Nichts ist so ‚deutsch‘ wie Kraftwerk, nicht einmal die Deutschen selbst. Kraftwerk sind längst zu einem nationalen Mythos geworden, der sowohl von deutschen als auch englischsprachigen AutorInnen mit einer gewissen Affinität für alles ‚Deutsche‘ ausgiebig gepflegt wird. Die jetzt erscheinenden Nachrufe auf das Gründungsmitglied Florian Schneider ähneln daher zumeist auch den üblichen Beiträgen zur Gruppe. Hervorgehoben werden stets die zahlreichen Referenzen an die Band und welchen Einfluss die Sounds, Beats und Melodien auf die Popwelt hatten: Von David Bowies sogenannter „Berlin-Trilogie“ und dem Song „V2 Schneider“ (1977), über die Kraftwerk-Samples in den frühen HipHop- und Techno-Tracks „Planet Rock“ (1982) von Afrika Bambaataa und „Clear“ (1983) von Juan Atkins‘ Cybotron, bis hin zu Daft Punk und Coldplay. Gänzlich unerwähnt bleibt dabei jedoch, dass Florian Schneider zusammen mit seinem langjährigen Kompagnon Ralf Hütter ein Image entwickelt hatte, das sich als das international erfolgreichste Popkonzept aus Deutschland erweisen sollte: Der ‚kalte Deutsche‘.
Emotions- und humorlos, präzise und diszipliniert, mehr Maschine als Mensch. Die bis heute bemühten, stereotypen Bilder brauchen kaum genauer erläutert werden, so fest sind sie in der Vorstellungswelt der Menschen weltweit verankert. Kälte hatte man bis zum Auftritt Kraftwerks in der Popmusik ohnehin noch nicht erlebt, vielmehr schien sie zwischen kontinuierlichen Wärmegraden und fortschreitender Erhitzung zu schwanken: Von den klassischen Liebesschwüren und Herzschmerzgeschichten im Schlager und Pop, über die sexuell aufgeladenen und schweißtreibenden Performances und Songs im Soul, Rock ˈnˈ Roll und der Disco Music, bis zu den wütenden und aggressiven Attacken von Punk und Metal.
Die Mensch-Maschine
Der Ursprung dieses Kraftwerk-Konzepts lag dabei in zwei verschiedenen und sich verbindenden Strängen: der nationalen Kunstgeschichte und der transnationalen Popwelt. Obwohl nicht unbeeinflusst vom US-amerikanischen ‚Cool‘, orientierte sich die deutsche ‚Kälte‘ vor allem an den Körperbildern des Konstruktivismus und der Neuen Sachlichkeit der zwanziger und dreißiger Jahre. Gleichzeitig spielte insbesondere für Kraftwerk sowohl ihre internationale Rezeption, als auch etablierte, nationale Stereotypen über Deutsche im Ausland eine außerordentliche Rolle bei der Imagekonstruktion der Gruppe – ein Wechselspiel, das auch die Grundlage für die in der Neuen Deutschen Welle unternommene Spiegelung des im Ausland verbreiteten Bildes vom gefühlskalten Deutschen bilden sollte. Kraftwerks ‚Kälte‘ baute auf drei Strategien: Entemotionalisierung, Entmenschlichung und Affirmation mit den gemeinhin als bedrohlich interpretierten Zeichen des technologischen Zeitalters. Keine Lieder über Liebeserfahrungen oder sozial- und kriegskritische Beiträge zur politischen Weltlage. Keine umarmende ‚Wärme‘, wie sie in den Innerlichkeits-Ritualen der Hippie-Kultur und im linksalternativen Milieu praktiziert wurden. Und auch kein Protest und keine wütende Abwehrhaltung gegen die Gesellschaft, wie sie von Politrockern und im Punk bis heute kultiviert wird. Stattdessen wurden die im gesellschaftlichen Diskurs mit Prozessen der Entmenschlichung assoziierten Themenbereiche Computer, Roboter, technologischer Fortschritt, Maschinen und Industrie positiv von Kraftwerk besetzt, insbesondere mit ihren Konzeptalben Trans Europa Express (1977), Die Mensch∙Maschine (1978) und Computerwelt (1981). Diese standen am Ende einer längeren Entwicklung, denn schon 1975 hatte sich Florian Schneider gegenüber der Jugendzeitschrift Bravo beschwert: „Computer und die Technik bestimmen unser tägliches Leben immer mehr. [...] In 20 Jahren werden unserer Meinung nach kaum noch Gruppen mit Gitarren und Schlagzeug auftreten. Für uns gehören diese Instrumente heute schon der Vergangenheit an. Alles im Leben hat sich geändert. Technisch wurden gewaltige Fortschritte gemacht. Nur musikalisch stehen wir noch im Mittelalter.“[1] Zwei Jahre später ging Schneider sogar noch weiter, als er seine Kritik an der seiner Meinung nach pseudo-religiösen, antimodernistischen Technikfeindlichkeit der Hippies mit der Ausrufung des Tonbandgeräts zum neuen Gott abschloss.[2]
Es nimmt daher nicht Wunder, dass die Band die propagierte Maschinenästhetik auch beim oftmals nur aus verkabelten Konsolen, Keyboards und Neonröhren bestehenden Bühnenaufbau beibehielt. Hütter und Schneider verstanden Kraftwerk als konzeptionelle Gegenbewegung zum immer noch lebendigen ‚Authentizität‘-Anspruch der Rock-Musik und der Counter Culture der sechziger und siebziger Jahre. Offensive Künstlichkeit wurde zum Leitprinzip für die Gruppe. Durch den Einsatz eines die Stimme verzerrenden Vocoders wie im Stück „Die Roboter“ (1978) oder einer Computer-generierten Stimme wie bei „Nummern“ (1981) verfestigten Kraftwerk das verbreitete Bild der ‚kalten‘ Maschineningenieure auch klanglich. Hinzu kamen die strikt durchgehenden, Sequenzer-generierten Klangabläufe sowie die minimalistischen, maschinell klingenden Beats, die auf eigens konstruierten elektronischen Drum-Pads eingespielt wurden. Auch hier boten sich Anknüpfungspunkte für performative ‚Kälte‘-Inszenierungen körperlicher Funktionalität und Disziplin, etwa durch die Kombination von repetitiven Sequenzer-Rhythmen mit mechanischen Körperbildern. Hütter und Schneider verachteten die körperbetonten Inszenierungen zeitgenössischer Rockstars, das Verausgaben der Musiker auf der Bühne. In einem Interview für das britische Musikmagazin Sounds aus dem Jahr 1977 betonte dann Schneider auch, dass es eben jener Schweiß der üblicherweise hart arbeitenden Drummer war, der den Einsatz der elektronischen Drums für die Gruppe unumgänglich machte.[3]
The Cold Wave
Das Titelbild derselben Sounds-Ausgabe verband gleich zwei Aspekte, die für die Ausformulierung der popkulturellen Figur des ‚kalten Deutschen‘ von außerordentlicher Bedeutung waren. Einerseits zeigte das Foto Hütter und Schneider in typischer, zeitgenössisch wie gegenkulturell jedoch vollkommen unüblichen Aufmachung am kargen Ufer des Rheins posierend, die berühmte Stahl-Beton-Struktur der Rheinkniebrücke im nebelverhangenen Hintergrund: Gepflegte Kurzhaarfrisuren, die Kleidung in schwarz-weiß gehalten, die Hemden unter den Krawatten säuberlich zugeknöpft, die Gesichter ohne jede emotionale Regung – diesem später so strikt arrangierten Kraftwerk-Outfit hatte Florian Schneider im Gegensatz zu Hütter sogar schon in den frühen siebziger Jahren entsprochen. Die dann seit den Alben Trans Europa Express (1977) und Die Mensch∙Maschine (1978) durch roboterhafte Bewegungen und uniforme Kleidung beabsichtigte Wirkung bei Performances steigerte sich schließlich bis zum Einsatz von Puppen und Robotern als Ersatz für die Musiker – diese repräsentierten das Kraftwerk-Image ohnehin am besten.
Der zweite Aspekt, der besonders deutlich die Rolle der internationalen Rezeption bei der Entwicklung des Motivs des ‚kalten Deutschen‘ offenbart, ist die Betitelung des Frontcoverbilds besagter Sounds-Ausgabe mit „The Cold Wave“. Während Kraftwerk das Wort „kalt“ in Bezug auf ihre Musik und Darstellung selbst nie benutzten, tauchte der Begriff schon seit den frühen siebziger Jahren in internationalen wie nationalen Zeitschriften regelmäßig im Zusammenhang mit der Band auf. Entscheidender Markstein für die Entwicklung dieses Konzepts und der gleichlautenden internationalen Rezeption war die infolge des kommerziellen Erfolgs von „Autobahn“ (1974) im Jahr darauf absolvierte Tournee durch die USA und Großbritannien, bzw. der zu dieser Zeit sowohl in der US-amerikanischen Zeitschrift Creem, als auch im britischen New Musical Express erschienene Beitrag des Pop-Journalisten Lester Bangs über Kraftwerk. Dieser fügte die Aussagen der interviewten Hütter und Schneider mit den nicht nur Bangs eigenen, stereotypen Vorstellungen zum Bild des emotionslosen, kalt berechnenden Deutschen zusammen – auch Verweise auf die Nazis und die Wirkung von Amphetaminen (deren Entwicklung Bangs deutschen Wissenschaftlern zuschrieb) fehlten selbstverständlich nicht.[4] Während also Hütter die „deutsche Mentalität“, die aus Deutschland stammenden Maschinen und die mechanisch klingende deutsche Sprache als Basis für die vermeintliche Einzigartigkeit Kraftwerks betonte, entgegnete Schneider auf Bangs Interpretation ihrer Musik als „anti-emotional“, dass es nun mal eine „kalte Emotion“ und eine andere gebe (die er aber nicht weiter ausführte). Auch Bangs Bemerkung, der streng dreinblickende Schneider wirke wie jemand, der per Computer oder Knopfdruck die halbe Welt ohne jede sichtbare Gefühlsregung zerstören könne, vervollständigte die in diesem so folgenreichen Beitrag entworfene Vorstellung des ‚kalten Deutschen‘.
Tatsächlich war das Bild, dass Hütter und Schneider medial abgaben, keineswegs reine Inszenierung. Seit den frühen siebziger Jahren war das Projekt Kraftwerk strikt organisiert: Studio, Label, Verwertungsrechte – alles lag in den Händen der beiden. Die langjährigen Bandmitglieder Karl Bartos und Wolfgang Flür, mit denen sie ihre wichtigsten Alben produzierten: Angestellte mit festem Gehalt. Selbst gemeinsame Disco-Besuche waren koordiniert, die Kraftwerk-Mitglieder erschienen in schwarzen Anzügen und Lederhandschuhen, während um sie herum Disco, Punk und NDW (Neue deutsche Welle) wüteten. Und obwohl auch die NDW-Pioniere, wie Hütter und insbesondere Schneider, stark von der lokalen Kunstszene und den Kunsthochschulen geprägt waren und Kraftwerk die musikalische wie subjektkulturelle Brücke vom Krautrock zur NDW darstellten, fanden beide nicht zusammen. Das mag verwundern, kam es doch insbesondere in der NDW zu einer geradezu inflationären Verwendung von ‚Kälte‘-Motiven und einer Renaissance der „Verhaltenslehren der Kälte“ (Helmut Lethen) der Weimarer Republik. Allerdings unterschied sich Kraftwerks futuristische Version der Mensch-Maschine von den ‚Kälte‘-Motiven der NDW, die vor allem auf schwarzromantische Bilder von Eis und Schnee (Ideal: „Eiszeit“, 1981; Grauzone: „Eisbär“, 1980), auf heiß-kalte Maschinenkörper (DAF, Die Krupps), auf apokalyptische Beschwörungen (Einstürzende Neubauten) sowie auf das von der Band FSK formulierte scheinaffirmative „Ja zur modernen Welt“ und zum atomisierten Großstadtbürger setzte.
Die Erben der „Kälte“
Zwei Aspekte des Kraftwerkschen Erfolgsrezepts blieben jedoch in großen Teilen der NDW erhalten: das ‚Kalte‘ und das ‚Deutsche‘. Diese Kombination sollte nach dem Abebben der ‚Kälte-Welle‘ um 1982 erst wieder Mitte der neunziger Jahre in Erscheinung treten, in Form der sogenannten Neuen Deutschen Härte und ihren erfolgreichsten Vertretern Rammstein. Während Kraftwerks Inszenierung jedoch strikt emotionslos und von Sexualität befreit war, baut Rammsteins Performance auf dem Bild der Härte und Männlichkeit. Böse Mienen, metallische Staccato-Sounds, rollendes R – ein perfektes Bild für das vom ‚kalten Deutschen‘ begeisterte Publikum im Ausland, dass die Band trotz (oder gerade wegen) der unverständlichen, aber hart klingenden Texte schätzt. Eine Übertragung von Kraftwerks Inszenierung auf Bands und Musiker außerhalb Deutschlands konnte natürlich aufgrund der nationalen Fixierung nicht funktionieren. Und selbst dort, wo die Imitation wie bei Gary Numan äußerlich gelang, scheiterte es doch an der so wichtigen Grundhaltung: So waren die Texte Numans voller Ängste gegenüber den Entfremdungserfahrungen in einer hochtechnisierten Welt. Kraftwerk dagegen blieben im wahrsten Sinne des Wortes kalt: Kein Protest, keine Ängste, ausschließlich sachliche Beschreibungen der Wirklichkeit. Kraftwerks überzeichnetes Bild des ‚Deutschen‘ hinterließ seine Spuren aber nicht nur in der Popmusik, sondern schließlich auch in der anglo-amerikanischen Popkultur selbst. Populärste Ausprägungen sind dabei wohl die fiktive Band Autobahn im Film The Big Lebowski (1998) sowie das von Mike Myers (Wayne’s World, Austin Powers) entwickelte Sketchformat Sprockets (1989-1997) in der Show Saturday Night Live. Myers spielte hier „Dieter“, den abgeklärt-ernsten Moderator einer fiktiven deutschen TV-Talkshow, die stets mit den steifen Tanzbewegungen von Dieter und identisch aussehenden Crew-Mitgliedern zu einem auf höherer Geschwindigkeit abgespielten Loop aus Kraftwerks „Electric Café“ endete.
Und während man in Deutschland keine Gelegenheit versäumt, die herausragende Bedeutung Kraftwerks für die Entwicklung der elektronischen Popmusik zu betonen, bleibt der nachhaltige Effekt des von Ralf Hütter und Florian Schneider konzipierten ‚kalten Deutschen‘ unerwähnt. Kraftwerks (und auch Rammsteins) Bild des gefühlslosen Teutonen ließ sich nur schwer mit dem verbreiteten „Wir sind wieder wer“-Narrativ vereinbaren, das durch den Zusatz „...mit dem man sich besser nicht anlegt“ genau jene historischen Assoziationen hervorruft, denen man durch Pop doch entkommen wollte. Der von Florian Schneider zusammen mit Ralf Hütter unternommene Versuch, sich diesem Stereotyp auf künstlerisch-spielerische Art zu nähern, während man gleichzeitig stets auf den „europäischen“ Charakter der eigenen Identität verwies, blieb daher so einzigartig wie einschneidend. [5]
Dieser Text erschien am 7. Mai 2020 in nur leicht abgewandelter Form auf dem Pop History Blog.
[1] Schneider zit. n. Bald singt bei uns ein Computer, BRAVO Nr. 42, 09.10.1975, S. 10.
[2] Schneider zit. n. Hal Synthetic: New Musick, in: Sounds (UK), 26.11.1977, S. 33.
[3] Ebd.
[4] Lester Bangs, Kraftwerk: The Final Solution To The Music Problem?, New Musical Express, 06.09.1975.
[5] Schneider zit. n. Kraftwerk Interview, Triad Free-Form Radio on WXFM-FM, Chicago, 20.04.1975.
Der kalte Deutsche: Zur Thermoästhetik von Kraftwerk
Ein Kommentar zu den Nachrufen auf Florian Schneider