Ute Frevert Teil 5): Wie findet und formuliert man eine gute historische Frage?

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Ute Frevert bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil V

Wie findet und formuliert man eine gute historische Frage?
Diskussion am 28. November 2022 (online)

Eingangsstatement von Ute Frevert (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung)

Ich beginne mit zwei Vorbemerkungen, beide haben, wenig überraschend, etwas mit Gefühlen zu tun.

Vorbemerkung Nummer eins handelt auf den ersten Blick nicht von der Suche nach Fragen, sondern von der Suche nach Themen. Aber Themen und Fragen haben viel gemeinsam. Wer sich für ein Thema entscheidet, hat meistens auch schon eine Perspektive im Sinn, unter der das Thema für ihn oder sie interessant ist. Die Perspektive wiederum leitet direkt zur historischen Frage über.

Was also die Suche nach Themen betrifft, gibt es eine schöne Anekdote, die der Historiker Johan Huizinga zum Besten gegeben hat. Ein Kollege sei von einem Studenten um ein Thema gebeten worden. Darauf habe der Kollege, vermutlich in eher strengem Ton, erwidert: „Ebenso gut können Sie mich bitten, eine Frau für Sie zu suchen.“ Will heißen: Die Wahl eines Themas ist ebenso libidinös besetzt wie die Wahl eines Ehepartners (unter der Voraussetzung, dass letztere dem Gefühl und der Romantik folgt und nicht der messbaren Größe der Mitgift oder der sozialen Kontakte). Daraus folgt dann ohne weitere Umstände, dass man sein Thema selber wählt und es sich nicht vorschreiben lässt – wie auch arrangierte Ehen zu Huizingas Zeit meist der Vergangenheit angehörten.

Die zweite Vorbemerkung bezieht sich auf Sprachliches. Als ich mich 1971 für das Geschichtsstudium an der Uni Münster einschrieb, lernte ich bereits im Proseminar zwei Begriffe, die mich bis in den Schlaf hinein verfolgten: Erkenntnisinteresse war der eine, Fragestellung der andere. Ohne „Fragestellung“, das war klar, würde keine Hausarbeit Gnade vor dem Herrn finden. Sie musste, gemeinsam mit dem Erkenntnisinteresse, am Anfang genannt und luzide ausbuchstabiert werden. Daran hat sich, wenn man dem Teaser zu dieser Veranstaltung glaubt, bis heute nichts geändert.

Was sich aber vielleicht doch geändert hat – und ich wäre froh darüber -, ist der Wechsel vom Substantiv zur Verbform. Uns geht es heute darum zu ergründen, wie man eine Frage findet und formuliert – wir könnten auch sagen: wie man eine Frage stellt und warum man sie stellt. Das klingt geradezu aktivistisch: es sind WIR, die eine Frage stellen, finden, formulieren. Das in die Verbform gegossene Prädikat verweist auf das Subjekt, das etwas tut. Es bringt uns als Autoren und Autorinnen ins Spiel. Das Substantiv „Fragestellung“ hingegen lässt die Akteure verschwinden, es macht sich selber zum Subjekt und usurpiert dadurch eine Handlungsmacht, die ihm eigentlich nicht zukommt. Außerdem klingt das Wort außerordentlich hässlich - ich muss dabei, sicher eine déformation professionelle, immer an Stellungskriege denken.

Ich habe mich gefragt, wann dieses Wortungetüm in die deutsche Sprache eingewandert ist und wer dafür verantwortlich war. Vermutlich sind die Juristen mit ihrem Hang zur substantivischen Sprache schuld. Meyers Lexikon definierte den Begriff Anfang des 20. Jahrhunderts in peinlicher Redundanz als „Klarstellung der gestellten Frage“ vor Gericht und fügte hinzu, dass es auf diese präzise „Fragestellung“ nur die Antwort ja oder nein geben könnte.

Nach diesen Vorbemerkungen halte ich also fest, dass ich den Begriff „Fragestellung“ gern aus dem deutschen Wortschatz entfernen würde – interessanterweise gibt es weder im Englischen noch im Französischen, dort heißt es einfach „question“ oder „problem/problématique“. Und ich halte weiter fest, dass die Aufgabe, eine gute historische Frage zu finden und zu formulieren, sehr viel mit der Person des- oder derjenigen zu tun hat, die diese Frage stellt und beantworten möchte. Mit Huizinga könnte ich noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass nicht zuletzt Gefühle bei der Wahl des Themas und der Frage eine anleitende Rolle spielen.

So war es jedenfalls bei meiner ersten historischen Hausarbeit, die ich 1971 in Jürgen Kockas Münsteraner Proseminar „Deutschland im Ersten Weltkrieg“ schrieb. Mich leitete damals Empörung – Empörung über das, was ich als Verrat und Wortbrüchigkeit der Sozialdemokratie wahrnahm. Die Entscheidung, am 4. August 1914 für die Kriegskredite zu stimmen, widersprach aus meiner Sicht allen Prinzipien, die die Partei in den Jahrzehnten zuvor formuliert hatte und die, wiederum aus meiner Sicht, vollkommen richtig und berechtigt waren: „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen.“ Ich wies also in meiner Hausarbeit glasklar und quellenbasiert nach, warum die Entscheidung historisch falsch war, warum die Reformer und Revisionisten unrecht und die Linken recht hatten. Für die praktischen Umstände und Beweggründe der Entscheidung brachte ich wenig Verständnis auf, denn ich wollte ein ideologisches, ein politisches Tribunal veranstalten. Dass das nicht Aufgabe der Historikerin ist, machte mir Jürgen Kocka in seinem Kommentar unmissverständlich klar; die Note war dementsprechend.

Ich habe aus diesem ersten Fehlschlag enorm viel gelernt. Woran ich aber festgehalten habe, war der Gegenwartsbezug meiner historischen Fragen. Thema, Perspektive und Frage ergaben sich regelmäßig aus der Jetztzeit. Geschichte war und ist für mich nicht in erster Linie deshalb interessant, weil sie mich mit Fremdem, Unvertrautem konfrontiert. Auch das kommt vor. Aber wichtiger noch ist durchweg die Suche nach der Vorgeschichte des Gegenwärtigen. Das steht im Mittelpunkt, und dieser Mittelpunkt hat sehr viel mit meinen eigenen Weltsichten und politischen Erfahrungen zu tun.

Als ich 1977 meine Staatsexamensarbeit schrieb, wählte ich als Thema die weiblichen Angestellten in der Weimarer Republik. Sie waren zu ihrer Zeit Gegenstand intensiver kultursoziologischer Beobachtungen gewesen; spätere Sozialhistoriker hatten sie hingegen vollkommen links liegen gelassen. Da klaffte also die berühmt-berüchtigte „Forschungslücke“ und wartete darauf, gefüllt zu werden. Dazu aber bedurfte es der aufschließenden „Fragestellung“. Meine Frage lautete: Verhalf die Berufstätigkeit den jungen Frauen zur Emanzipation? Die Frage war einerseits schlicht, zu schlicht (was ich im Verlauf des Forschens und Schreibens bald merkte). Andererseits wurde über das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Emanzipation zu meiner Zeit heiß und kontrovers diskutiert. Ich erinnere mich an die zweite Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977, auf der sich zwei feministische Fraktionen gegenüberstanden: Die eine forderte die Hälfte aller qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen, die andere verlangte Lohn für Hausarbeit. Ich war also mit meiner historischen Frage mittendrin in den Auseinandersetzungen der Gegenwart, und das war auch meine erklärte Absicht. Historische Aufklärung nannte man das damals.

Dass ich für meine Examensarbeit eine sehr viel bessere Note bekam als für meine erste Hausarbeit, lag daran, dass ich inzwischen gelernt hatte, das Quellenmaterial zu kontextualisieren und ihm, mit Reinhart Koselleck gesprochen, ein Vetorecht einzuräumen. Ich habe schon erwähnt, dass die Frage Emanzipation durch Erwerbsarbeit zu schlicht war – geradezu eine juristische „Fragestellung“ im Nein/Ja-Modus. Das wurde mir rasch bewusst, aber ich konnte damit umgehen und passte die Frage so an das Material an, dass die Stimmen aus Weimar nicht von meiner eigenen Stimme übertönt wurden.

Ähnlich funktionierte es bei der Dissertation. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre stand die sogenannte Schulmedizin in der öffentlichen Kritik. Schwangere Frauen wollten sich lieber auf Hebammen als auf männliche Gynäkologen verlassen, man prangerte die ärztliche Arroganz gegenüber Patienten und alternativen Therapien an und vieles mehr. In diesem Kontext entwickelte ich das Thema der Doktorarbeit und die leitende Frage: Wie wurde Krankheit – und wessen Krankheit – zu einem politischen Problem, zu dessen Lösung sich Mediziner berufen fühlten? Welche Allianzen mussten geschmiedet werden, um alternative Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt zu delegitimieren und wegzuboxen? Die Frage klang und wirkte damals radikaler als heute; klassische Medizinhistoriker, aber auch fortschrittsgläubige Sozialhistoriker fanden sie irritierend und abwegig. Für sie war klar, dass die medizinische Wissenschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelte, besser und effektiver war als deren quacksalbernde Konkurrenz. Dass hier auch gezielte Machtstrategien am Werk waren, widersprach ihren Grundannahmen – die übrigens ebenso stark affektiv besetzt waren wie die meinen.

Affektiv besetzt war auch die Frage, die ich meiner Habilitationsschrift zugrunde legte: Was bewog bürgerliche Männer im langen 19. Jahrhundert, einander mit scharfen Waffen und unter Todes- und Tötungsgefahr im Duell zu begegnen? In der Frage schwang abgrundtiefes Unverständnis mit, gepaart mit einer gehörigen Portion Geringschätzung oder gar Verachtung. Das änderte sich im Verlauf der Recherche. Zugleich wurde ich sensibler gegenüber den Geschlechterstrukturen, die den Kampf um Ehre begleiteten und durch ihn gefestigt wurden. Was Männer als Ritterlichkeit ausgaben, war genau genommen ein Akt der Entmündigung von Frauen. Diese Entmündigung vollzog nicht nur das Duell, sondern auch das Recht, weit über das Verfallsdatum von Duellen hinaus. Damit war ich wieder bei einem Gegenwartsthema angelangt. Wie aktuell es nach wie vor war, merkte ich bei einem Vortrag vor den Alten Herren einer Burschenschaft. Als ich endete, bekam ich zwar, formvollendet, einen Blumenstrauß überreicht. Aber gleich darauf erhoben sich die Jüngeren im vollen Wichs und schmetterten mir eins ihrer Mensur-Lieder entgegen, nach dem Motto: Von dir lassen wir uns das nicht madig machen.

Ein letztes Beispiel: meine Arbeiten zur militärischen Dienstpflicht. Auch hier führten politische Kontroversen der 1990er Jahre die Feder. Was war dran an dem immer wieder zitierten Argument, die Wehrpflicht sei ein Kind der Demokratie? Gab es historisch einen Zusammenhang zwischen männlicher Dienstpflicht und männlichem Wahlrecht? Wie wirkten sich die militärischen Lehrjahre auf Selbstbild und Verhalten von Männern aus? War die Kaserne tatsächlich eine „Schule der Männlichkeit“? Auf diese Fragen eine Antwort zu finden, verhieß zugleich, eine Stimme in den aktuellen Debatten zu reklamieren – was ich immer gern getan habe.

Ich fasse zusammen:

  1. Fragen sind wichtig – nicht nur im Sinne der Sesamstraße („wer nicht fragt, bleibt dumm“), sondern auch und vor allem, weil sie die Suchbewegung im Forschungsprozess anleiten.
  2. Fragen verändern sich in diesem Prozess. Sie schließen ein Thema und das entsprechende Quellenmaterial auf, aber nicht ab. Idealiter passen sie sich diesem Material an, setzen sich mit ihm ins Gespräch, tauschen sich mit ihm aus.
  3. Ich habe meine Fragen fast immer in enger Berührung zu relevanten gesellschaftspolitischen Debatten der Gegenwart gefunden und formuliert.
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