ökonomisch-technisch-militärisches, überhaupt nicht pragmatisches Denken [ist], sondern eine Aufforderung, den Zielen und Werten dieser Kultur noch einmal gründlich nachzugehen, durch ein geistig-ethisches Konzept diesem Abendland noch eine Chance zu geben“.[41]


Das Literarische Quartett - Marcel Reich-Ranicki und die Literatur der DDR

Das am 25. März 1988 erstmals ausgestrahlte Literarische Quartett mit Marcel Reich-Ranicki in der unbestrittenen Haupt-, Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Jürgen Busche in den Nebenrollen, startete als gewagtes Projekt. Ein vergleichbares Format hatte es im deutschen Fernsehen bislang nicht gegeben, lediglich das französische Magazin Apostrophes[42] mag als Vorbild gedient haben. So stellte Joachim Kaiser in seiner Rezension der ersten Ausgabe die provokante Frage: „Wozu können eigentlich solche Gespräche dienlich sein? Literatur ist zum – man verzeihe das harte Wort – Lesen da.“[43] Aber Reich-Ranicki genoss nach seinem Ausscheiden als Leiter der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die notwendige Popularität, um eine solche Sendung zum Erfolg führen zu können.

Doch wie verhielten sich die im Literarischen Quartett versammelten Kritiker zur DDR-Literatur? In den vier Sendungen des Jahres 1988 wurden insgesamt 16 literarische Neuerscheinungen besprochen. Der Schwerpunkt der behandelten Werke lag mit 12 Titeln eindeutig auf dem deutschsprachigen Raum.[44] Allerdings findet sich darunter nur eine Publikation aus der DDR: Werner Mittenzweis Das Leben des Bertolt Brecht.[45] Es fällt zudem als wissenschaftliche Biographie aus dem Rahmen der Sendung, in der ausschließlich Belletristik behandelt wurde. Die Diskussion geriet dann auch eher zu einer Beurteilung von Brechts Werk, als dass die Biographie aus der Feder Mittenzweis verhandelt worden wäre.[46] Literatur aus Ostdeutschland schien den Machern der Sendung offenbar nicht relevant oder kritikwürdig. Diese Ignoranz gegenüber der Literatur aus der DDR ist auffällig, besonders da durchaus Werke aus anderen Staaten des sogenannten Ostblocks besprochen wurden.[47] Die DDR-Belletristik jedoch spielte durch die 1980er Jahre hinweg, mit nur etwa einem Prozent der Gesamtauflage der verkauften schöngeistigen Literatur in der Bundesrepublik, eine marginale Rolle.[48] Wenn Literatur aus der DDR überhaupt als kritikwürdig betrachtet wurde, beispielsweise im Schulunterricht, so mit entschieden politischer Konnotation. Entsprechend definierte die Literaturwissenschaftlerin Hedwig Walwei-Wiegelmann das Ziel ihrer Sammlung für den Unterricht: Es ging ihr darum „Ideologie und Literatur einander zuzuordnen“.[49] Werke aus der DDR wurden nahezu ausnahmslos auf ihre Beziehung zum SED-Staat reduziert. Marcel Reich-Ranickis Aussage, er habe „[a]n die Existenz einer DDR-Literatur [...] nie geglaubt“,[50] fügt sich nahtlos in dieses Bild. So formuliert in seinem 1991 publizierten Buch Ohne Rabatt. Über Literatur in der DDR, macht es offenbar, dass die in der DDR erschienenen Werke für ihn nicht den Wert einer eigenständigen Literatur hätten. Dies führt zu der Frage, ob es überhaupt möglich ist, von getrennten Literaturwelten beider deutscher Staaten zu sprechen.[51] Hier sind möglicherweise literarische Nachwehen jener politischen Zwei-Staaten-Diskussion der 1950er und 1960er Jahre zu erkennen.[52]

Ein auch nur annähernd vergleichbares Format wie das des Literarischen Quartetts sucht man in der DDR vergeblich. Die Fernsehsendungen, die Literatur thematisierten, waren Teil des Schulfernsehens und hatten wohl kaum einen derart kontroversen und streitlustigen Charakter, wie es das Quartett jenseits der Mauer so beliebt machte.[53] Das Literarische Quartett aber hatte zweifelsohne großen Einfluss auf den Erfolg der besprochenen Schriftsteller und der öffentlichen Meinung über deren Werke, auch in der DDR.[54] Allerdings sollten die dort getroffenen Urteile nicht allzu ernst genommen werden, denn selbst Reich-Ranicki gab später zu: „Gibt es im ‚Quartett‘ ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich.“[55]

 

[1]     U.S., „Reichhaltiges Angebot neuer Prosa und Lyrik. 304 Titel bei Aufbau und Rütten & Loening“, in: Neues Deutschland, vom 20. Februar 1988, S. 10; Mitteldeutscher Verlag (Hg.), Mitteldeutscher Verlag 1946–2006. Verlagsgeschichte und Gesamtkatalog. Halle 2006, S. 172–176.
[2]     U.S., Reichhaltiges Angebot (wie Anm. 1); Ute Wermer, „304 Literaturwerke aus aller Welt. Aus dem Jahresprogramm des Aufbau-Verlages“, in: Berliner Zeitung, vom 20. Februar 1988, S. 10. Zur ersten Gruppe gehören z.B. Gustavo Eguren, Norberto Fuentes und Viktor Astafjew, zur zweiten Gabriel García Márquez und Jean-Paul Sartre. Natürlich überschneiden sich beide Kategorien.
[3]     Bonnie A. Beckett, The Reception of Pablo Neruda’s Works in the German Democratic Republic. Bern 1981, S. 126–139.
[4]     Informationsbüro Antifaschistisches Chile in der DDR (Hg.), Pablo Neruda. Ein Kämpfer des chilenischen Volkes. Berlin (Ost) 1974, S. 22f.
[5]     Pablo Neruda, „Pablo Neruda llama a la juventud de América al Festival de Berlín“, in: Democracia, Santiago de Chile, vom 9. Juni 1951, zitiert nach: Daniel Schidlowsky, Pablo Neruda und Deutschland. Eine kurze Biographie des chilenischen Dichters und seine Beziehung zu Deutschland. Berlin 2008, S. 78.
[6]     Christoph Links, „Wie der Weltruhm entsteht. Zum 60. Geburtstag von Gabriel Garcia Márquez“, in: Berliner Zeitung, vom 4. März 1988, S. 7.
[7]     Gabriel García Márquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera. Berlin (Ost) 1988; Ders., Das Abenteuer des Miguel Littín. Berlin (Ost) 1988. In der Bundesrepublik sind beide Werke bereits 1987 bei Kiepenheuer und Witsch erschienen.
[8]     „Jahres-Bestseller 1988“, in: Der Spiegel, Nr. 1, vom 2. Januar 1989, S. 142f.
[9]     Sebastian Lindner, „Mauerblümchen Kulturabkommen“, in: Deutschland Archiv Kultur (2011), H. 5, S. 5.
[10]    „Buchausstellung der BRD in der Berliner Stadtbibliothek. Etwa 3000 Titel aller Literaturgebiete vorgestellt“, in: Neues Deutschland, vom 21. Oktober 1988, S. 2; „Überblick über ein literarisches Schaffen. Bücher aus der BRD in der Berliner Stadtbibliothek ausgestellt“, in: Berliner Zeitung, vom 21. Oktober 1988, S. 1; „BRD-Verlage präsentieren sich in der Stadtbibliothek“, in: Neue Zeit, vom 21. Oktober 1988, S. 1; Isa Speder, „Vom Prachtband bis zum Taschenbuch. BRD-Buchausstellung in der Berliner Stadtbibliothek“, in: Berliner Zeitung, vom 22. Oktober 1988, S. 7; „Breitgefächertes Spektrum von Literaturangeboten. Zur BRD-Buchausstellung in Berlin“, in: Neue Zeit, vom 27. Oktober 1988, S. 4.
[11]    Bücher aus der Bundesrepublik Deutschland. Eine Ausstellung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig in Zusammenarbeit mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels Frankfurt (Main). Frankfurt am Main 1988, S. 7.
[12]    „Buchausstellung der DDR in Saarbrücken eröffnet“, in: Neues Deutschland, vom 6. Dezember 1988, S. 7; „Buchausstellung in Saarbrücken eröffnet“, in: Berliner Zeitung, vom 5. Dezember 1988, S. 2.
[13]    Ebd.; „Frankfurt (Main): Reges Interesse für Bücher aus der DDR“, in: Neues Deutschland, vom 6. Oktober 1988, S. 4.
[14]    Isa Speder, „5000 attraktive Buchangebote. DDR-Verlage auf 40. Buchmesse in Frankfurt/Main“, in: Berliner Zeitung, vom 11. Oktober 1988, S. 7.
[15]    Dietrich Löffler, Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick. Berlin 2011, S. 241–247, 300f.
[16]    Christoph Links, „Leseland DDR. Bedingungen, Hintergründe, Veränderungen“, in: Thomas Großbölting (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand. Berlin 2009, S. 196–207, hier S. 204f.
[17]    Ebd., S. 197.
[18]    Frauke Meyer-Gosau, „Leseland? Legoland? Lummerland? Kummerland!“ In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 59 (2009), H. 11, S. 9–14, hier S. 12.
[19]    „Friedenspreis wurde an Siegfried Lenz verliehen“, in: Neues Deutschland, vom 10. Oktober 1988, S. 4.
[20]    „Friedenspreis an Lenz“, in: Berliner Zeitung, vom 10. Oktober 1988, S. 1; „Friedenspreis an Siegfried Lenz“, in: Neue Zeit, vom 10. Oktober 1988, S. 1. Allerdings muss relativierend ergänzt werden, dass die Verleihungen des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels auch in den Vorjahren nur geringe Resonanz in DDR-Zeitungen erzeugte.
[21]    Friedenspreis wurde an Siegfried Lenz verliehen (wie Anm. 21), S. 4.
[22]    Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 1988 – Siegfried Lenz, S. 8.
[23]    Löffler, Buch und Lesen in der DDR (wie Anm. 16), S. 127–129. Die geplanten Veröffentlichungen mussten bereits im Vorfeld der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) vorgelegt werden, um überhaupt Mittel zugewiesen zu bekommen. Außerdem musste vor Herstellung noch das Druckgenehmigungsverfahren durchlaufen werden.
[24]    Ebd., S. 18. Ein wichtiger Grund dieser Überbewertung von Literatur geht auf das in der Gründungszeit der Arbeiterbewegung angelegte Zusammenwirken politischer Aktion und Bildungsarbeit zurück, das den Arbeitern ihre benachteiligte Situation überhaupt erst bewusst machen sollte.
[25]    Speder, 5000 attraktive Buchangebote (wie Anm. 14), S. 7.
[26]    „‚Motivsuche‘ angekündigt. Bücher von Siegfried Lenz im Aufbau-Verlag“, in: Berliner Zeitung, vom 22. Oktober 1988, S. 10.
[27]    Waltraud Mohnholz, „Diese Literatur macht bewußt. ‚Motivsuche‘ von Siegfried Lenz im Aufbau-Verlag“, in: Berliner Zeitung, vom 26. Januar 1989, S. 9.
[28]    Marcel Reich-Ranicki, „Macht Verfolgung kreativ?“, in: Ders., Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR. Stuttgart 1991, S. 186–191.
[29]    Der Begriff „DDR-Schriftsteller“ bzw. „DDR-Schriftstellerin“ wird hier aufgrund der dadurch transportierten Nähe zu Staat und Regime bewusst vermieden.
[30]    Christa Wolf, Ansprachen. Darmstadt 1988.
[31]    Wolfgang Madai, „Anfrage und Ermutigung. Eva Zeller zum 65. Geburtstag“, in: Neue Zeit, vom 25. Januar 1988, S. 4.
[32]    „Mit Paris durch viele Kontakte verbunden. Erich Honecker und Bürgermeister Jacques Chirac nahmen das Wort zu Ansprachen im Bankettsaal des traditionsreichen Gebäudes“, in: Neues Deutschland, vom 9. Januar 1988, S. 2.
[33]    Christa Wolf, Störfall. Nachrichten eines Tages. Berlin/Weimar 1987.
[34]    Peter Braun, „Der strahlende Himmel. Christa Wolfs ‚Störfall‘ wiedergegeben“, in: Text + Kritik, 5. erw. Aufl. (2012), H. 46, S. 72–86, hier S. 78.
[35]    Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie. 2. Aufl. Berlin 2002, S. 346f.
[36]    Braun, Der strahlende Himmel (wie Anm. 36), S. 82f.
[37]    Melanie Arndt, Tschernobyl. Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Erfurt 2011, S. 82–96. Trotzdem oder gerade deswegen war der Reaktorunfall von Tschernobyl ein entscheidender Katalysator für die sich seit Mitte der 1980er Jahre in der DDR entwickelnde Umweltbewegung.
[38]    Wolf, Störfall (wie Anm. 35), S. 10.
[39]    Christa Wolf, „Brief an den Kongreß des Schriftstellerverbandes der DDR in Berlin, November 1987“, in: Dies., Ansprachen (wie Anm. 32), S. 85–87, hier S. 87. Schon 1976 hatte sich Wolf zusammen mit anderen Literaten in einem offenen Brief kritisch zur Ausbürgerung Biermanns geäußert und ihre Unterschrift entgegen Reich-Ranickis Polemik auch nicht zurückgezogen.
[40]    Christa Wolf, „Rede auf der Berliner Bezirksversammlung des Schriftstellerverbandes der DDR im März 1988“, in: Dies., Ansprachen (wie Anm. 32), S. 87–94, hier S. 93.
[41]    Christa Wolf, „Dankesrede für den Geschwister-Scholl-Preis“, in: Dies., Ansprachen (wie Anm. 32), S. 71–81, hier S. 79f.
[42]    Die Sendung wurde von 1975 bis 1990 auf Antenne 2 ausgestrahlt und hatte dort großen Erfolg.
[43]    Joachim Kaiser, „Braver Frieden, konfuser Krieg. ‚Das Literarische Quartett‘ (ZDF)“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 28. März 1988, S. 28.
[44]    Informationen zu den besprochenen Büchern bringt Peter Just u.a. (Red.), Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. 3 Bände. Berlin 2006, hier Bd. 1.
[45]    Werner Mittenzwei, Das Leben des Bertolt Brecht oder der Umgang mit den Welträtseln. 2 Bände. Berlin 1986.
[46]    Just, Das Literarische Quartett (wie Anm. 46), Bd. 1, S. 52–60.
[47]    So behandelt das Literarische Quartett am 25. März 1988 zum Beispiel Bohumil Hrabals Ich habe den englischen König bedient (ČSSR) und Andrzej Szczypiorskis Die schöne Frau Seidenman (Polen).
[48]    Egbert Meyer, DDR-Literatur in Westdeutschland. Literaturwissenschaftliche, schulische und feuilletonistische Rezeption literarischer Prosa aus der DDR. Frankfurt am Main 1994, S. 127.
[49]    Hedwig Walwei-Wiegelmann (Hg.), DDR-Literatur. Texte und Materialien für den Deutschunterricht. Paderborn 1982, S. 9.
[50]    Marcel Reich-Ranicki, „Vorwort“, in: Ders., Ohne Rabatt (wie Anm. 30), S. 9–14, hier S. 9.
[51]    Erweitern lässt sich diese Frage dann auch auf österreichische, schweizerische, sonstige deutschsprachige Auslandsliteraturen usw.
[52]    Siehe Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970. Göttingen 1988. Interessanterweise wird in diesem Werk die These, dass Deutschland immer noch eine Nation sei, überhaupt nicht problematisiert.
[53]    Das Fernsehprogramm der DDR lässt sich im Neuen Deutschland unter dem Titel „Fernsehen und Funk heute“ finden.
[54]    Für eine Untersuchung des Erfolgs besprochener Bücher siehe Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Tele-Visionen – Fernsehgeschichte Deutschlands in Ost und West, 2011, hier Hintergrund-Informationen zum Themenbereich "Kultur und Bildung": „Das Literarische Quartett. Die langjährige Literatur-Talkshow im ZDF“.
[55]    Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben. Rheda-Wiedenbrück 2000, S. 538.

Art der Seite
Artikel
Artikelformat
Aus
Chronologische Klassifikation
Header
Aus
manuelles Inhaltsverzeichnis/keine automatische Darstellung der Beiträge des TS
Aus
Regionale Klassifikation
Reprint
Aus
Rubrik
Titel

Literaturaustausch?

Untertitel

Die gegenseitige Wahrnehmung literarischer Produktionen in der Bundesrepublik und der DDR

Veröffentlichung
übergeordneter Themenschwerpunkt vorhanden
Aus