Militarisierung statt Liberalisierung?

Das Liederbuch der Bundeswehr war von Beginn an umkämpft. Diese offizielle Liedersammlung, 1958 in erster Auflage erschienen, sollte – und soll bis heute – den „Geist der Truppe“ widerspiegeln. Symbolisch wurde und wird in Debatten um die Liedauswahl verhandelt, was Soldatentum nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus bedeuten und welche Rolle Militarismus in der westdeutschen Gesellschaft einnehmen darf.

Ein Blick auf die Veränderung des Liedguts im Laufe der Jahrzehnte zeigt, wie sehr sich die Kräfteverhältnisse in der bundesdeutschen Demokratie verändert haben. Während die Liedsymbolik in der frühen Bundesrepublik mit positivem Kriegsbezug und „Soldatenehre“ brach, fanden entsprechende Lieder im Zuge der Neuauflagen von 1963 und 1976 wieder Eingang in das Liederbuch. Die Entwicklung liegt damit quer zum postulierten Durchbruch demokratischer Vorstellungen nach den langen 1960er Jahren. Sie zeigt auch, dass die aktuellen Vorfälle und Debatten um rechtsextreme Soldaten und Wehrmachts-Memorabilia in den „Traditionsräumen“ der Truppe in eine längere Geschichte des Umgangs mit Vergangenheit in der Institution Bundeswehr eingeordnet werden müssen.

 

Traditionsräume entrümpeln: Das Liederbuch im neuen Jahrtausend

„Ministerium stoppt Bundeswehr-Liederbuch“ betitelte Spiegel Online am 12. Mai 2017 einen Beitrag über die Anordnung des Verteidigungsministeriums, die aktuelle Ausgabe des Bundeswehr-Liederbuches aus dem Verkehr zu ziehen und zu überarbeiten. Sämtliche darin enthaltenen Lieder aus der NS-Zeit wie etwa das Panzerlied oder das Westerwaldlied, so der Auftrag, seien zu identifizieren und aus der Liedliste zu entfernen. Der Überarbeitungsauftrag war bereits im Januar erfolgt, jedoch erst im Kontext des Vorfalls um den zwei Wochen zuvor verhafteten Soldaten Franco A. öffentlich geworden. Der Oberleutnant war unter dem Verdacht festgenommen worden, einen rechtsterroristischen Anschlag zu planen und diesen einem fiktiven syrischen Geflüchteten anzulasten. Der Vorfall lenkte den Blick der Öffentlichkeit erneut auf die Bundeswehr und ihr wiederkehrendes Problem mit dem Rechtsextremismus. In Folge wurden deutsche Kasernen auf Wehrmachts-Memorabilia durchsucht, auch der Liederkanon der Bundeswehr rückte in den Fokus der sensibilisierten Öffentlichkeit und entfachte eine Diskussion über das musikalische Traditionsverständnis der Armee.

Allerdings war das, was 2017 mit Leidenschaft debattiert wurde, keinesfalls der erste Versuch, den Inhalt des soldatischen Liedgutes zu problematisieren. Als das Liederbuch Ende der 1950er Jahre erstmals erschien, war es gerade nicht das Vorhandensein, sondern das Fehlen bestimmter Lieder, welches zum Eklat und zu einer nicht weniger als vier Jahre andauernden Leserbriefdebatte in einer Bundeswehr-Ausbildungszeitschrift führte, an der sich vom einfachen Soldaten bis zum höheren Offizier zahlreiche Armee-Angehörige beteiligten.[1]

 

Wie soldatisch dürfen Soldaten singen? Der Liederbuchstreit um 1960

Auslöser des Streits war ein Artikel, der im Herbst 1958 anlässlich der Publikation des Liederbuchs in der bundeswehröffentlichen Zeitschrift Information für die Truppe erschien. Der Artikel sollte die Nutzung des Liederbuches anregen – denn Singen festige die Haltung der Soldaten und die Gemeinschaft der Truppe –, offensichtlich aber auch das Fehlen solcher Lieder erklären, die der Autor als „tendenzbelastet“ und „peinliche Erinnerungen“ weckend einstufte. „Die Liedauswahl verlangt ein Gespür für das heute Angemessene. [...] Sicherlich passen Lieder, die durch das Dritte Reich oder andere totalitäre Regime abgestempelt sind, aggressive Texte enthalten oder ein falsches Pathos verkünden, nicht mehr in unsere Zeit“, hieß es mit Verweis auf den öffentlichen Repräsentationscharakter des Liederbuches.[2]

Anders als die verschiedenen (privat verlegten) Soldatenliedersammlungen, die seit der Weimarer Zeit im Militär genutzt wurden, enthielt das Liederbuch der Bundeswehr nur 18 solcher Lieder. Der Rest der 160 Titel setzte sich vor allem aus Wander- und Seemannsliedern zusammen. Die Bundeswehrführung hatte nun alle Lieder ausgelassen, die textlich einen positiven Kriegsbezug aufwiesen, auch Ob’s stürmt oder schneit, das sogenannte Panzerlied. Dort heißt es etwa:

 

bestaubt sind die Gesichter, doch froh ist unser Sinn, es braust unser Panzer im Sturmwind dahin.

Mit donnerndem Motor, so schnell wie der Blitz, dem Feinde entgegen, im Panzer geschützt. |: Voraus den Kameraden im Kampfe ganz allein.

Und läßt uns im Stich einst das treulose Glück, und kehren wir nicht mehr zur Heimat zurück, |: trifft uns die Todeskugel, ruft uns das Schicksal ab, dann ist uns der Panzer ein ehernes Grab. :|

 

Zudem waren Lieder ausgespart worden, die in der NS-Zeit entstanden waren. So „fehlte“ unter den Marschliedern etwa das textlich harmlose, aber 1935 geschriebene Westerwaldlied, während das durch den Nationalsozialismus politisch aufgeladene, aber deutlich ältere Volkslied Schwarzbraun ist die Haselnuss seit 1958 durchgängig im Buch enthalten blieb.

Der Liederbuchstreit begann 1958 mit dem aufgebrachten Leserbrief eines Fähnrichs, der die Liedauswahl der ersten Auflage als einen weiteren Bruch mit soldatischer Tradition in der Bundeswehr charakterisierte und so eine Debatte ins Rollen brachte, in die sich schnell auch Mitarbeiter der Zeitschrift bis hin zum Referatsleiter einschalteten. Für den Fähnrich und seine Unterstützer waren das Panzerlied und Morgen marschieren wir in Feindesland keineswegs „tendenzbelastet“, sondern unabdingbare Bestandteile des „Kampferlebens deutscher Soldaten“. Zumal beide Lieder in der Truppe weiterhin gerne gesungen wurden.

Es entspann sich also ein Streit darüber, ob und warum bestimmte Titel ins Liederbuch zurückgeholt werden sollten. Wenngleich die argumentativen Fronten sich laufend verschoben, lassen sich grob zwei Positionen unterscheiden: Die Truppe – vertreten durch den Fähnrich, aber etwa auch durch einen deutlich diensthöheren Leutnant – verknüpfte mit den Liedern häufig den Wunsch nach einer emotionalen Verbundenheit mit der Bundeswehr, die ihrer Tätigkeit als Soldat Sinnhaftigkeit verleihen sollte. Zentral für das Gelingen dieser Bindung war ihnen, die „soldatische[n] Großtaten unserer Väter und Großväter“ (musikalisch) zu würdigen, denn einen Bruch mit der Wehrmacht fassten die Leserbriefautoren als Abschneiden wichtiger Verbindungslinien zum deutschen Soldatentum auf. Wo der „Staatsbürger in Uniform“ einen neuen, rational handelnden Soldaten verkörpern sollte, wünschten Angehörige der Truppe sich emotionale Führung und die Rolle als ehrenvolle Märtyrer für „Volk und Vaterland“ (zurück), wie sie etwa im Panzerlied besungen wird.

Die Mitarbeiter des Bundesverteidigungsministeriums, dessen Abteilung „Innere Führung“ die Zeitschrift herausgab, hatten hingegen die neue Ausrichtung der Bundeswehr und damit einhergehende Entscheidungen wie die Umgestaltung des Liederbuches zu vertreten. In ihren Erwiderungen stellten sie – zum Teil unterstützt durch Angehörige der Truppe – die eingängigen Soldatenlieder als Werkzeug einer (Kriegs-)Strategie totalitärer Regime dar. Die mitreißenden Melodien und simplen, pathetischen Texte sollten die Soldaten im Nationalsozialismus – und inzwischen auch in der „SBZ“ – körperlich überwältigen und so für ideologische Einflüsse gefügig machen. Von solcherlei gezielter Emotionalisierung versuchte die Bundeswehr sich mit ihrem Konzept der „Inneren Führung“ und dem des „Staatsbürgers in Uniform“ abzugrenzen. Das gemeinschaftliche Singen sollte zwar ein Kollektiv stiften, die Lieder dieses aber gerade nicht mit ideologischem Inhalt füllen.

Freilich versuchten auch die Ministeriumsmitarbeiter die Debatte in ihrem Sinne ideologisch zu instrumentalisieren: Zahlreiche Aufrufe zu Einsendungen und Mitwirkung, ritualisierte Formeln des Dankes und der weiteren Ermunterung in den Antwortbriefen sollten eine Diskussionskultur schaffen, die das Konzept der „Inneren Führung“ vermittelte, indem es praktiziert wurde: Offene Meinungsäußerung statt starrer Befehlshierarchien. Vermeintlich, denn die Inhalte konnten in nicht-öffentlichen Briefen, die ungleich schärfer im Ton waren, durchaus abgestraft werden.

Was die an dem Streit beteiligten Parteien jeweils unter Tradition oder Pathos verstanden, lässt sich anhand der Diskussionen um die dritte Strophe des Panzerliedes nachvollziehen:

 

Wenn vor uns ein feindlicher Panzer erscheint,

dann Vollgas gegeben und ran an den Feind.

Was gilt denn unser Leben für unseres Reiches Heer,

für Deutschland zu sterben ist uns höchste Ehr.

 

Mit diesem Lied verbanden Mitglieder der Truppe den heldenhaften Einsatz ihres Lebens für die Gemeinschaft, die soldatischen Tugenden von Ehre und Treue für das wertbesetzte Volk und Vaterland: Krieg sei nun einmal immanenter Bestandteil des Soldatenerlebens und in diesem Sinne sollte die Truppe keine Kinder- oder Wanderlieder singen, sondern Soldatenlieder. Sei es denn in einer Demokratie keine Ehre mehr, für Deutschland zu sterben?

Die Mitarbeiter des Ministeriums betonten hingegen, dass der Bundeswehrsoldat für einen die ganze Heimat bedrohenden atomaren Krieg gerüstet sein müsse – nicht nur militärisch, sondern etwa auch durch Staatsbürgerkunde. Der Tod sei weniger die „höchste Ehr“, als schlicht ein möglicher Umstand, mit dem der Soldat rechnen müsse.

Am Ende lagen beide Positionen gar nicht so weit auseinander. In der Abteilung „Innere Führung“ stellte man eine Trennung zwischen NS-Regime und Wehrmacht mitnichten infrage. Schon 1960, gut ein Jahr nach Ausbruch des Streits, trat die Nähe zum Militarismus des Dritten Reiches als Grund, die umstrittenen Lieder zu verwerfen, in den Hintergrund. Stattdessen stellte ein Gastautor im Auftrag der Bundeswehrführung die Abgeschmacktheit der Lieder in den Fokus und erhielt dafür auch Rückhalt aus der Truppe: Wer sich gegen das Absingen der immer gleichen „abgedroschenen Militärschnulzen“ stelle, kämpfe nicht etwa „gegen Tradition“, sondern „gegen Einfallslosigkeit“. So wurde die Auseinandersetzung mit Nazismus und Militarismus zweifellos entschärft, aber auch ihres politischen Sinns entkleidet.

Verboten wurde das Singen der diskutierten Lieder zu keinem Zeitpunkt. Lediglich im Liederbuch sollten sie nicht auftauchen. Denn die Öffentlichkeit könne nicht unterscheiden, ob ein Soldat einen gefallenen Familienangehörigen oder den Angriffskrieg besinge.

 

Von der Bereinigung der Liedtexte zu ihrer „Remilitarisierung“

Die Debatte kreiste nur vordergründig um Lieder. Diese funktionierten vielmehr als eine Chiffre, mit der verhandelt wurde, was Militarismus und Soldatentum in der Bundesrepublik bedeuten sollten und durften. Wichtiger Teil dieser Auseinandersetzung war die Frage, wie mit dem emotionalen und ideologischen Erbe der Wehrmacht umgegangen werden sollte. Mit Liedern wie dem Panzerlied wurde nicht nur das verbrecherische NS-Regime verbunden, sondern auch ein Soldatentum angesprochen, das seinen Sinn und Zweck aus Kriegserleben und Aufopferung bezog und daher nicht vereinbar war mit dem besonnenen „Staatsbürger in Uniform“. Teile der Truppe sahen sich mit diesem Wandel – der zeitgleich von der Grußvorschrift bis zur Handhaltung auch viele andere militärische Formen veränderte – entwertet: Ihr möglicher Tod nun nicht mehr heldenhaft, sondern pathetisch, der Ehrgewinn versprechende Krieg ein Tabu, das sie zum Singen von „Kinderliedern“ verdammte.

Franz-Josef Strauß, der 1958 amtierende Verteidigungsminister, schrieb zum Geleit des ersten Liederbuches: „Geist und Haltung der Truppe spiegeln sich in ihren Liedern“. Welcher Art dieser Geist sei, sollte das von NS-Bezügen freie Liederbuch öffentlichkeitswirksam zeigen. Im Bundeswehralltag wurde die Zäsur freilich nicht durchgesetzt. Im Gegenteil: Die mit dem Wehrmachtsgedenken verbundenen unerwünschten Gesangspraktiken wurden bewusst und ungestraft ins Private gedrängt, wo sie sich etablierten. Von dort sollten sie schließlich auch ihren Weg zurück in die offiziellen Publikationen der Institution Bundeswehr finden.

1963 erschien die zweite Auflage des Liederbuchs, die nun auch das Panzerlied enthielt – allerdings ohne die in der Debatte diskutierte dritte Strophe. Mit der dritten Auflage des Liederbuchs von 1976 fand auch das Westerwaldlied seinen Weg in den Kanon der Bundeswehr, wurde allerdings von mahnenden Worten begleitet:

Das Westerwaldlied ist das wohl gekannteste [sic!] Lied der Wehrmacht. Trotz seiner vorzüglichen Eignung für den Marschgesang der Truppe sollte es nur als wichtiges Lied in der Entwicklung des deutschen Soldatenlieds angesehen werden. (S. 19)

Die Anzahl an Soldatenliedern nahm im Verlauf der Neuauflagen zu, die abgedruckten Strophen des Panzerliedes gleichzeitig ab. Es schrumpfte 1991 auf drei (von ursprünglich fünf) Strophen zusammen, in dieser Ausgabe wurde im Kommentar zum Westerwaldlied nun auch auf Kriegsverbrechen verwiesen. Allerdings wurde anders als 1958 die veränderte Liedauswahl der Neuauflagen in der Information für die Truppe nicht mehr thematisiert.

 

 

Das Panzerlied: In den 1950er Jahren nicht abgedruckt, weil es die Körper der Soldaten beim Singen und Hören emotional überwältige.

Die Entwicklung des Liederbuchs verlief damit konträr zu den in der zeithistorischen Forschung postulierten Entwicklungslinien von Gesellschaft und Bundeswehr. Der Wertewandel der langen 1960er Jahre, so die Meinung der meisten Zeithistoriker*innen, spiegele sich auch in der Bundeswehr, wo sich die „Innere Führung“ nicht zuletzt aufgrund des Generationenwechsels schließlich durchgesetzt habe.[3] Die Rückkehr von zuvor aufgrund ihres NS-Bezuges verpönten Soldatenliedern in den 1960er und 1970er Jahren verweist hingegen auf das Ausbleiben eines Durchbruchs demokratischer Vorstellungen auf breiter Front: Vielmehr gewannen nach einer kurzen Phase der Liberalisierung konservative Kräfte erneut an Stärke und sorgten dafür, dass ein gewandelter Militarismus mit einem Mal kompatibel sein konnte mit der „Inneren Führung“ und dem „Staatsbürger in Uniform“.

Die aktuell geführte Diskussion, die die Relevanz der Thematik noch einmal unterstreicht, findet unter der falschen Annahme einer ungebrochenen Traditionslinie statt. Diese „Tradition“ wurde jedoch erst mit den Neuauflagen von 1963, 1976 und 1991 in ihrer heutigen Form erfunden. Diese Erkenntnis mag an dem sorgfältig gepflegten Selbstbild einer sich zunehmend demokratisierenden Gesellschaft rütteln, sie zeigt aber auch, dass die Bundeswehr sich dieser vermeintlich historisch gewachsenen Traditionslinie nicht unterwerfen muss. Sie versetzt die Verantwortlichen und das Gemeinwesen in die Position, selbst zu definieren, wofür die Armee der Bundesrepublik letztlich stehen soll.

 


[1] Siehe Information für die Truppe 13, 1958–10, 1962 passim für Beiträge zum Liederbuch-Streit, die sich mit dem Gegenstand der Lieder beschäftigen. Die darin aufgehende Debatte um Tradition im Allgemeinen geht darüber hinaus.

[2] o. A., Soldaten singen, in: Information für die Truppe 13 (1958), S. 587-590, hier S. 588. Zitate im Folgenden aus den Leserbriefen und Beiträgen: Information für die Truppe 13, 1958–10, 1962 passim.

[3] Siehe bspw. John Zimmermann, Zwischen Reformern und Traditionalisten? Aushandlungsprozesse zum Traditionsverständnis in der Bundeswehr, in: Heiner Möllers / Rudolf J. Schlaffer (Hg.): Sonderfall Bundeswehr? Streitkräfte in nationalen Perspektiven und im internationalen Vergleich, München 2014 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland), S. 295–310, hier S. 300.

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Militarisierung statt Liberalisierung?

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Rechtes Liedgut im Liederbuch der Bundeswehr seit den 1950er Jahren

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