November 2003: Rosenrevolution?

Die Ambivalenz nationaler Einheitsträume auf der einen und beharrlichem Sezessionsbestreben der Völker und Ethnien auf der anderen Seite hat in Transkaukasien ihren historischen Ort gefunden. Autonomiebestrebungen einzelner Völker prägten die Geschichte der Region in den letzten Jahrhunderten ebenso, wie sich die Großreiche kontinuierlich ablösten in ihrer Herrschaft über jene „kleinen“ Königreiche und Fürstentümer, später Republiken und „autonome“ Gebiete.

So kämpften im 18. Jahrhundert Osmanen und Perser um die Region, im 19. Jahrhundert teilten sich Briten, Türken, Deutsche und Russen den transkaukasischen „Kuchen“ und als die russische Kaukasusarmee 1917 zusammenbrach, gab es eine kurze Phase in der sich Georgien, Aserbaidschan und Armenien zumindest „mental“ für souverän hielten.
Spätestens seit 1922 unterlag Transkaukasien den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen Russlands beziehungsweise der Sowjetunion. Aber auch die knapp siebzigjährige Geschichte Transkaukasiens innerhalb des sowjetischen Republikenverbandes macht deutlich, dass hinter dem offiziellen Bild der Völker, vereint im bunten Reigen ihrer Trachten und der folkloristisch inszenierten Betonung nationaler Eigenheiten, eine historisch gewachsene Idee von homogener Nation steht, die in jeder der Republiken und Gebiete einer ganz eigenen Meistererzählung folgte.

So demonstrierten etwa die Georgier bereits 1956 für ihre Autonomie, und als 1978 die russische Sprache anstelle der georgischen zur Staatssprache erhoben werden sollte, kam es zu Protesten von größerem Ausmaß. Der damalige georgische Parteichef Schewardnadse unterstützte die Forderung der Demonstranten: Georgisch blieb Staatssprache. Als sich Ende der achtziger Jahre nationale Bewegungen in Georgien formierten, waren diese zwar uneins was die Reichweite ihrer Forderungen betraf, einig war man sich jedoch im historischen Bezugspunkt der Bewegungen: rekurriert wurde auf eine kurze Phase (vermeintlicher) Unabhängigkeit Georgiens zwischen 1918 und 1921.
Die Spannungen innerhalb der neuen nationalen Bewegungen in Georgien in den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts bildeten sich somit vor dem Hintergrund stark divergierender Geschichtsdeutungen, der kontinuierlichen Aufrechterhaltung gesellschaftspolitischer Tabus, jahrhundertealter ethnischer Konflikte und verschiedensten Allianzmöglichkeiten je nach politischer Zielstellung. Zudem markierten sie einen Generationenkonflikt, der sich im politischen Handeln der einzelnen Oppositionsgruppen niederschlug. In Georgien hatte sich nach dem Ende der Sowjetunion, ähnlich wie in anderen mittelasiatischen Republiken, ein Präsidialregime etabliert, mit einem im Vergleich zu Parlament und Regierung starken Präsidenten. Heterogene Regionen und Ethnien waren nur schwer zu integrieren.
Im Kaukasus forderten Abchasen und Südosseten eigene Gebiete und das Recht auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, während Georgien seine staatliche Souveränität durchzusetzen suchte. Es folgte ein zweijähriger blutiger Bürgerkrieg, in dessen Folge sowohl den Abchasen als auch den Osseten mit militärischer Unterstützung Russlands die Loslösung von Georgien gelang. Mehr als 100.000 Menschen kamen bei den Kämpfen ums Leben.

Die sowjetische Planwirtschaft kollabierte Anfang der neunziger Jahre, der Übergang zur Marktwirtschaft gestaltet sich bis heute schwierig. Erst Ende des 20. Jahrhunderts setzte ein allmähliches Wachstum ein, die politischen Spannungen blieben indessen bestehen.
Katalysator des Machtwechsels in Georgien waren die Wahlen im November 2003: 21 Parteien und Wahlbündnisse warben um 235 Parlamentssitze. Sowohl für die ausländischen Wahlbeobachter der OSZE als auch für die Bevölkerung Georgiens waren Wahlfälschungen offenkundig. Am 23. November 2003 wurde der damalige georgische Präsident Eduard Schewardnadse gestürzt. Der Staatstreich verlief relativ friedlich: Scherwardnadse trat zurück und überließ den Oppositionsgruppen und jüngeren Politikern die Macht, allen voran Michail Saakaschwili.

In der westlichen Öffentlichkeit wurden die Ereignisse als spontan und friedlich wahrgenommen. Jedoch war der Staatsstreich weder spontan – wie kaum ein historisches Ereignis – noch war sein Verlauf gänzlich von friedfertigen Absichten begleitet, selbst wenn das medial außerordentlich wirksame Bild einer „Rosenrevolution“ dies vermittelte.
An der Spitze der Protestbewegungen und der sogenannten Rosenrevolution stand der damals 36-jährige Michail Saakaschwili. Kurz nach dem Umsturz wurde er mit großer Mehrheit zum neuen Staatschef gewählt. Die jungen Reformer um Saakaschwili gingen mit geradezu missionarischem Eifer daran in Georgien einen modernen Staat zu errichten – ohne Rücksicht auf Widerstände und mit wachsender Selbstherrlichkeit. Die Hoffnungen der georgischen Bevölkerung auf demokratische Reformen im Lande waren groß.
Vier Jahre später verhängte Saakaschwili den Ausnahmezustand und ließ Demonstrationen der Oppositionsbewegung mit äußerster Brutalität niederschlagen. Die Berichterstattung der staatlichen Medien wird strikt zensiert, regierungskritische Privatsender wurden von der Polizei gestürmt und stellten ihre Sendungen ein. Im August 2008 befahl Saakaschwili den Angriff auf die südossetische Stadt Zchinvali.

 

 

Links zum Thema

Heiko Pleines u. Hans-Henning Schröder, Der bewaffnete Konflikt um Südossetien und internationale Reaktionen, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen, Arbeitspapiere und Materialien, Nr. 97 (September 2008)

Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission der EU über den Krieg in Georgien im Jahr 2008 (Tagliavini-Kommission), September 2009 

Timothy Garton Ash, 1989! In: The New York Review of Books, Vol. 56, Number 17, November 5, 2009 

Timothy Garton Ash, Velvet Revolution: The Prospects, in: The New York Review of Books, Vol. 65, Number 19, December 3, 2009 

Uwe Halbach, Die Weltwirtschaftskrise in Kaukasien und Zentralasien, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP 20) April 2009 

Rezension zu: Alexander Morrison, Russian Rule in Samarkand 1868-1910. A Comparison with British India, Oxford 2008 

Rezension zu: Bhavna Dave, Kazakhstan. Ethnicity, Language and Power, London 2007 

Rezension zu: Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Cornell University Press 2005 

Rezension zu: I.V. Gerasimov u.a. (Hg.), Novaja imperskaja istorija postsovetskogo prostranstva. Sbornik statej, Kasan 2004 

Rezension zu: Jörg Baberowski, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003

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