Die für Mittel- und Osteuropa vielfach proklamierte „Rückkehr der Städte“ (Karl Schlögel) nach 1989 ist nicht nur ein Ergebnis wiedergewonnener kommunal- und verwaltungspolitischer Kompetenzen, sondern lässt sich auch als Folge einer weitgefächerten Aneignung und Reorganisation des Stadtraumes interpretieren. So besitzt der ostdeutsche Umbruch- und Transformationsprozess eine eigene räumlich-physische Dimension. Diese entfaltet jenseits von nationaler Grenzöffnung oder Neubestimmung territorialer Verwaltungseinheiten insbesondere in der Regional- und Lokalgeschichte als Handlungs- und Diskursgegenstand eine substantielle politische wie lebensweltliche Wirkmächtigkeit. Der Wandel umfasste, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, verschiedene Formen, Varianten und Stadien und korrespondierte mit der „eigentümlichen Prozessstruktur“ von Gesellschaftstransformationen und ihren kleineren politisch-gesellschaftlichen Transformationszyklen.
Öffnung, Inbesitznahme und Restaurierung
Grenz-, Kader-, Garnison-, Residenz-, Sport- und Filmstadt, Kirchenzentrum, Havelmetropole … Potsdam besaß eine Fülle von Zuschreibungen, wie sie nur wenige DDR-Bezirksstädte aufwiesen. Der Bedeutungswandel, den die Stadt nach dem Mauerfall im Eiltempo zu durchlaufen begann, war extrem: Aus der „roten Kaderstadt“ wurde die einzige sozialdemokratisch geführte Landeshauptstadt in Ostdeutschland, aus der überwachten Grenz- eine offene Kulturstadt. Diese Neudefinition war begleitet von einem radikal neuen Umgang mit dem urbanen Raum, der sich etappenweise vollzog. Bis 1989 hatte Potsdam den Ruf einer stabilen Herrschaftsbastion: Neben zahlreichen Plätzen sichtbarer SED-Herrschaftspräsenz kamen ebenso viele Orte hinzu, die für die Außenwelt hermetisch verriegelt waren. Das betraf in erster Linie die Objekte, die unter der Obhut und Kontrolle der Sicherheits- und Streitkräfte standen, aber eben nicht nur diese. Der aufmerksame Spaziergänger stieß allerorts auf blickdichte Wände oder blockierte Eingänge. Das galt für die Bezirksparteischule ebenso wie für das Gelände der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, die Hochschule für Film und Fernsehen oder die Anlagen des Armeesportklubs und der Kinder- und Jugendsportschule. In nahezu jeder kommunalen Dienststelle, jedem Betrieb oder jeder Ausbildungsstätte sorgten argwöhnische Pförtner*innen dafür, dass „Unbefugte“ nicht ohne Anmeldung und Begleitung ins Innere gelangten. Diese jahrzehntelange Praxis der Abschottung von Einrichtungen mit korporierten Sinnwelten nach innen und strenger Informationszensur nach außen prägte die Wahrnehmung der Potsdamer, die mit der kartografischen Unschärfe und Unvollständigkeit ihrer Umgebung umzugehen hatten. Potsdam war eine Stadt voller weißer Flecken.
Der politische Umbruch leitete dann eine fundamentale „Raumwende“ ein. Mit der Politisierung kirchlicher Räume, öffentlichen Protestveranstaltungen und schließlich der „Straßenrevolution“ im Herbst 1989 begannen sich die machtpolitischen Ortsverhältnisse radikal zu ändern. Die Potsdamer forderten energisch die Hoheit über ihren Stadtraum zurück. Im Dezember erzwangen Bürgerrechtler*innen Einlass in die MfS-Bezirksverwaltung und die zugehörige Haftanstalt; bald darauf rüttelte man an den Pforten des Armee-Sport-Klubs Vorwärts. Es folgten die „Eroberung“ von Dienststellen der SED, Blockparteien und Massenorganisationen, Stasi-Objekten einschließlich über 1000 konspirativer Wohnungen, militärischen und wirtschaftlichen Sperrgebieten – die Zahl der öffentlich zugänglich gemachten Räume und Zonen war erheblich. Erst mit dem Ende der blickdicht verinselten Stadtlandschaft konnte sich erneut eine transparente Stadt- und Lebenskultur entfalten.
Auch kulturhistorische Erinnerungsräume wurden restauriert, die mit den Jahrzehnten verloren gegangen waren. Zwar hatte die DDR einen Teil des preußischen Erbes gepflegt, andere historische Bauwerke und Areale hingegen waren verwahrlost. Diese selektive Pflege spiegelte auch das Weltbild der SED, das mit bewussten Blindflecken agiert hatte, die dann auch zu blinden Stellen im Stadtraum wurden – wie etwa die bewusste Überwucherung der Sichtachsen hin zum westlichen Teil der Potsdam-Berliner Park- und Kulturlandschaft von Sanssouci. Die wieder zusammenwachsenden „Schlösser und Parks von Potsdam und Berlin“ wurden im Dezember 1990 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen, als ein ausdrückliches Zeichen der Überwindung der deutschen Teilung. Das historische Areal um Schloss Cecilienhof, das einst die Kulisse der Spaltung Europas gebildet hatte, wurde nun zum sinnfälligen Symbol des Endes dieser Epoche.
Selbstverständigung, Neuverteilung und Umwidmung
Wie in zahlreichen anderen Städten der DDR hatte sich der oppositionelle Widerspruch auch in Potsdam zu einem erheblichen Teil an der verfehlten Baupolitik der SED und dem eklatanten Altstadtverfall entzündet. Mithin waren die Transformationsjahre – zum Teil bis heute – von dem Bestreben der Bürgerschaft geprägt, der Stadt „ihr Gesicht“ als Lebens- und Kommunikationsort wiederzugeben. Doch stockte oder scheiterte nun die Bewahrung und Sanierung der Altbausubstanz oftmals an den jahrelang ungeklärten Eigentumsfragen. Zahlreiche junge Leute besetzten leerstehende Wohnungen, Häuser und Grundstücke und schufen auf ihre Weise unbequeme Fakten, die die Potsdamer Stadtpolitik die gesamten 1990er Jahre beschäftigen sollten. Mit insgesamt rund 80 betroffenen Gebäuden und Grundstücken galt Potsdam als ein Zentrum der Hausbesetzerszene in dieser Zeit.
Der Streit um Abriss, Sanierung oder Neubau besaß zudem immer auch einen symbolischen Gehalt hinsichtlich der Beseitigung der DDR-Vergangenheit und spaltete die Stadtgesellschaft aufs Neue. Beispielhaft für die zähen Kontroversen war etwa die Suche nach einem neuen Haus für das Hans-Otto-Theater: Nachdem das „Betonmonster“ des noch von der SED initiierten Neubaus im Jahr 1990 abgerissen wurde, konnte die städtische Bühne erst nach Jahren der Improvisation am Alten Markt („Blechbüchse“) in den heutigen Standort an der Schiffbauergasse umziehen.
Doch änderte sich das Bild von Potsdam nicht allein nur auf symbolischer Ebene. Auch der ganz konkrete materielle Wert und Preis von Gebäuden und Grundstücken erfuhr eine grundlegende Neujustierung. Denn nach dem Mauerfall wandelte sich der Status von der gesicherten Grenzstadt zum attraktiven „Vorort“ Berlins. Der Griebnitzsee war nur noch eine halbe Autostunde vom Kurfürstendamm entfernt, viele Berliner entdeckten ihr Umland wieder. Potsdam wurde schnell zum umkämpften Terrain in- wie ausländischer Investoren. Der sich völlig neugestaltende Immobilienmarkt löste, in Verbindung mit den Ansprüchen ehemaliger Eigentümer, massive soziale Unsicherheiten aus. Die Eigentumsfrage als eines der schwierigsten Probleme des Prozesses der deutschen Einheit wurde gerade in Potsdam mit besonderer öffentlicher Schärfe ausgetragen, da sich hier aufgrund der anziehenden landschaftlichen und kulturhistorischen Lage viele potenziell besonders wertvolle Liegenschaften befanden. Zum anderen bewegte zahlreiche Gemüter bis weit in die 1990er Jahre hinein, dass bei der Neuverteilung des Eigentums im Zuge des sogenannten „Modrow-Gesetzes“ scheinbar erneut die Privilegierten des untergegangenen Systems bevorzugt wurden. Nachdem die Barrikaden des Kalten Krieges abgebaut waren, kam darüber hinaus das Unrecht der ersten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert wieder zum Vorschein. Bei Restitutionsprozessen im Potsdamer Umland ging es dementsprechend bis weit in die 2000er Jahre hinein nicht mehr nur um Kompensation für SED-Enteignungen, sondern um Wiedergutmachung für „Arisierungen“ durch die Nationalsozialisten.
Neben dem Eigentümerwechsel entfalteten auch Umwidmungen einen stadtprägenden Charakter. Zu den symbolisch aufgeladensten gehörte zweifellos die kommunalpolitische Übernahme des weithin sichtbaren ehemaligen Gebäudes der SED-Bezirks- und Kreisleitung, das von 1991 an für die nächsten 22 Jahre als Sitz des brandenburgischen Landtags diente. Eine der nachhaltigsten Restrukturierungen jedoch betraf das Areal des DEFA-Spielfilmstudios in Babelsberg. Nach der Auflösung der DEFA Mitte der 1990er Jahre wuchs an gleichem Ort ein neues Medienzentrum aus kleinen und mittleren Filmproduktionsfirmen und – seit 1992 – der Sendeanstalt des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg mit neuen Beschäftigten. Aus der Filmstadt entwickelte sich ein Medienstandort. Zugleich entstand auf dem ehemaligen Betriebsgelände der anfänglich umstrittene „Filmpark Babelsberg“ als Tourismusmagnet. Diese Veränderungen konservierten einerseits erfolgreich das Label der „Filmstadt“, doch bildete sich zugleich auch ein lokales Verlustnarrativ: Denn mit der DEFA war nicht nur ein kulturelles Markenzeichen Potsdams und der DDR verloren gegangen, sondern auch die sozial-städtische Anbindung ihrer ehemals über 2300 Angestellten, an deren Stelle nun variable Produktionsteams aus aller Welt traten.
Fazit
Potsdam erlebte seit 1989 nicht nur eine politisch-wirtschaftliche Neukartierung im überregionalen Raum, sondern auch eine Neuverortung seines städtischen Binnengefüges. Was 1989 mit der Einnahme der Straßen durch protestierende Bürger*innen begann, setzte sich mit erheblicher Eigendynamik in den Folgejahren fort: Die Neukonfiguration der „Übergangsgesellschaft“, die sich in ihrer Breite erst durch einen multiperspektivischen Blick auf den sozialen Kosmos einer Stadt erschließt, verband sich mit einer ebenso grundlegenden materiellen Raumwende. Im Fall Potsdams sorgt dies, wie der jahrelange Streit um die Wiederrichtung der Garnisonkirche zeigt, bis heute für kommunalpolitische Debatten.
Literatur
Thomas M. Bohn (Hg.), Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, München 2009.
Kerstin Brückweh, Unter ostdeutschen Dächern. Wohneigentum zwischen Enteignung, Aneignung und Neukonstituierung der Lebenswelt in der langen Geschichte der „Wende“, in: Thomas Großbölting/Christoph Lorke (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 187-212.
Raj Kollmorgen, Zwischen „nachholender Modernisierung“ und „doppeltem Umbruch“. Ostdeutschland und deutsche Einheit im Diskurs der Sozialwissenschaften, in: Ders./Frank Thomas Koch/Hans-Liudger Dienel (Hg.), Diskurse der deutschen Einheit, Wiesbaden 2011, S. 27–67.
Anke Kaprol-Gebhardt, Geben oder Nehmen. Zwei Jahrzehnte Rückübertragungsverfahren von Immobilien im Prozess der deutschen Wiedervereinigung am Beispiel der Region Berlin-Brandenburg, Berlin 2018.
Karl Schlögel, Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. München, Wien 2005.
Jakob Warnecke, „Wir können auch anders“. Entstehung, Wandel und Niedergang der Hausbesetzungen in Potsdam in den 1980er und 1990er Jahren, Berlin 2019.
Peter Ulrich Weiß / Jutta Braun, Im Riss zweier Epochen. Potsdam in den 1980er und frühen 1990er Jahren, Berlin 2017.
Die für Mittel- und Osteuropa vielfach proklamierte „Rückkehr der Städte“ (Karl Schlögel) nach 1989 ist nicht nur ein Ergebnis wiedergewonnener kommunal- und verwaltungspolitischer Kompetenzen, sondern lässt sich auch als Folge einer weitgefächerten Aneignung und Reorganisation des Stadtraumes interpretieren. So besitzt der ostdeutsche Umbruch- und Transformationsprozess eine eigene räumlich-physische Dimension. Diese entfaltet jenseits von nationaler Grenzöffnung oder Neubestimmung territorialer Verwaltungseinheiten insbesondere in der Regional- und Lokalgeschichte als Handlungs- und Diskursgegenstand eine substantielle politische wie lebensweltliche Wirkmächtigkeit. Der Wandel umfasste, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, verschiedene Formen, Varianten und Stadien und korrespondierte mit der „eigentümlichen Prozessstruktur“ von Gesellschaftstransformationen und ihren kleineren politisch-gesellschaftlichen Transformationszyklen.
Öffnung, Inbesitznahme und Restaurierung
Grenz-, Kader-, Garnison-, Residenz-, Sport- und Filmstadt, Kirchenzentrum, Havelmetropole … Potsdam besaß eine Fülle von Zuschreibungen, wie sie nur wenige DDR-Bezirksstädte aufwiesen. Der Bedeutungswandel, den die Stadt nach dem Mauerfall im Eiltempo zu durchlaufen begann, war extrem: Aus der „roten Kaderstadt“ wurde die einzige sozialdemokratisch geführte Landeshauptstadt in Ostdeutschland, aus der überwachten Grenz- eine offene Kulturstadt. Diese Neudefinition war begleitet von einem radikal neuen Umgang mit dem urbanen Raum, der sich etappenweise vollzog. Bis 1989 hatte Potsdam den Ruf einer stabilen Herrschaftsbastion: Neben zahlreichen Plätzen sichtbarer SED-Herrschaftspräsenz kamen ebenso viele Orte hinzu, die für die Außenwelt hermetisch verriegelt waren. Das betraf in erster Linie die Objekte, die unter der Obhut und Kontrolle der Sicherheits- und Streitkräfte standen, aber eben nicht nur diese. Der aufmerksame Spaziergänger stieß allerorts auf blickdichte Wände oder blockierte Eingänge. Das galt für die Bezirksparteischule ebenso wie für das Gelände der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, die Hochschule für Film und Fernsehen oder die Anlagen des Armeesportklubs und der Kinder- und Jugendsportschule. In nahezu jeder kommunalen Dienststelle, jedem Betrieb oder jeder Ausbildungsstätte sorgten argwöhnische Pförtner*innen dafür, dass „Unbefugte“ nicht ohne Anmeldung und Begleitung ins Innere gelangten. Diese jahrzehntelange Praxis der Abschottung von Einrichtungen mit korporierten Sinnwelten nach innen und strenger Informationszensur nach außen prägte die Wahrnehmung der Potsdamer, die mit der kartografischen Unschärfe und Unvollständigkeit ihrer Umgebung umzugehen hatten. Potsdam war eine Stadt voller weißer Flecken.
Der politische Umbruch leitete dann eine fundamentale „Raumwende“ ein. Mit der Politisierung kirchlicher Räume, öffentlichen Protestveranstaltungen und schließlich der „Straßenrevolution“ im Herbst 1989 begannen sich die machtpolitischen Ortsverhältnisse radikal zu ändern. Die Potsdamer forderten energisch die Hoheit über ihren Stadtraum zurück. Im Dezember erzwangen Bürgerrechtler*innen Einlass in die MfS-Bezirksverwaltung und die zugehörige Haftanstalt; bald darauf rüttelte man an den Pforten des Armee-Sport-Klubs Vorwärts. Es folgten die „Eroberung“ von Dienststellen der SED, Blockparteien und Massenorganisationen, Stasi-Objekten einschließlich über 1000 konspirativer Wohnungen, militärischen und wirtschaftlichen Sperrgebieten – die Zahl der öffentlich zugänglich gemachten Räume und Zonen war erheblich. Erst mit dem Ende der blickdicht verinselten Stadtlandschaft konnte sich erneut eine transparente Stadt- und Lebenskultur entfalten.
Auch kulturhistorische Erinnerungsräume wurden restauriert, die mit den Jahrzehnten verloren gegangen waren. Zwar hatte die DDR einen Teil des preußischen Erbes gepflegt, andere historische Bauwerke und Areale hingegen waren verwahrlost. Diese selektive Pflege spiegelte auch das Weltbild der SED, das mit bewussten Blindflecken agiert hatte, die dann auch zu blinden Stellen im Stadtraum wurden – wie etwa die bewusste Überwucherung der Sichtachsen hin zum westlichen Teil der Potsdam-Berliner Park- und Kulturlandschaft von Sanssouci. Die wieder zusammenwachsenden „Schlösser und Parks von Potsdam und Berlin“ wurden im Dezember 1990 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen, als ein ausdrückliches Zeichen der Überwindung der deutschen Teilung. Das historische Areal um Schloss Cecilienhof, das einst die Kulisse der Spaltung Europas gebildet hatte, wurde nun zum sinnfälligen Symbol des Endes dieser Epoche.
Selbstverständigung, Neuverteilung und Umwidmung
Wie in zahlreichen anderen Städten der DDR hatte sich der oppositionelle Widerspruch auch in Potsdam zu einem erheblichen Teil an der verfehlten Baupolitik der SED und dem eklatanten Altstadtverfall entzündet. Mithin waren die Transformationsjahre – zum Teil bis heute – von dem Bestreben der Bürgerschaft geprägt, der Stadt „ihr Gesicht“ als Lebens- und Kommunikationsort wiederzugeben. Doch stockte oder scheiterte nun die Bewahrung und Sanierung der Altbausubstanz oftmals an den jahrelang ungeklärten Eigentumsfragen. Zahlreiche junge Leute besetzten leerstehende Wohnungen, Häuser und Grundstücke und schufen auf ihre Weise unbequeme Fakten, die die Potsdamer Stadtpolitik die gesamten 1990er Jahre beschäftigen sollten. Mit insgesamt rund 80 betroffenen Gebäuden und Grundstücken galt Potsdam als ein Zentrum der Hausbesetzerszene in dieser Zeit.
Der Streit um Abriss, Sanierung oder Neubau besaß zudem immer auch einen symbolischen Gehalt hinsichtlich der Beseitigung der DDR-Vergangenheit und spaltete die Stadtgesellschaft aufs Neue. Beispielhaft für die zähen Kontroversen war etwa die Suche nach einem neuen Haus für das Hans-Otto-Theater: Nachdem das „Betonmonster“ des noch von der SED initiierten Neubaus im Jahr 1990 abgerissen wurde, konnte die städtische Bühne erst nach Jahren der Improvisation am Alten Markt („Blechbüchse“) in den heutigen Standort an der Schiffbauergasse umziehen.
Doch änderte sich das Bild von Potsdam nicht allein nur auf symbolischer Ebene. Auch der ganz konkrete materielle Wert und Preis von Gebäuden und Grundstücken erfuhr eine grundlegende Neujustierung. Denn nach dem Mauerfall wandelte sich der Status von der gesicherten Grenzstadt zum attraktiven „Vorort“ Berlins. Der Griebnitzsee war nur noch eine halbe Autostunde vom Kurfürstendamm entfernt, viele Berliner entdeckten ihr Umland wieder. Potsdam wurde schnell zum umkämpften Terrain in- wie ausländischer Investoren. Der sich völlig neugestaltende Immobilienmarkt löste, in Verbindung mit den Ansprüchen ehemaliger Eigentümer, massive soziale Unsicherheiten aus. Die Eigentumsfrage als eines der schwierigsten Probleme des Prozesses der deutschen Einheit wurde gerade in Potsdam mit besonderer öffentlicher Schärfe ausgetragen, da sich hier aufgrund der anziehenden landschaftlichen und kulturhistorischen Lage viele potenziell besonders wertvolle Liegenschaften befanden. Zum anderen bewegte zahlreiche Gemüter bis weit in die 1990er Jahre hinein, dass bei der Neuverteilung des Eigentums im Zuge des sogenannten „Modrow-Gesetzes“ scheinbar erneut die Privilegierten des untergegangenen Systems bevorzugt wurden. Nachdem die Barrikaden des Kalten Krieges abgebaut waren, kam darüber hinaus das Unrecht der ersten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert wieder zum Vorschein. Bei Restitutionsprozessen im Potsdamer Umland ging es dementsprechend bis weit in die 2000er Jahre hinein nicht mehr nur um Kompensation für SED-Enteignungen, sondern um Wiedergutmachung für „Arisierungen“ durch die Nationalsozialisten.
Neben dem Eigentümerwechsel entfalteten auch Umwidmungen einen stadtprägenden Charakter. Zu den symbolisch aufgeladensten gehörte zweifellos die kommunalpolitische Übernahme des weithin sichtbaren ehemaligen Gebäudes der SED-Bezirks- und Kreisleitung, das von 1991 an für die nächsten 22 Jahre als Sitz des brandenburgischen Landtags diente. Eine der nachhaltigsten Restrukturierungen jedoch betraf das Areal des DEFA-Spielfilmstudios in Babelsberg. Nach der Auflösung der DEFA Mitte der 1990er Jahre wuchs an gleichem Ort ein neues Medienzentrum aus kleinen und mittleren Filmproduktionsfirmen und – seit 1992 – der Sendeanstalt des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg mit neuen Beschäftigten. Aus der Filmstadt entwickelte sich ein Medienstandort. Zugleich entstand auf dem ehemaligen Betriebsgelände der anfänglich umstrittene „Filmpark Babelsberg“ als Tourismusmagnet. Diese Veränderungen konservierten einerseits erfolgreich das Label der „Filmstadt“, doch bildete sich zugleich auch ein lokales Verlustnarrativ: Denn mit der DEFA war nicht nur ein kulturelles Markenzeichen Potsdams und der DDR verloren gegangen, sondern auch die sozial-städtische Anbindung ihrer ehemals über 2300 Angestellten, an deren Stelle nun variable Produktionsteams aus aller Welt traten.
Fazit
Potsdam erlebte seit 1989 nicht nur eine politisch-wirtschaftliche Neukartierung im überregionalen Raum, sondern auch eine Neuverortung seines städtischen Binnengefüges. Was 1989 mit der Einnahme der Straßen durch protestierende Bürger*innen begann, setzte sich mit erheblicher Eigendynamik in den Folgejahren fort: Die Neukonfiguration der „Übergangsgesellschaft“, die sich in ihrer Breite erst durch einen multiperspektivischen Blick auf den sozialen Kosmos einer Stadt erschließt, verband sich mit einer ebenso grundlegenden materiellen Raumwende. Im Fall Potsdams sorgt dies, wie der jahrelange Streit um die Wiederrichtung der Garnisonkirche zeigt, bis heute für kommunalpolitische Debatten.
Literatur
Thomas M. Bohn (Hg.), Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, München 2009.
Kerstin Brückweh, Unter ostdeutschen Dächern. Wohneigentum zwischen Enteignung, Aneignung und Neukonstituierung der Lebenswelt in der langen Geschichte der „Wende“, in: Thomas Großbölting/Christoph Lorke (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 187-212.
Raj Kollmorgen, Zwischen „nachholender Modernisierung“ und „doppeltem Umbruch“. Ostdeutschland und deutsche Einheit im Diskurs der Sozialwissenschaften, in: Ders./Frank Thomas Koch/Hans-Liudger Dienel (Hg.), Diskurse der deutschen Einheit, Wiesbaden 2011, S. 27–67.
Anke Kaprol-Gebhardt, Geben oder Nehmen. Zwei Jahrzehnte Rückübertragungsverfahren von Immobilien im Prozess der deutschen Wiedervereinigung am Beispiel der Region Berlin-Brandenburg, Berlin 2018.
Karl Schlögel, Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. München, Wien 2005.
Jakob Warnecke, „Wir können auch anders“. Entstehung, Wandel und Niedergang der Hausbesetzungen in Potsdam in den 1980er und 1990er Jahren, Berlin 2019.
Peter Ulrich Weiß / Jutta Braun, Im Riss zweier Epochen. Potsdam in den 1980er und frühen 1990er Jahren, Berlin 2017.
Topografie und Transformation: Die Neuverortung des Potsdamer Stadtraums seit 1989