Im Winter 1971 kommt Andrew Birkin nach Heidelberg. Der britische Drehbuchautor will mit Albert Speer sprechen. Die Produktionsfirma Paramount Pictures plant eine Verfilmung der 1969 erschienenen „Erinnerungen“ des Architekten und ehemaligen NS-Rüstungsministers. Birkin und Speer sollen gemeinsam am Skript arbeiten.
Zu diesem Zeitpunkt ist Speer bereits wieder zu einigem Ansehen gelangt, als Erfolgsautor, der aus dem engsten Kreis um Hitler berichten kann, sich aber dennoch von den anderen Nazis unterschieden haben will. Im Nürnberger Prozess hatte er vage eine „Gesamtverantwortung“ übernommen, eine Beteilung an konkreten Verbrechen jedoch bestritten. Das Interesse an Speer beschränkt sich nicht auf die Bundesrepublik: Schon 1948 hatte sich der amerikanische Verlag Alfred A. Knopf erkundigt, ob er seine Memoiren plane. In der Nacht seiner Haftentlassung warten im Oktober 1966 Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt vor dem Spandauer Gefängnis. 1969 erscheinen die „Erinnerungen“ in Deutschland; die englische Ausgabe „Inside the Third Reich“ kommt ein Jahr später auf den Markt.
Das Buch ist auch in den Vereinigten Staaten ein großer Erfolg, wobei es dort kritischer aufgenommen wird als in der Bundesrepublik: Speers Behauptung, er habe von der Vernichtung der europäischen Juden nichts gewusst, die Position, seine Arbeit habe sich auf fachliche und technische Tätigkeiten beschränkt, stoßen auf Skepsis.[1] Dennoch ist die Faszination auch jenseits des Atlantiks so groß, dass man sich in Hollywood für die Filmrechte interessiert.
Auf der diesjährigen Berlinale hat nun eine Dokumentation der israelischen Regisseurin Vanessa Lapa Weltpremiere gefeiert. Den Kern von „Speer Goes to Hollywood“ bilden von Schauspielern nachgesprochene Tonbandaufnahmen der Gespräche zwischen Birkin und Speer. Die Auswahl aus der vierzigstündigen Unterhaltung ist mit historischem Filmmaterial unterlegt. Man sieht Speer in seinem Garten spazieren, aber auch Aufnahmen vom Berghof, aus dem Konzentrationslager Mauthausen oder vom Nürnberger Prozess. Bilder aus Rüstungsfabriken, von toten KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern werden ebenfalls gezeigt.
Das Gespräch orientiert sich an Speers Lebenslauf, genauer: an dem Narrativ, das er in seinen Memoiren entworfen hat. Es geht um den Aufstieg des jungen Architekten zum erfolgreichen Rüstungsminister und Vertrauten Hitlers. Auch von Speers Antisemitismus gewinnt man einen Eindruck: „Ich habe kein Wohlwollen für die, die auf so kurzem Wege zu Geld kommen und dann die Neureichen spielen in den Tanzbars in Berlin und so. Aber das war kein antisemitisches Gefühl. Es war eher ein Gefühl des Ekels.“
Einen Schwerpunkt legt der Film auf die Millionen Zwangsarbeiter, die unter Speers Ägide ausgebeutet wurden, in der Rüstungsproduktion beispielsweise oder in der Organisation Todt. Gegenüber Birkin erläutert Speer, wie er im Nürnberger Prozess „scharfsinniger“ habe agieren müssen als der für die Organisation ausländischer Arbeitskräfte zuständige Fritz Sauckel. Speers Verteidigung zielte darauf, dem ehemaligen Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz die Hauptverantwortung am Zwangsarbeiterprogramm anzulasten; gegen Sauckel wurde in Nürnberg die Todesstrafe verhängt, Speer kam mit zwanzig Jahren Haft davon.
Die Arbeit am Drehbuch bringt Tücken mit sich. Speer hatte immer bestritten, von der Judenvernichtung gewusst zu haben. Sobald das Thema zur Sprache kommt, wird es kompliziert. Wie soll man Speers Besuch im Konzentrationslager Mauthausen darstellen? Zeigt man die Gaskammer, nachdem er das KZ wieder verlassen hat? Wer sitzt im Publikum, wenn Heinrich Himmler in seiner Posener Rede über die Vernichtungspolitik spricht? Speer behauptete später, er sei bereits vorher aus Posen abgereist. Zu Birkin sagt er, er könne sich nicht erinnern. Und: „Wenn der Film wie ein Drama wirkt, kann ich sagen: Nein, es ist nur ein Spielfilm. Es ist ein Film, nicht die Wahrheit. Ich war in Wirklichkeit nicht dabei. Aber wenn es ein Dokumentarfilm ist, dann wird es schwierig.“
Zwischen den Sitzungen mit Speer tauscht Birkin sich mit dem Regisseur Carol Reed aus, der das Skript gelesen hat. Reed findet, Speer werde im Drehbuch reingewaschen: „Er ist kein Träumer, der nur wunderbare Bauwerke errichten wollte.“ Auch Paramount beschwert sich, die Vernichtung komme nur auf zwei von über zweihundert Seiten vor. Letztendlich lässt man das Projekt fallen. 1982, ein Jahr nach Speers Tod, strahlt dann der US-Sender ABC eine Verfilmung der Autobiografie aus, die Miniserie „Inside the Third Reich“. In dieser Zeit gerät die positive Wahrnehmung Speers in der Bundesrepublik zum ersten Mal ins Wanken.[2] Wirklich verändern wird sich das Speer-Bild einer breiteren Öffentlichkeit jedoch erst in den Nullerjahren.[3]
Vanessa Lapa ist ein bemerkenswerter, ja ausgezeichneter Film gelungen, unaufgeregt und eindringlich. Es geht nicht um Speer und Hitler oder darum, ein vollständiges historisches Bild seiner Verbrechen zu liefern. Lapa muss gar nicht jede einzelne Lüge Speers aufdecken, veranschaulicht sie doch sein Vorgehen. Und sie lässt die Bilder den Tonbandaufnahmen widersprechen. Was diesen Film so bedeutsam macht und der Auseinandersetzung mit Speer etwas Neues hinzufügt: Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden Zeugen, wie er an seinem Mythos arbeitet.
„Speer Goes to Hollywood“ handelt von einem Übersetzungsprozess. Wie macht man aus einem Buch einen Film? Vor allem erzählt Vanessa Lapa jedoch die Geschichte einer Inszenierung: Der Protagonist und der Drehbuchautor handeln aus, wie die Geschichte erzählt werden soll. Albert Speer hatte einen Spielfilm vor Augen. Ein Gemälde sei besser als eine Fotografie.
Speer Goes to Hollywood
Regie: Vanessa Lapa
Israel 2020
97 Minuten
[1] Vgl. u. a. Lucy Dawidowicz, In Hitler’s Service, in: Commentary, November 1970; Geoffrey Barraclough, Hitler’s Master Builder, in: The New York Review of Books, 7. Januar 1971.
[2] Vgl. Matthias Schmidt, Albert Speer: Das Ende eines Mythos. Speers wahre Rolle im Dritten Reich, München 1982.
[3] Vgl. u. a. Florian Freund, Bertrand Perz, Karl Stuhlpfarrer, Der Bau des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Die Aktenmappe der Zentralbauleitung Auschwitz „Vorhaben: Kriegsgefangenenlager Auschwitz (Durchführung der Sonderbehandlung)“ im Militärhistorischen Archiv Prag., in: Zeitgeschichte, Jg. 20 (1993), H. 5/6, S. 187–214; Susanne Willems, Der entsiedelte Jude: Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau, Berlin 2002; Heinrich Breloer, Die Akte Speer. Spuren eines Kriegsverbrechers, Berlin 2006.
„Es ist ein Film, nicht die Wahrheit“
Albert Speers Arbeit am Mythos