Steven Spielberg der „wohl wirkungsmächtigste Jude Hollywoods“[1], hat einen Politthriller gedreht, der mit dem Attentat auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 beginnt und an dessen Ende der an den eigenen moralischen Ansprüchen zerbrochene Mossad-Agent Avner Kauffmann seinem Land den Rücken kehrt, um nach Brooklyn zu ziehen. Dazwischen werden neun der elf Drahtzieher von München durch ein von Avner geführtes fünfköpfiges Kommando des israelischen Geheimdienstes lokalisiert und ermordet. Avner (Eric Bana) übernimmt diese Aufgabe mit jugendlichem Idealismus: Er ist überzeugt, dass der Terror gegen Israel und Israelis weltweit nur gestoppt werden kann, wenn man ihn – notfalls mit brutalen Maßnahmen – im Keim erstickt. Er lässt deshalb seine hochschwangere Frau zurück und nimmt im Auftrag seiner Regierung die Spur der Attentäter in Europa auf. Als Vermittler dienen dabei zwei junge Deutsche aus der linksradikalen Szene (Anlass für einen skurrilen Kurzauftritt von Moritz Bleibtreu und Meret Becker) und ein französischer Informant, der Avner sein Wissen über die Identität und den Aufenthaltsort der Terroristen teuer verkauft.
Bald zieht eine Reihe von Bombenattentaten über die Leinwand, denen ein Palästinenser nach dem anderen zum Opfer fällt. Gerade fragt sich der Zuschauer, in welchem Zusammenhang die politthrillermäßig und ästhetisch ausgefeilt inszenierten Morde noch mit den Ereignissen von München stehen; gerade fragt er sich, wie lang der Film noch dauern wird, wenn die Agenten für jede der elf Zielpersonen auf ihrer Liste 15 Minuten brauchen – da nimmt der Film, rückblickend nicht wirklich überraschend, eine Wende. Nachdem mehrere seiner eigenen Mitstreiter ums Leben gekommen sind, beginnt Avner, am Sinn seiner Mission zu zweifeln. Seine Rechnung (und die seiner Regierung unter Golda Meir) geht offensichtlich nicht auf. Im Gegenteil: Das Karussell des Todes beschleunigt sich zusehends, und je unwahrscheinlicher und unvertretbarer der Ausstieg aus der Dialektik des Terrors angesichts der bereits erbrachten Opfer wird, desto dringlicher erscheint er dem unterdessen zum Vater einer Tochter gewordenen Avner. Zornig und frustriert steigt er aus dem Unternehmen „Vergeltung für München“ aus – nicht zuletzt, weil er fürchtet, dass sein französischer Mittelsmann möglicherweise auch Informationen über ihn selbst verkaufen könne. Am Ende des Films steht Avner vor der Skyline von New York mit den soeben fertig gebauten Twin Towers. Die Moral der Geschichte ist denkbar einfach: Gewalt erzeugt Gegengewalt, solange nicht eine Seite den Mut aufbringt auszusteigen. Aber ist die Moral wirklich so einfach?
Am 23. Dezember 2005 (gerade noch rechtzeitig für eine Oscar-Nominierung) lief Steven Spielbergs Politthriller „München“ in den amerikanischen Kinos, am 26. Januar 2006 in Deutschland an. In den ersten zehn Wochen spielte der Film „nur“ 46 Millionen US-Dollar ein und blieb damit weit hinter Spielbergs „War of the Worlds“ zurück, der mit 232 Millionen US-Dollar im gleichen Zeitraum die fünffache Summe einbrachte. Dennoch hat der Film (über dessen Inhalt Spielberg sich im Vorfeld äußerst medienwirksam ausgeschwiegen hatte) eine Kontroverse um historische Fakten und vor allem um politische Haltungen zum Nahostkonflikt ausgelöst – eine Kontroverse indes, die nur in den Vereinigten Staaten eine wirkliche Kontroverse und für die der Film kaum mehr als ein Anlass war.
In bekannter Weise hat Spielbergs Thriller die jüdisch-amerikanische Öffentlichkeit in zwei Lager gespalten, von denen eins auf die militärische Stärke und moralische Überlegenheit der israelischen Demokratie pocht, während das andere die Einhaltung der Menschenrechte, Verhandlungen mit den Palästinensern und ein Abrücken von zionistischer Kernideologie zugunsten von Pluralisierung und Liberalisierung des Staates einfordert. Aus der Perspektive der ersten Gruppe hat Spielberg Israel verraten, indem er die terroristische Gewalt der Attentäter von München mit der Gegengewalt der Mossadagenten verglich. „Spielberg is no friend of Israel. Spielberg is no friend of truth“, schreibt Jack Engelhard[2], und Mimi Weinberg formuliert es noch polemischer: „With Jews like Spielberg we don’t need enemies”.[3] Indes: Nicht alle Kritik aus dem konservativen Lager bewegt sich auf diesem Niveau. Man muss der Argumentation von Leon Wieseltier, derzufolge palästinensische Terroristen vorsätzlich Zivilisten töten, während zivile Opfer bei den Israelis nur als Kollateralschaden der Terrorbekämpfung in Kauf genommen werden, nicht zustimmen; auch wirkt der gegen Spielberg und seinen Drehbuchautoren Tony Kushner gerichtete Vorwurf, sie hätten „kein Herz für Israel“ und der Zionismus sei für sie nichts als „Anti-Antisemitismus“, allzu selbstgerecht. Gleichwohl gibt Wieseltiers Argument zu denken, dass auch die progressiven amerikanischen Juden sich ein Bild von Israel machen, das vorrangig von Macht und Gewalt dominiert ist: „The progressive Jewish playwright Tony Kushner’s image of Israel oddly brings to mind the reactionary Jewish playwright David Mamet’s image of Israel: For both of them, its essence is power.“[4]
Vor allem aber kritisiert Wieseltier in der Zeitschrift „The New Republic“ Spielbergs pazifistische Grundhaltung, die für ihn der einseitigen Parteinahme für die palästinensische Seite gleichkommt. Da aber auch Wieseltier natürlich keine Lösung für den Nahostkonflikt parat hat, bleibt diese Kritik merkwürdig steril – zumal es hier offensichtlich nicht nur um eine Verteidigung Israels, sondern auch um eine Verteidigung von George W. Bushs War Against Terror geht, der sich längst in den gleichen Aporien verfangen hat wie der israelische Kampf gegen den palästinensischen Terrorismus. So erscheint die Kritik an Spielberg als Ablenkmanöver, in dessen Rahmen Wieseltier immerhin zugibt, dass Spielbergs oberste Priorität ohnehin immer dem Film als Medium gegolten hat: „The only side that Steven Spielberg ever takes is the side of the movies.“[5]
Das progressive jüdische Lager in den Vereinigten Staaten stellt sich indes hinter Spielberg und seinen Film; im Vordergrund steht hier die Mahnung, dass ein demokratischer Staat sich andauernde Menschenrechtsverletzungen, die Tötung unschuldiger Zivilisten und die Aufrechterhaltung des Besatzungsstatus nicht leisten könne, ohne dabei die eigene Moral zu korrumpieren und die kollektive Psyche seiner Bürger nachhaltig zu verletzen (samt und sonders Argumente, die die israelische Linke seit fast vier Jahrzehnten vertritt). Innerhalb dieses Lagers wurde gar die Hoffnung geäußert, der Film könne langfristig zu einer Lösung des Nahostkonflikts beitragen.[6] Eine solche Haltung lässt sich leicht als naiv verwerfen; indes ist der Gedanke kaum von der Hand zu weisen, dass Filme unsere Wahrnehmung der Realität verändern können – und damit letztlich auch die Realität selbst. So merkt der Jerusalemer Historiker Moshe Zimmermann – selbst wohl eher Taube als Falke – an, dass der Film in Israel „als Auslöser für eine hitzige und nachhaltige Debatte“ zwar untauglich sei[7], dass das seit der Produktion von „Exodus“ traditionell positive Israelbild im Hollywoodfilm jedoch durchaus unter Spielbergs neuester Produktion leiden könnte.
Dessen ungeachtet scheint die Diskrepanz zwischen einem Film, der Fragen stellt, und einer Realität, in der täglich brutale Fakten geschaffen werden, in Israel so groß zu sein, dass der Film eindeutig als historische Fiktion wahrgenommen wird. Dies gilt im Prinzip auch für die Bundesrepublik; doch anders als in Israel herrscht hier eine so große Distanz zur Realität all-täglicher terroristischer Gewalt, dass es vergleichsweise leicht fällt, Spielberg seine Botschaft ebenso kritik- wie teilnahmslos abzukaufen. Die Mehrheit der deutschen Filmkritiker verließ das Kino mit Schulterzucken und verwies darauf, dass Spielbergs Kameramann Janusz Kaminski wieder einmal brillante Bilder produziert, dass der Film wunderbar die Stimmung der siebziger Jahre eingefangen habe und dass die Geschichte so natürlich nicht passiert sei, weil ein ehemaliger Mossadagent naturgemäß nie erzähle, „wie es eigentlich gewesen“ sei. Damit wird der Film zu den Akten gelegt.
Indes: Diesen Film zu den Akten legen zu können ist ein Luxus, der von den meisten Kritikern im bisher vom internationalen Terrorismus verschonten Deutschland kaum mitreflektiert wird. Von Bedeutung sind nicht Spielbergs Antworten, sondern die Fragen, die er stellt: Wie kann man aus der Erkenntnis, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt, eine Handlungsmaxime ableiten, die man vor nachwachsenden Generationen verantworten kann? Diese Frage, die im Zeitalter der Globalisierung von Gewalt und Gegengewalt täglich dringlicher wird, bleibt in „München“ unbeantwortet. Der Filmheld Avner wählt einen individuellen „Last Exit to Brooklyn“, doch dass das Problem dadurch nicht gelöst wird, wissen wir besser als er.
München, Originaltitel: Munich, Regie: Steven Spielberg, Drehbuch: Tony Kushne/Eric Roth, nach dem Buch „Vengeance“ von George Jonas, Kamera: Janusz Kaminski, Schnitt: Michael Kahn, Musik: John William, Darsteller: Eric Bana, Daniel Craig, Geoffrey Rush, Mathieu Kassovitz, Ciarán Hinds, Hanns Zischler, Mathieu Amalric, Michael Lonsdale u.a., USA 2005, 185 Minuten.
[1] Jan Schulz-Ojala, Schatten der Wahrheit. Ein Tag im September: Steven Spielbergs Politthriller „München“, in: Der Tagesspiegel, 21.1.2006.
[2] Jack Engelhard, Spielberg is no friend of Israel, in: y net.com (30.3.2006).
[3] Zitiert nach: Ewen MacAskill and Ian Black, Munich: Mossad breaks cover, in: The Guardian, 26.1.2006 (30.6.2011).
[4] Leon Wieseltier, Hits, in: The New Republic, 19.12.2005.
[5] Ebd.
[6] Allison Benedikt, Movie Review: Munich, in: Chicago Tribune, 22.12.2005.
[7] Moshe Zimmermann, Filme-Macher einer Nation, in: Berliner Zeitung, 20.1.2006.
Eine historische Fiktion, keine fiktive Historie
Spielberg stellt in „München“ Fragen, die keiner beantworten kann