„Je tiefer man in diesen Forschungsbereich einsteigt, umso größer wird er“

Prof. Dr. Josef Foschepoth vom Historischen Seminar der Universität Freiburg hat eine vielbeachtete Studie veröffentlicht: „Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik“ . Die Monographie erschien im Herbst 2012 bei Vandenhoeck & Ruprecht und liegt inzwischen in 2. Auflage vor.[1] Dieses Buch kann den Blick auf die west- und die gesamtdeutsche Zeitgeschichte in mehrfacher Hinsicht verändern – wir wollten gern mehr darüber erfahren. Das Interview führten Jan-Holger Kirsch (JHK) und Achim Saupe (AS) am 9. April 2013 in der Humboldt-Universität zu Berlin.

Letzte Überprüfung der in diesem Beitrag enthaltenen Links: 17. Juni 2013

 

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JHK: Das enorme Ausmaß der millionenfachen Post- und Telefonüberwachung, das Sie in Ihrem Buch beschreiben, war bisher nicht bekannt. Im Grundgesetz wird das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis als „unverletzlich“ bezeichnet (Artikel 10). Am Beginn Ihrer Monographie sprechen Sie vom „Staunen“ darüber, welche Dokumente der Überwachung Sie in den Archiven dennoch gefunden haben. Vielleicht können Sie zum Einstieg kurz skizzieren, wie Sie auf das Thema gestoßen sind.

Foschepoth: Frei nach Aristoteles ist das Staunen darüber, dass die Dinge so sind, wie sie sind, der Anfang jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Bei meinen Forschungen kam mir dieser Satz immer wieder in den Sinn. Er bringt den Reiz wissenschaftlichen Arbeitens sehr schön auf den Punkt. Offenheit für die Dinge, wie sie sind, versetzt einen ins Staunen. Staunen erzeugt Fragen. Ohne neue Fragen keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse! In meinem Fall war das eine Akte im Bundesarchiv, die einen überraschenden Titel trug: „Postzensur“. Natürlich dachte ich gleich: „Aha, eine Akte über die Vorgänge in der DDR. Mal sehen, was die Bundesregierung darüber wusste.“ Umso größer war das Erstaunen, als die Akte das Protokoll einer Besprechung von Spitzenbeamten aus dem Bundeskanzleramt, Auswärtigen Amt, Postministerium, Finanzministerium und Ministerium für gesamtdeutsche Fragen enthielt. Die Beamten machten sich Gedanken darüber, wie mit der wachsenden Menge von Postsendungen aus der DDR umzugehen sei, die offenbar Propagandamaterial enthielt. Im Ergebnis sollte die Polizei „ohne Verursachung weiterer Kosten das angefallene Propagandamaterial an Ort und Stelle durch Verbrennung vernichten“.[2] Das war so klar und deutlich formuliert, dass es für mich der entscheidende Impuls war, mich mit der Frage der Postzensur, genauer der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs in der Bundesrepublik, zu beschäftigen. So eröffnete sich ein neues Forschungsfeld, das mich immer wieder ins Staunen versetzte.

JHK: Sie haben rasch gemerkt, dass der Anfangsfund kein Einzelfall war?

Foschepoth: Richtig. Ich hatte immer geglaubt: „Jetzt liest du weiter, irgendwann muss die Geschichte doch zu Ende sein. Das könnte ein schönes Histörchen werden, vielleicht für einen kleinen Aufsatz oder so.“ Aber nein, es ging weiter und weiter: 1955, 1968, 1989 und 1990. Dann habe ich aufgehört – auch wenn es im Grunde eine unendliche Geschichte ist.

Die Überwachungsmaßnahmen umfassten eine Größenordnung, die man sich kaum vorstellen kann – und die vor allem mit dem Grundgesetz (GG) nicht vereinbar war. Schließlich heißt es in Artikel 10: „Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden.“[3]

JHK: Sie geben in Ihrem Buch an verschiedenen Stellen Hinweise, dass Medien wie Der Spiegel von Zeit zu Zeit durchaus auf Verletzungen des Post- und Fernmeldegeheimnisses hingewiesen haben. Wie ist es dann zu erklären, dass eine breitere Erforschung und Dokumentation des Themas erst jetzt stattgefunden hat?

Foschepoth: Ja, das ist eine interessante, aber auch komplexe Frage. Ich habe Hinweise auf derartige Berichte in den Medien bewusst eingebaut, weil es einige sehr interessante Beiträge gab, etwa im Spiegel, die keinerlei Wirkung hatten. Einerseits hing dies damit zusammen, dass das Post- und Fernmeldegeheimnis, wie Meinungsumfragen aus der damaligen Zeit belegen, in der öffentlichen Wahrnehmung der Grundrechte einen geringeren Stellenwert hatte als etwa die Meinungsfreiheit.

Andererseits war die Bundesregierung – egal zu welcher Zeit – bestrebt, das Thema möglichst aus einer öffentlichen Diskussion und damit auch aus einer größeren parlamentarischen Debatte herauszuhalten. Debattiert wurde, wenn überhaupt, in vertraulichen Ausschusssitzungen des Bundestags, etwa des Verfassungs- oder des Rechtsausschusses. Insofern wirkten auch die Parlamentarier an der Tabuisierung des Themas mit.

Die Tabuisierung der Post- und Fernmeldeüberwachung bezog sich allerdings nur auf eventuelle Aktivitäten der Bundesregierung. Mehrfach betonten Politiker, dass es so etwas in der Bundesrepublik nicht gebe. 1956 sagte Staatssekretär Walter Hallstein kurz und knapp im Bundestag: „Durch deutsche Stellen wird der Post- und Fernmeldeverkehr nicht überwacht.“[4] 1962 äußerte Bundespostminister Richard Stücklen: „Er könne reinsten Gewissens erklären, dass die Deutsche Bundespost nicht einen einzigen Fall einer Indiskretion oder des Verrats postalischer Geheimnisse kenne in den letzten 15 Jahren.“[5]

Die Zielrichtung war klar. Wenn jemand so etwas machte, dann die DDR oder die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Wobei man über Art und Umfang der Überwachungsmaßnahmen der drei Westmächte der gebotenen Geheimhaltung wegen in der Öffentlichkeit ebenfalls nicht reden konnte bzw. wollte.

AS: In der frühen Nachkriegszeit lagen die Entscheidungskompetenzen zunächst vor allem bei den Alliierten; später gingen sie dann schrittweise an die Deutschen über. Wie ist die Rolle der westdeutschen Parteien beim Thema „Überwachung“ zu bewerten?

Foschepoth: Fangen wir bei den Alliierten an: Dass die drei Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich den Post- und Fernmeldeverkehr in der Bundesrepublik überwachten, war seit Beginn der Bundesrepublik bekannt. Wenn im Bundestag das Thema Überwachung debattiert wurde, dann ging es, wie gesagt, immer um die Überwachung durch die Alliierten. Die galt als Knechtung, als Verletzung der Verfassung und der Souveränität der Deutschen, zumindest im Westen Deutschlands. Dies betrifft insbesondere die 1950er- und 1960er-Jahre. Parteiübergreifend wurde darauf hingewiesen, dass die Überwachung der Besatzungsmächte gegen das Grundgesetz verstoße, das die Siegermächte den Deutschen selbst verordnet hätten. Solche Positionen wurden lautstark im Parlament vertreten.

„Überwachung“ war ein Problem, das man mit den Alliierten verband und welches allein im Kontext des westdeutschen Souveränitätsstrebens thematisiert wurde. Die Alliierten waren durchaus bereit, ihre eigenen Überwachungsmaßnahmen zu beenden – allerdings unter der Voraussetzung, dass die Bundesregierung durch ein entsprechendes Gesetz in die Lage versetzt würde, die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs im gleichen Umfang wie bisher fortzusetzen. Hier lag die eigentliche politische Brisanz der gesamten Überwachungsproblematik. Als Frontstaat des Kalten Kriegs sollte die Bundesrepublik zum zentralen Überwachungsstaat des westlichen Bündnisses werden und dies dauerhaft bleiben. Der Weg dahin führte vom Sieger- und Besatzungsrecht über Vertrags- und Völkerrecht zu deutschem Recht und Verfassungsrecht, das jede Bundesregierung binden würde, auch künftig alle Überwachungswünsche der Drei Mächte zu erfüllen. Dies erklärt, warum sich Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) von 1953 bis 1961 konstant weigerte, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Den politischen Preis dafür wollte er nicht bezahlen.

AS: Wie ging die SPD mit diesem Problem um, als sie ab 1966 zusammen mit der CDU/CSU die Bundesregierung stellte?

Foschepoth: Es gab in den 1960er-Jahren eine Art Verständigungspolitik, eine „Politik der Gemeinsamkeit“ zwischen CDU und SPD. Schon nach der Spiegel-Affäre von 1962 zeigten sich Ansätze zur Vorbereitung einer Großen Koalition. Zumindest bei Teilen der SPD war die Bereitschaft dafür sehr hoch. Die Frage war jedoch, mit welchen Forderungen und Angeboten man in die Koalitionsverhandlungen mit der CDU gehen sollte, die ja auch einen Normbruch bedeuteten – wenn man sich die Adenauer-CDU vor Augen führte. Hierzu zählte nicht nur die Verwirklichung bestimmter sozialer Forderungen, sondern ebenso die Beseitigung der politischen Altlasten der Adenauerzeit. Die SPD wollte diese vom Tisch bekommen. Herbert Wehner formulierte das so: „Die Partei darf in den Augen der Bevölkerung nicht nur für soziale Verbesserungen da sein, sondern sie muss bereit sein, auch für politisch schwerwiegende Aufgaben einzustehen, wenn es notwendig ist.“[6]

JHK: „Weg vom Tisch“ hieß, gerade die Notstandsgesetze zu machen?

Foschepoth: Genau. Die SPD betonte, sie sei der geeignete Partner dafür. Selbst Adenauer warb jetzt für eine Große Koalition. Auf dem Bonner CDU-Parteitag im März 1966 betonte er, es gebe so viel zu tun, dass sogar die Damen und Herren von der SPD sich nun dazu bekennen müssten, die Probleme zu lösen. Der Weg zur ersten Großen Koalition war geebnet.

JHK: Da entstand dann eine Lücke, in die die FDP vorstoßen konnte. Der Wandel der FDP zu einer dezidiert freiheitlichen, bürgerrechtlichen Partei hängt vielleicht auch mit dem Themenfeld der Überwachung zusammen.

Foschepoth: Eine Schlüsselstellung kam schon der Abhöraffäre 1963/64 zu, die ich in meinem Buch ausführlich schildere (Kap. 4). Die passte weder der SPD in den Kram noch der CDU. Die SPD hätte nun, zumal so kurz nach der Spiegel-Affäre, stärker auf Konfrontation zur CDU gehen müssen. Die SPD hat sich darauf jedoch nur widerwillig eingelassen – wohl auch nur deshalb, weil die Presse damals eingegriffen hat. Durch diesen öffentlichen Druck sah sich die SPD genötigt, einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu fordern. Aber Hermann Schmitt-Vockenhausen als dessen Vorsitzender hat immer versucht, das Ganze klein zu halten. Man wollte es nicht zu einem öffentlichen Eklat kommen lassen und lieber hinter den Kulissen nach Lösungen suchen. Allerdings war dies aufgrund der öffentlichen Erregung in Sachen Abhöraffäre nicht ohne weiteres möglich. Die Aufklärung der Affäre ist am Ende aber mehr oder weniger im Sande verlaufen. SPD und CDU machten seit dieser Zeit in vieler Hinsicht gemeinsame Politik.

Die FDP häutete sich, besonders ab 1966. Ich kann nur empfehlen, sich die Bundestagsdebatten der damaligen Zeit anzuschauen. Hier findet man wichtige Quellen zur Demokratisierung der Bundesrepublik. Die FDP hatte nun die Aufgabe, sich als kleine Partei gegen den mächtigen Tanker der Großen Koalition zur Wehr zu setzen. Sie wollte in der Öffentlichkeit dem Eindruck entgegentreten, dass man jetzt eine Allparteienregierung habe. Die kleine FDP hat eine wichtige Rolle gespielt, was ab 1969 wieder zum Problem wurde, als sie mit der SPD regierte. Damals wurde die Überwachungs-Gesetzgebung von 1968 beim Bundesverfassungsgericht geprüft. Um nicht in allzu große Bedrängnis zu kommen, beschloss die Bundesregierung, in der Sache keine Stellungnahme abzugeben, was angesichts der politischen Bedeutung des G 10-Gesetzes[7] schon ein Politikum war. In Karlsruhe selbst ließ sie sich durch nachgeordnete Beamte vertreten. Hans-Dietrich Genscher war jetzt Bundesinnenminister. Anders als 1968 waren von ihm nun keine rechtstaatlichen Bedenken mehr zu hören.

AS: Sie charakterisieren die Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre mit dem Begriff der „Staatsdemokratie“. Was ist damit genau gemeint?

Foschepoth: Die „Staatsdemokratie“ ist ein Begriff, der durch die Forschung noch geprüft werden muss. Aber die Frage, die sich mir stellte, war: Wie bezeichnen wir eigentlich das, was in den 1950er- und 1960er-Jahren passiert? Immer wieder tauchen Begriffe auf, die keinen analytischen Erklärungswert haben, wie: „Kanzlerdemokratie“, „Adenauerdemokratie“, „autoritäre Demokratie“. Manche sprechen von einer „lernenden Demokratie“. Aber was ist das? Worin besteht das Alleinstellungsmerkmal? Das sind keine historischen Begriffe, die uns weiterhelfen. 

Auf den Begriff „Staatsdemokratie“ bin ich durch das Studium der Quellen gekommen. In einer Würdigung anlässlich des Todes von Hermann Höpker-Aschoff, dem ersten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, formulierte Bundespräsident Theodor Heuss 1954 folgenden Satz: „Er hat die öffentlichen Dinge vom Staate aus gesehen, nicht vom Volke.“[8] Der Staat wird mit anderen Worten nicht von der Demokratie her, sondern die Demokratie vom Staat her gedacht. Diese Auffassung findet sich übrigens auch in den Staatstheorien der Wilhelminischen und Weimarer Zeit – jener Zeit also, in der die führenden Juristen im Staatsdienst der jungen Bundesrepublik studiert haben und politisch sozialisiert worden sind. Dieses Denken vom Staat her ist nicht nur für Höpker-Aschoff typisch, sondern auch für die Vielzahl der Juristen in der Bonner Ministerialbürokratie. „Staatsdemokratie“ heißt also: Die Demokratie, die 1949 gegründet wurde, orientierte sich nicht in erster Linie am Grundgesetz, sondern am Bedürfnis, einen starken Staat aufzubauen. Alles andere hatte nachgeordnete Bedeutung, auch die Grundrechte. Darin stimmten der Kanzler, seine Beamten und engsten Berater überein.

Im Mai 1951 kam der neue britische Außenminister Herbert Morrison zum Antrittsbesuch nach Bonn. Bei dieser Gelegenheit fand ein denkwürdiges Gespräch statt, in dem Adenauer klagte, der Bund und die Bundesregierung seien „ein amorphes Gebilde“ und „ohne Macht und Glanz“. Als Ursachen für die fehlende Staatsautorität sah er nicht nur die Fremdherrschaft der Besatzungsmächte an, sondern auch den föderalistischen „Größenwahn der Länder“. Natürlich könnten die Besatzungsmächte nicht kraft eigenen Rechts einfach das Grundgesetz ändern. Das wäre politisch nicht machbar. „Aber könnte die Hohe Kommission der Bundesregierung nicht gewisse, ihr jetzt zustehende Rechte für drei oder fünf Jahre unter Vorbehalt des Widerrufs übertragen?“ Wenn das geschickt gemacht würde, „dann könnte der Bund an äußerer Kraft gewinnen, so dass er den labilen Deutschen als wirklicher Staat erscheint!“[9]

Das oberste Prinzip der Staatsdemokratie der 1950er- und 1960er-Jahre war die Staatsräson und nicht die Verfassungsräson. Das sahen nicht nur der Kanzler, sondern auch seine Ministerialbeamten so, die in der Überwachungsfrage klar und deutlich formulierten, dass der Staat und nicht etwa die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte das höherwertige Rechtsgut seien. Das war allerdings eine völlige Verkehrung dessen, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes in die Verfassung geschrieben hatten. Danach waren die Grundrechte unveräußerliche, überpositive Rechte, die über dem Staat standen und bei Missbrauch durch den Staat auf dem ordentlichen Gerichtsweg eingeklagt werden konnten. Mit dem G 10-Gesetz von 1968 erreichte das Prinzip der Staatsdemokratie seinen vorläufigen Höhepunkt, als der Ausschluss des Rechtswegs in die Verfassung geschrieben wurde. Dies ist das Verdienst der ersten Großen Koalition.

AS: Wo sehen Sie die Erodierungsprozesse der „Staatsdemokratie“? Bildeten die Medien eine Gegenmacht, die seit den 1960er-Jahren an Bedeutung gewann?

Foschepoth: Ja, das kann man in der Tat so sagen. Die staatskritische Rolle der Medien in den 1960er-Jahren, genauer seit der Spiegel-Affäre, war für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik von großer Bedeutung. Die damaligen Mediendiskurse waren aus heutiger Sicht sehr scharf und kontrovers. In den Medien fand die Dynamik, die sich innerhalb der Gesellschaft entwickelt hatte, ihren Ausdruck – viel deutlicher, als es die koalitionspolitische Ebene widerspiegelte. Die öffentlichen Auseinandersetzungen konzentrierten sich allerdings auf die Notstandsgesetze und ließen das weitaus wichtigere Überwachungsgesetz fast völlig außer Acht. Während die Notstandsgesetze glücklicherweise niemals angewendet werden mussten, wurde das Überwachungsgesetz die rechtliche Grundlage für eine immer weiter ausufernde Überwachungspraxis bis in die unmittelbare Gegenwart hinein.

AS: Sie betonen in Ihrem Buch wiederholt die Bedeutung der Alliierten bei den Eingriffen in die Grundrechte. Ebenso stellen Sie den Antikommunismus als wesentliche Legitimation der frühen Überwachungspraxis heraus. Seltener sind allerdings Verweise auf ein traditionelles autoritäres Staatsverständnis in Deutschland und auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus. Gerade vor dem Hintergrund personeller Kontinuitäten in den Geheimdiensten und den beteiligten Behörden habe ich mich bei der Lektüre gefragt, ob der Überwachungswunsch und die Überwachungspraxis nicht noch stärker an ältere Traditionen anschlossen, als Sie es in Ihrem Buch nahelegen.

Foschepoth: Ich gestehe gern ein, dass ein Historiker meiner Generation das immer im Kopf hat. Ich habe zunächst bewusst darauf verzichtet, diesen Gedanken zu verfolgen, weil ich dachte: „Hier machst du ein riesiges Fass auf.“ Wenn man eine solche These beweisen will, bedarf es einer intensiven Quellenarbeit, um dies zu belegen. Es genügt nicht nur, es zu vermuten. Aber das autoritäre Staatsverständnis kommt in meinem Buch dennoch zum Tragen, wenn Sie etwa an das Kapitel denken, wo ich die Begründungsmuster dargestellt habe, warum das Grundgesetz von Seiten des Staates ausgehebelt werden durfte. Das ist an sich eine schreckliche Vorstellung – begründet lediglich mit einer „Treuepflicht“ der Beamten.[10]

Das berühmte Broschüren-Urteil des Bundesgerichtshofs von 1952, aus dem dies hervorgeht, ist niemals veröffentlicht worden. Darin kam der Geist der 1940er-Jahre zum Ausdruck. Die Herren, die das zu Papier gebracht haben, knüpften unmittelbar an die Reichsgesetze und die Gerichtsurteile der NS-Zeit an. Schon Mitte der 1950er-Jahre wurde das BGH-Urteil von anderen Juristen als nicht tragbar angesehen.

Es ist eine große Aufgabe der künftigen historischen Forschung, nicht nur zu zählen, wer alles NSDAP-Mitglied war. Vielmehr muss noch stärker erforscht werden, welchen Geist diese Eliten in die junge Bundesrepublik hineintrugen. Man versuchte damals so lange über Rechtsfragen zu debattieren, bis man die Verfassung aushebeln konnte. Das führte auch dazu – und das sind wiederum Ähnlichkeiten mit der NS-Zeit –, dass letztendlich der kleine Postbeamte die Suppe auslöffeln musste. Dieser Beamte machte sich in jedem Falle schuldig: Entweder verletzte er das Postgeheimnis, wenn er etwas aussortierte. Wenn er dies nicht tat, dann verletzte er die geforderte Treuepflicht. Solche Mechanismen kennen wir aus der NS-Diktatur. Die Kontinuitäten lassen sich sehr gut anhand der Akten nachvollziehen. Hier besteht allerdings noch weiterer Forschungsbedarf.

JHK: Ende der 1960er-Jahre waren die Notstandsgesetze heftig umstritten. Besteht ein Zusammenhang zwischen den Notstands- und den Überwachungsgesetzen? Gibt es eventuell eine Verbindung, die sich hier erst auf den zweiten Blick erschließt und die von den Juristen hergestellt wurde?

Foschepoth: Ja, diesen Zusammenhang gibt es. Forciert wurde das Ganze von den Juristen und von der SPD. Die SPD hat die Notstandsgesetzgebung genutzt, um die hochbrisante Diskussion über das G 10-Gesetz mit der Notstandsgesetzgebung zu verknüpfen und somit zu entschärfen. Es waren etliche Grundgesetzänderungen notwendig, um die Notstandsgesetzgebung über die Bühne zu bringen. Hinzu kam eine Grundgesetzänderung, die das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis in die Notstandsgesetzgebung einpasste.

JHK: So dass es gewissermaßen versteckt wurde?

Foschepoth: Ja – die in der Notstandsgesetzgebung versteckte Änderung des Grundgesetz-Artikels 10 erlaubte sehr, sehr weitgehende Eingriffe. Um diese Entwicklung zu verstehen, müssen wir noch einmal in die Geschichte der 1950er-Jahre zurückgehen.

Der Notstand war bereits 1952 bei den ersten Verhandlungen zwischen den Alliierten und der Bundesregierung über die Ablösung des Besatzungsstatuts Thema gewesen. Im Ergebnis behielten sich die Alliierten vor, im Fall eines inneren oder äußeren Notstands automatisch die Regierungsgewalt in Deutschland zu übernehmen. Um das zu verhindern, kam die deutsche Seite 1954 auf die Idee des Vorbehaltsrechts. Dieses sollte abgelöst werden, wenn eine eigene deutsche Gesetzgebung die Bundesregierung ermächtigen würde, Notmaßnahmen zu ergreifen, um eine innere und äußere Gefahr abzuwehren.

JHK: Aber das Überwachungsrecht betrifft doch den Normalzustand und nicht nur den Ausnahmezustand bzw. Notstand.

Foschepoth: Richtig. Diese Frage war zwar auch Gegenstand der Verhandlungen, wurde aber noch nicht abschließend geklärt. Geplant war die Regelung über eine deutsche Gesetzgebung. Erschwerend kam jedoch die Frage hinzu, wie die Geheimdienste der Siegermächte in Deutschland agieren konnten und sollten. Die Fragen von Notstand, Überwachung und Geheimdiensten blieben auch bei den zweiten Pariser Verhandlungen vom Oktober 1954 bis kurz vor Schluss ungelöst. Als die Besatzungsmächte auf eine Lösung drängten, schlug Adenauer vor, die Notstands- und die Überwachungsfrage in Form eines Briefes an den Bundeskanzler zu Vorbehaltsrechten zu erklären, die erst erlöschen sollten, wenn die Bundesregierung aufgrund gesetzlicher Regelungen über entsprechende Vollmachten verfügte. Faktisch bedeutete dies, dass sich der Kanzler der Bundesrepublik über die Verfassung hinwegsetzte und an der Schaffung überkonstitutionellen alliierten Rechts mitwirkte, um die Fortsetzung der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs zu ermöglichen. Dies war die Geburtsstunde eines nie mehr revidierbaren Überwachungsstaats. Die Alliierten ließen keinen Zweifel daran, es sei die Voraussetzung für eine Ablösung der Vorbehaltsrechte, dass deutsches Recht eine uneingeschränkte Fortsetzung der Überwachungsmaßnahmen in alliiertem und deutschem Interesse ermöglichen müsse.

JHK: Der besondere Reiz Ihres Buches besteht darin, dass Sie Zugang zu vielen Verschlussakten hatten, was Sie im Anhang auch breit dokumentieren. Wie ist es Ihnen gelungen, an dieses Material heranzukommen?

Foschepoth: Als ich die Brisanz des Themas erkannte, war mir klar: Das Buch muss einen Dokumentenanhang haben. Die wissenschaftliche Überprüfbarkeit musste auf jeden Fall gewährleistetet sein, auch wenn die eine oder andere Akte noch nicht allgemein zugänglich sein sollte. Nun zu Ihrer Frage, wie ich an die Akten herangekommen bin. Als die eingangs erwähnte Akte mein Interesse geweckt hatte, ließ mich dieses Thema nicht mehr los. Ich stellte fest, dass das Material an bestimmten Stellen immer dünner statt dichter wurde. Teile der Korrespondenz fehlten. Die Archivare konnten mir keine Erklärung dafür geben.

Im Rahmen einer engen Zusammenarbeit von Bundesarchiv und Historikerverband sowie kräftiger Vorarbeit und Unterstützung seitens der Medien, insbesondere des Spiegel und der FAZ, gelang es, die Bundesregierung zu einer Neuregelung der „Verschlusssachenanweisung“ (VS) zu bewegen: Nach einer ersten Schätzung handelte es sich um ca. 7,5 Millionen VS-Dokumente. Diese Zahl muss inzwischen deutlich nach oben korrigiert werden. Allein im Bundesverteidigungsministerium befinden sich nach heutiger Kenntnis noch über fünf Regalkilometer VS-Akten.

Die Akten der Bundesregierung werden jetzt sukzessive freigegeben. Ab 2025 gilt dann generell die 30-Jahres-Frist. Meinem Antrag auf Einsicht in alle für mein Forschungsprojekt relevanten VS-Akten wurde nach einer Sicherheitsüberprüfung durch den Verfassungsschutz stattgegeben. Daraufhin erhielt ich Zugang zu den bislang noch geheim gehaltenen Akten der Bundesregierung.

JHK: Das ist gewissermaßen eine Einzelfallregelung für Sie gewesen. Oder können sich jetzt auch andere Forscher, etwa Doktoranden, auf dieses Vorgehen berufen?

Foschepoth: Sowohl als auch. Generell haben wir Historiker ein Interesse daran, dass die Regierungsakten spätestens nach 30 Jahren freigegeben werden, und zwar auf der Basis: Gleiches Recht für alle Forscher, Journalisten und interessierten Privatpersonen. Solange dies noch nicht möglich ist, bleibt nur die Einzelfallregelung, die aber möglichst großzügig gehandhabt werden sollte. Wissenschaftliche Arbeit muss nachprüfbar sein. Deshalb werden die von mir benutzten Akten auch generell geöffnet. Dies ist in anderen Einzelfällen ebenfalls möglich. Am meisten profitieren die Historiker und Historikerinnen, die zurzeit im Auftrag verschiedener Bundesministerien die NS-Vergangenheit der Ministerialbürokratie erforschen.[11] Auch hier gibt es keine Fristenbindung mehr.

JHK: Wenn ich es richtig verstanden habe, durften Sie die Akten der Geheimdienste nicht einsehen. Sie stützen sich hauptsächlich auf Akten der Ministerien. Gleichzeitig wird in Ihrem Buch deutlich, dass die Geschichte der Geheimdienste in einem sehr viel breiteren Kontext geschrieben werden müsste. Wie stehen die Chancen, einen freieren Zugang zu solchen Akten zu bekommen?

Foschepoth: In meinem Buch fehlen in der Tat die personenbezogenen Akten des Verfassungsschutzes und des BND. Deshalb unterscheidet sich mein Forschungsansatz deutlich von dem, was bereits für die DDR gemacht wurde. Die Forschungen zur Rolle der Staatssicherheit sind viel stärker individualisiert, während in meiner Arbeit die Einzelfallanalyse Betroffener fehlt. Auch im Westen hat die Postüberwachung natürlich individuelle Konsequenzen gehabt. In den 1960er-Jahren wurden beispielsweise Schreiben der Staatsanwaltschaft verschickt: „Sie haben aus der DDR Post bekommen, in der sich staatsgefährdendes Material befindet. Ich gehe davon aus, dass Sie das nicht bestellt haben. Sollten Sie dennoch darauf bestehen, dass Sie den Brief ausgehändigt bekommen, mache ich darauf aufmerksam, dass ich umgehend ein Ermittlungsverfahren wegen Staatsgefährdung gegen Sie einleite.“

JHK: Wie könnte man die Perspektive der Überwachten in die Geschichte der Post- und Telefonüberwachung einbinden? Wäre ausgehend von Geheimdienstakten eine Erfahrungsgeschichte der Überwachung möglich?

Foschepoth: Das ist vor dem Hintergrund der Quellensituation im Moment sehr schwierig. Wir brauchen in Ergänzung zu meinem Buch – und ich sehe diese Arbeit ja auch als einen Türöffner – Zugang zu den Akten der Geheimdienste. Wir müssen also den Druck weiterhin aufrechterhalten. Es gibt überhaupt keinen Grund, dass eine Behörde 60 Jahre lang auf den Akten hockt. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass bei den Geheimdiensten nicht ständig Akten vernichtet werden. Das ist rechtswidrig. Das Archivgesetz spricht hier eine klare Sprache. Vor einer eventuellen Vernichtung von Akten müssen diese erst dem Bundesarchiv angeboten werden. Das ist – wie wir wissen – bisher nicht der Fall. Die ständige Schredderei von Akten fördert nicht gerade das Vertrauen in die Geheimdienste.

JHK: Sie sprachen vorhin den Vergleich mit der DDR an – das interessiert uns natürlich sehr. In Ihrem Buch haben Sie deutlich gemacht, dass man auch die Bundesrepublik in bestimmter Hinsicht als „Überwachungsstaat“ bezeichnen kann. Wie könnte man eine vergleichende deutsch-deutsche Geschichte der Überwachung anlegen, ohne dabei die Verhältnisse in der DDR zu beschönigen? In der Bundesrepublik gab und gibt es immerhin das Grundgesetz mit klar definierten Rechtsgrundlagen. Andererseits finden sich trotz der systembedingten Unterschiede teilweise ähnliche Mechanismen, zumindest auf bestimmten Gebieten der Überwachung. Wie könnte man einen solchen Vergleich gewichten?

Foschepoth: Vergleichen heißt nicht gleichsetzen. Wir können jetzt aber nicht mehr behaupten: Überwacht wurde nur in der DDR. Nun fangen die Fragen an: Wie bewerte ich die Überwachungspraktiken in einer Diktatur beziehungsweise jene in einem Rechtsstaat? Ich selbst habe in meinem Buch ein Kriterium entwickelt, das in der Forschung weiter diskutiert werden muss. Der Kern ist für mich die Verfassung: Welchen Rahmen definiert das Grundgesetz, und wie hat sich dessen Bindekraft im Laufe der Zeit entwickelt? Inwieweit ist die Realität dem Grundgesetz angepasst worden – oder aber das Grundgesetz den politischen Machtverhältnissen?

AS: Sie gehen vom Grundgesetz als normativer Basis aus und zeigen, wie es im Spiel politischer Interessen außer Kraft gesetzt worden ist. Nun könnte man im Gegenzug fragen: Sehen Sie Anhaltspunkte dafür, dass die Post- und Telefonüberwachung das politische Gemeinwesen der Bundesrepublik auch geschützt hat? Können Sie sich so etwas wie eine Erfolgsgeschichte geheimdienstlicher Arbeit in der Bundesrepublik vorstellen? Oder liefert Ihre Forschung vielmehr ein Argument dafür, die Geheimdienste abzuschaffen, weil jeder Überwachungsapparat letztlich ein nicht kontrollierbares Eigenleben entwickelt?

Foschepoth: Etwas salopp formuliert könnte man sagen: Auch in Sachen Überwachung waren wir besser als die DDR. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass die DDR nicht mehr existiert. Diese Überlegenheit würde ich den Nachrichtendiensten durchaus zugute schreiben, was sie übrigens auch selbst tun. Für die Traditionsbildung des Verfassungsschutzes war der Antikommunismus derart identitätsstiftend, dass man nach dem Zerfall des Staatssozialismus kaum in der Lage war, eine neue Identität zu formen.

In den 1950er- und 1960er-Jahren fragten sich die Alliierten, wie viel Geld dem Verfassungsschutz zur Verfügung gestellt werden müsse. Die amerikanischen und britischen Offiziere warnten dringend vor einer Kürzung der Mittel, ja sie plädierten für eine Erhöhung des Etats. Und tatsächlich sind im Jahr 1968 die Ausgaben für Überwachungsmaßnahmen verdoppelt worden. Der Effekt solcher Maßnahmen lässt sich jedoch schwer messen. Als Erfolg wurde etwa die Tatsache gewertet, dass es mit Hilfe gezielter Überwachung im Laufe der 1950er-Jahre gelungen sei, insgesamt 490 Wissenschaftler aus Osteuropa in den Westen zu bringen und ihnen dort eine neue Identität zu verschaffen. Auch die Stimmungsberichte aus der DDR-Bevölkerung konnten für geheimdienstliche Zwecke verwendet werden. Wie erfolgreich die Erkenntnisse der Überwachung insgesamt genutzt wurden, werden wir aber nie bis ins Detail feststellen können.

AS: In seiner Gesamtdarstellung der Geschichte der Bundesrepublik von 2009 wollte Eckart Conze die „Suche nach Sicherheit“ als leitendes Paradigma nutzen, was er aber nur teilweise einlösen konnte.[12] Wie könnte man eine Geschichte der westdeutschen Demokratie anlegen, die Fragen der Sicherheit und Kontrolle, aber auch der Informationspolitik und der Freiheit noch stärker ins Zentrum rücken würde? Welche Untersuchungsfelder – über die Post- und Telefonüberwachung hinaus – würden dabei besonderes Interesse verdienen?

Foschepoth: In einem hochkomplexen, modernen Staatswesen ist Überwachung ein wichtiges Instrument der staatlich-politischen Fürsorge. Das ist selbstverständlich. Jede Überwachungsmaßnahme stellt jedoch auch einen massiven Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar, so dass solche Maßnahmen in demokratischen Staaten immer in einen Ausgleich zu den rechtsstaatlichen Anforderungen gebracht werden müssen. Die Überwachung muss wissenschaftlicher, öffentlicher, medialer und parlamentarischer Kontrolle unterliegen. Was meine Forschungsergebnisse so brisant macht, ist die Erkenntnis, dass eine nach dem Grundgesetz notwendige Gesetzgebung zum Schutz der Persönlichkeitsrechte nicht geschaffen wurde. Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit müssen immer wieder neu definiert und austariert werden. Dazu brauchen wir den demokratischen, politischen und wissenschaftlichen kommunikativen Prozess.

AS: Man könnte neben der Post- und Telefonüberwachung noch weitere Felder des Datenschutzes untersuchen, etwa die Volkszählung und den Protest gegen sie.[13] Welches Potenzial sehen Sie generell für das Thema der Überwachungspraxis innerhalb der zeithistorischen Forschung?

Foschepoth: Je tiefer man in diesen Forschungsbereich einsteigt, umso größer wird er. Gerade wenn Sie die Entwicklung nach 1990 weiterverfolgen, nehmen Material und Falldichte ungeheuer zu. Ich habe unter anderem eine Grafik über den Einsatz der Post- und Telefonüberwachung in der Strafverfolgung erstellt. Die Kurve geht ausnahmslos steil nach oben. Das heißt, je mehr Möglichkeiten zur Überwachung vorhanden sind, umso exzessiver wird dieses Instrument benutzt. Im Rahmen der NSA-Überwachungsaffäre in den USA mussten wir gerade wieder zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland das am meisten überwachte Land in Europa ist. Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses existiert in Deutschland faktisch nicht mehr.

JHK: Ich fand es sehr beunruhigend, in Ihrem Buch zu lesen, dass diese Überwachungsrechte – auch solche der früheren Alliierten – im Grunde bis heute fortbestehen.[14] Vieles von dem, was Sie für die 1960er-Jahre schildern, gilt offensichtlich nach wie vor.

Foschepoth: So ist es.

JHK: Welchen Handlungsbedarf sehen Sie auf der Ebene des Gesetzgebers? Oder gibt es gar keine Bereitschaft dafür, so dass die Frage nach Reformen obsolet wäre?

Foschepoth: Die Reaktionen der Exekutive auf die Veröffentlichung meines Buches sind bekannt. Da sagt man etwa: „Es geht im Moment nicht“ – und damit ist das Thema durch. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Es sind im Fernsehen zwei Filme gezeigt worden über die Thematik meines Buches. In der Folge dieser Ausstrahlungen haben Journalisten bei verschiedenen Ministerien angerufen und nachgefragt, ob meine These fortgeltender Verpflichtungen der Bundesregierung gegenüber den alliierten Mächten zutreffe. Von fünf angeschriebenen Ministerien hat indes nur eines reagiert, das Bundesinnenministerium. Was die Frage der Fortgeltung der Überwachungsrechte der Drei Mächte anbetrifft, antwortete das Ministerium ausweichend: „Aufgrund der Komplexität der Sach- und Rechtslage ist derzeit keine abschließende Bewertung möglich […].“[15]

AS: Nach den Debatten über die Abhörpraxis in den 1960er-Jahren oder die Diskussion über den Großen Lauschangriff in den 1990er-Jahren, aber auch aktuell nach der Diskussion über die Antiterrorgesetzgebung und den Einsatz von Bundestrojanern ist die Debatte über die Eingriffe in Grundrechte nach meinem Eindruck wieder etwas verstummt. Gibt es aus Ihrer Sicht ein gesellschaftliches Arrangement hinsichtlich der Überwachung, eine Gewöhnung an die Kontrollgesellschaft, die inzwischen vielfach auch auf der freiwilligen Preisgabe von Daten an kommerzielle Anbieter beruht?

Foschepoth: Wenn man sich die historische Entwicklung von den 1950er-Jahren bis heute anschaut und danach fragt, wie sensibel die Öffentlichkeit hinsichtlich der Überwachungspraxis damals war und wie sensibel sie heute ist, kommt man zu einer interessanten und unerwarteten Erkenntnis. Offenbar war die Gesellschaft der 1950er- und 1960er-Jahre mitunter liberaler und wacher. Man war sensibler, weil diese Praxis an die Überwachungsbedrohungen des Nationalsozialismus und der DDR erinnerte. Solche Vergleiche wurden in der Tat gezogen, etwa vom SPD-Abgeordneten Adolf Arndt. Wenn ich dagegen die aktuelle Debatte über die Tatsache der millionenfachen E-Mail-Überwachung seitens des BND betrachte, die kaum jemanden wirklich interessiert, stelle ich fest, dass das Thema Persönlichkeitsrecht, Post- und Fernmeldegeheimnis auf eine zunehmende Indifferenz trifft. Der Umgang mit Privatheit hat sich enorm verändert. Das können wir als Historiker natürlich nicht ändern, wir können es lediglich feststellen. Letztendlich kommt es der Bürokratie und ihrem Apparat zugute: Eine immer gleichgültiger werdende Gesellschaft lässt sich entsprechend problemlos abhören.

JHK: Wir haben jetzt einen weiten Bogen abgeschritten. Das macht schließlich auch den Reiz Ihres Buches aus: Es ist nicht nur eine gründliche historische Studie, sondern wirft viele gegenwartsrelevante Fragen auf, über die weiter nachzudenken ist. Herr Foschepoth, wir danken Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch.

 

(Transkription: Judith Berthold und Clemens Huemerlehner; Textredaktion: Annette Schuhmann, Achim Saupe und Jan-Holger Kirsch)

 

 

 

[1] Einige bisherige Rezensionen: Rainer Blasius, Mehr Staat wagen, nicht viel fragen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2012, S. 8; Philipp Schnee, Bis zu 8.000 private Briefe aus der DDR pro Monat geschreddert, in: Deutschlandfunk, 29.10.2012; Franziska Augstein, Die nie ganz souveräne Republik, in: Süddeutsche Zeitung, 13.11.2012, S. 15; Jost Dülffer, [ohne Titel,] in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 53 (2013); Dominik Rigoll, [ohne Titel,] in: H-Soz-u-Kult, 9.4.2013; Jan Korte, Den Staat an seiner Norm messen, in: tageszeitung, 4.5.2013; Dieter Deiseroth, Gefilzte Post, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 58 (2013) H. 6, S. 119-122.

[2] Zit. nach Josef Foschepoth, Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2012, Dokument Nr. 43 (15.6.1951), S. 333ff., hier S. 335.

[3] Mit dem siebzehnten Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 wurde ergänzt: „Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.“ Vgl. dazu Foschepoth, Überwachtes Deutschland (Anm. 2), S. 160-212.

[4] Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA), B 86/892, Staatssekretär Hallstein (AA) an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, 23.6.1956.

[5] Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Bd. 4: Sitzungsprotokolle 1961–1966, 1. Teilband: September 1961 – Juli 1963, Düsseldorf 2004, S. 419 (13.11.1962).

[6] Zit. nach Michael Schneider, Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze. Sozialdemokratie, Gewerkschaften und intellektueller Protest (1958–1968), Bonn 1986, S. 85.

[7] Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, in Ergänzung zum Artikel 10 des Grundgesetzes.

[8] Theodor Heuss, Würdigungen. Reden, Aufsätze und Briefe aus den Jahren 1949–1955, hg. von Hans Bott, Tübingen 1955, S. 239.

[9] Zit. nach Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, Stuttgart 1986, S. 845f., der die Quelle in indirekter Rede wiedergibt, ohne die Fundstelle zu nennen.

[10] Siehe besonders Kap. 3.2: „Gesetzlose Verwaltungspraxis und juristische Legitimierung“ (S. 75-94).

[11] Zur Erforschung des BND siehe das Interview von Christian Mentel mit Klaus-Dietmar Henke, Mai 2013, Zur Geschichte des BMJ siehe das Interview von Christian Mentel mit Manfred Görtemaker, April 2012, sowie jetzt Manfred Görtemaker/Christoph Safferling (Hg.), Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme, Göttingen 2013.

[12] Siehe etwa die Rezension von Patrick Wagner.

[13] Vgl. dazu neuerdings Larry Frohman, „Only Sheep Let Themselves Be Counted“. Privacy, Political Culture, and the 1983/87 West German Census Boycotts, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 335-378.

[14] Vgl. Foschepoth, Überwachtes Deutschland (Anm. 2), bes. S. 247ff.

[15] Beschlagnahmt und vernichtet – Westen kontrolliert Ostpost, ZDF-Sendung „Frontal21“ vom 20.11.2012, Manuskript.

 

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„Je tiefer man in diesen Forschungsbereich einsteigt, umso größer wird er“

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Ein Interview mit Josef Foschepoth zur Post- und Telefonüberwachung in der Bundesrepublik

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