Globalisierung am Wohnzimmertisch

Im März 2016 besuchte ich Rupert Neudeck in seinem Troisdorfer Reihenhaus nahe Köln.
Der Grund für diesen Besuch war ein Zeitzeugengespräch, das ich im Rahmen meiner aktuellen Forschungen führen wollte. Nach der Lektüre seiner Korrespondenz mit Spitzenpolitikern, Intellektuellen und Journalisten hätte man vermuten können, er habe in einer gut ausgestatteten NGO-Zentrale gearbeitet, etwa wie bei Greenpeace. Seine Briefe trugen jedoch allesamt die Anschrift dieser bescheidenen Privatadresse. Neudeck hatte hier nach Feierabend von seinem Wohnzimmertisch aus internationale Hilfseinsätze organisiert, und dies in einem Ausmaß, wie man es in der Bundesrepublik bisher nicht kannte. Mit unglaublicher Hartnäckigkeit warb er vom Esstisch aus für seine Rettungsaktionen, mobilisierte Prominente und führte samstags Auswahlgespräche mit Ärzten für die ehrenamtlichen Einsätze. Seine wichtigste Mitarbeiterin war dabei seine Frau.
Weltberühmt wurde Neudeck 1979, als er mit Spenden das Frachtschiff Cap Anamur anmietete, das in den folgenden Jahren über 10.000 Flüchtlinge aus dem Südchinesischen Meer rettete. Zudem sorgte er dafür, dass ein großer Teil von ihnen in die Bundesrepublik eingeflogen wurde und dauerhaft bleiben konnte. Dem Auswärtigen Amt schickte er fortlaufend die Anzahl der jeweils Geretteten und drängte hartnäckig gegenüber den Bundesländern auf deren Überführung. Bis zu seinem Tod Ende Mai 2016 half er Flüchtlingen in aller Welt und in Deutschland.

Neudeck wirkte durch seinen markanten Bart wie ein Alt-68er, war jedoch keiner. Er hatte zwar in den 1960er Jahren studiert und über „Die politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus“ promoviert, ohne jedoch in der Anti-Kriegsbewegung oder anderen politischen Gruppen aktiv zu werden. Vielmehr war er ein religiös geprägter Journalist, den die Medienbilder von ertrinkenden Flüchtlingen aufrüttelten. Dass er selbst mit sechs Jahren aus Danzig fliehen musste und nur knapp die dann versenkte Wilhelm Gustloff verpasst hatte, prägte seinen Entschluss, gerade hier aktiv zu werden. Vielen Deutschen ging es ähnlich: Politiker, Journalisten und Bürger traten besonders engagiert für die Rettung der vietnamesischen Boat People ein, weil es sie an die Vertreibung der Deutschen erinnerte. Die zeitgleich ausgestrahlte Serie Holocaust stärkte das mittlerweile in der Gesellschaft verbreitete Verantwortungsgefühl. Da die vietnamesischen Flüchtlinge vor dem Kommunismus flohen, ließen sich auch bürgerliche Unterstützer leichter finden.

Inspiriert wurde Neudeck durch französische Rettungsaktionen, die er adaptierte. In Frankreich hatten bereits Ende 1978 Intellektuelle erfolgreich für die Idee geworben, die Boat People mit einem spendenfinanzierten Hilfsboot zu versorgen. Zudem nahm man hier, neben den USA, die meisten Flüchtlinge aus Vietnam auf.
Da Neudeck keine Erfahrungen in diesem Feld hatte, trat er zunächst mit relativ unbedarften Konzepten für die Rettung und Überführung der Boat People ein. Doch gerade diese anfängliche Blauäugigkeit machte vieles möglich.

Neudecks Hilfsaktionen standen für einen Wandel des politischen Engagements in Deutschland. Im Unterschied zu den Solidaritäts- und „Dritte Welt“-Gruppen der 1970er Jahre waren sie nicht weltanschaulich konnotiert, sondern setzten überparteilich auf konkrete Hilfe. Nicht Theorien und Worte, sondern Taten ohne ideologischen Überbau zählten für ihn. Dafür fand er zahllose prominente Unterstützer aller Couleur, von Christdemokraten wie Ernst Albrecht über Linksintellektuelle wie Heinrich Böll bis hin zu linken Ikonen wie Rudi Dutschke. Unpolitisch war das Engagement freilich nicht, gerade im Kontext der wachsenden Fremdenfeindlichkeit seit Anfang der 1980er Jahre.

Neudeck organisierte mit Schreibmaschine und Telefon eine frühe wirkungsvolle NGO, wie wir sie heute im Internetzeitalter häufig finden. Seine Entscheidungen sprach er oft allenfalls mit seiner Frau ab, kaum aber mit dem Vorstand seines Vereins, der deshalb teilweise austrat. Häufig wurde ihm vorgehalten, er agiere zu stark über die Medien. Tatsächlich waren bei fast jeder Fahrt der Cap Anamur Journalisten mit an Bord, die Bilder von dramatischen Rettungsaktionen und traumatisierten Flüchtlingen machten. Auch Neudeck selbst erinnerte unermüdlich mit zugespitzten Texten an den massenhaften Tod der Flüchtlinge. Aber gerade dies ermöglichte die spendenfinanzierten Hilfsaktionen. Denn mit Ausnahme einer einmaligen Finanzhilfe der Europäischen Gemeinschaft bekam die Cap Anamur bei ihrem Vietnam-Einsatz keinerlei Zuschüsse, während die Wohlfahrtsverbände und das Deutsche Rote Kreuz (DRK) mit Steuermitteln in Indochina agierten. Entsprechend deutlich wetterte Neudeck gegen das DRK, das er zu den bürokratischen Monstern zählte, die viel Geld verschlingen, aber kaum Menschenleben retten würden.

Neudeck verstand sich als anti-bürokratischer Aktionist, der den Kampf mit Institutionen wie dem Auswärtigen Amt und den Innenministerien aufnahm. Umgekehrt geizten auch die Diplomaten und Ministerialbeamten nicht mit boshaften Beschreibungen seiner Arbeit und versuchten immer wieder, ihn auszubremsen. Neudeck blieb jedoch kompromisslos. Sein fortgesetztes Engagement begründete er mit den vielen Kleinspendern, die ihm ein Mandat aufgetragen hätten. Zugleich machte auch das Auswärtige Amt unter Hans-Dietrich Genscher viele Zugeständnisse, nicht zuletzt, weil negative Medienkampagnen befürchtet wurden. Erst 1982 stoppte die Bundesregierung den Einsatz der Cap Anamur durch eine Verordnung, die die Aufnahme von geretteten Flüchtlingen aus gezielten Sucheinsätzen an die Zustimmung aller Bundesländer koppelte. Dennoch bemühte Neudeck sich auch in den folgenden Jahren um eine Fortführung der Rettungsaktionen in Indochina.

Neudecks Abneigung gegen die Bürokratie ging so weit, dass er kein Funktionär seiner eigenen Organisation werden wollte, sondern seine Anstellung als Redakteur beim Deutschlandfunk behielt. Was als „Ein Boot für Vietnam e.V.“ begann, entwickelte sich dennoch zu der dauerhaften professionellen Hilfsorganisation „Cap Anamur – Deutsche Not-Ärzte e.V.“, die in vielen Ländern auf nachhaltige Unterstützung setzt. Auch nach Neudecks Rückzug führte sie weltweite Hilfsprojekte durch, nun in einem kleinen Büro in Köln und geräuschloser.

Neudecks Einsatz steht für die Globalisierung der Bonner Republik – durch deutsches Engagement in der Welt und durch die Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen. Zugleich unterstrich seine Zentrale im Troisdorfer Reihenhaus die lokale Erdung der Globalisierung. Die vietnamesische Community in Westdeutschland verehrt Neudeck bis heute wie einen Übervater und viele Gerettete haben lange den Kontakt zu ihm gehalten. Zumindest am Hamburger Hafen erinnert ein kleines Denkmal an seine Rettungsaktionen in Indochina.

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Globalisierung am Wohnzimmertisch

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Unbürokratisches Engagement für Flüchtlinge: Zum Tod von Rupert Neudeck (1939-2016)

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