Margaret Thatcher soll einmal gesagt haben, dass die Menschen alle dreißig Jahre etwas radikal Neues wollen. In dieser Lesart wäre es folgerichtig, dreißig Jahre nach dem letzten großen historischen Einschnitt auch Deutungen der Geschichte neu zu kontextualisieren. Nicht ohne Grund erleben wir aktuell, dass die Ereignisse der Friedlichen Revolution, der Deutschen Einheit und der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung auch in den Fokus historischer Betrachtungen geraten. Der Abstand von einer Generation bedeutet, dass wir nunmehr allmählich von der Perspektive der Erinnerung in die Perspektive des Historisierens übertreten.
Wagen wir einmal einen Blick zurück: Auch der Umgang mit der NS-Geschichte verlief in verschiedenen Etappen. Es brauchte über zehn Jahre, bis es etwa mit Filmen wie „Rosen für den Staatsanwalt“ erste Formen der Auseinandersetzung gab. Die Auschwitz-Prozesse, der Umgang mit der Erstausstrahlung der Reihe „Holocaust“ oder auch die Frage nach dem Umgang mit dem 8. Mai – all dies waren Episoden in einem jahrzehntelangen Ringen um den Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Was allgemein als Errungenschaft von „68“ gewertet wird, nämlich ein Wandel im Umgang mit der Vergangenheit, um daraus auch ein neues Selbstverständnis für die Gegenwart abzuleiten, war in Wirklichkeit ein mühsamer Prozess, der bereits früher begann und länger als einen Protestsommer andauerte. Die Debatten um die Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1985 oder der Historikerstreit der 1980er Jahre zeigten, wie hart selbst fast zwei Generationen nach Kriegsende noch um ein Geschichtsbild gerungen wurde. Die Auseinandersetzung über das Selbstbild, den Umgang mit Geschichte und den Folgerungen daraus sind eine jahrzehntelange Arbeit ist, die mit dem Abstand einer Generation eher beginnt, als das sie endet.
Ein Ostdeutsches 1968
Insofern stehen wir heute inmitten einer Art „ostdeutschen 1968“. Es geht dabei letztlich um die Frage, was Ost- und Mitteldeutschland heute ausmacht. Und darum, was davon auf welche Ursachen zurückzuführen ist. Denn dass sich Landstriche unterscheiden, ist zunächst eher die Regel als die Ausnahme. Auch vor 100 Jahren hat die Uckermark von der Schwäbischen Alb vieles getrennt. Der größte Unterschied lag vielleicht darin, dass es noch keine Demoskopen gab, die uns dies wöchentlich vor Augen geführt hatten. Neben all dem Trennenden auch innerhalb der Neuen Länder gibt es aber strukturelle Themen, die uns einen: Dies sind z.B. geringere Vermögen, größere biographische Brüche, weniger Präsenz in Führungspositionen, eine ländlichere Siedlungsstruktur mit allen Folgen wie weiten Schulwegen, schlechterem Internet oder ungünstigerer medizinischen Versorgung. Dies ließe sich fortsetzen. Für all dies sind auch mit dem Abstand von dreißig Jahren die Mehrzahl der Gründe in der Zeit vor 1989 zu suchen. Insofern ist der Versuch lohnend, die Zeit seit 1990 genauer zu betrachten. Alles andere hätte ein „Überfahren“ des Ostens mit all seinen Erfahrungen und Schätzen bedeutet und eine Perspektivverschiebung zur Folge, die in die Irre führen kann.
Eine Revolution und ein Umbruch dieser Dimension hatte natürlich Schattenseiten und auch tiefschwarze Abgründe. Für viele Menschen waren die unmittelbare Erfahrung des Endes der DDR und das Chaos der ersten Jahre nicht nur mit Aufbruch, Freiheit und Wiedervereinigung verbunden, sondern vor allem mit Ungewissheit und Orientierungslosigkeit. Das Ende der DDR und die Wiedervereinigung sind Weltgeschichte – und zugleich millionenfach persönlich erlebte Geschichte, von Görlitz bis nach Bischofferode. „Im Kleinen bleibt Geschichte unentschieden“, hat Christoph Dieckmann einmal formuliert. Die Politik hat im eigenen Glück des historischen Gelingens manche Probleme ignoriert. Und so blieben Wertschätzung und Anerkennung mitunter auf der Strecke. Zu schnell wollte man das westliche System im Osten verwirklicht sehen.
Politiker sind nicht die besseren Historiker
Lange genug herrschten in Politik und Medien ein „Westblick“. Nur bei Problemen richtet sich der Spot kurz und grell auf den Osten – danach folgt westdeutsch geprägte Normalität, in der der Osten lediglich die Rolle eines Anhängsels spielt, politisch und wirtschaftlich.
Dass für die Geschichtswissenschaft die Epochenwende von 1989/90 allmählich mehr in den Blick rückt, ist eine logische Folge der üblichen zeitgeschichtlichen Achsverschiebung. Insofern bedarf es nicht politischer oder feuilletonistischer Zusatzinterpretationen. Ich für meinen Teil glaube zumindest nicht, dass Politiker*innen die besseren Historiker*innen sind. Ich vertraue stattdessen auf die wissenschaftliche Arbeit, die nach und nach Themen für sich entdeckt. Die Öffnung von Akten, wie etwa im Fall der Treuhand, ist deshalb wichtig und wird Anstoß für viele weitere Forschungen sein.
Von der Erinnerung zum Gedenken
Wenn wir einen Blick voraus wagen, so wird sich der Umgang mit der Geschichte vor 1989 ebenso wie nach 1989 sicher weiter verändern. Für die Zeit vor 1989 gilt: Wir bewegen uns nach und nach von der Erinnerung zum Gedenken. Es gibt weniger Zeitzeug*innen, die uns beispielsweise darüber berichten können, was Stalinismus in der DDR bedeutet, wie es zum 17. Juni 1953 kam und was die Folgen waren oder was der Mauerbau bedeutete. Umso intensiver müssen wir die nächsten Jahre nutzen, um all diesen Dingen weiter Gehör zu verschaffen. Aber umso wichtiger ist es auch, die dauerhaften Grundlagen dafür zu legen, dass Erinnerungen bewahrt bleiben können und das Fundament für Gedenkarbeit legen können. Eine der Aufgaben der heuten Stasiunterlagen-Behörde, die Akteneinsicht für Betroffene, verliert ganz sicher an Bedeutung. Die Arbeit einer solchen Institution, insbesondere auch nach einer erfolgten Neuausrichtung, verliert aber nicht an Aktualität – gerade in einer Zeit, in der wir um uns herum sehen, wie schnell Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in anderen Kontexten wieder unter Druck geraten können.
Das Entscheidende aber scheint mir zu sein: Die Neujustierung der Betrachtungswinkel bietet eine Chance, ein gemeinsames Geschichtsbuch zu öffnen. Trotz des Trennenden kann man die Zeit vor 1989 auch als eine gemeinsame in zwei verschiedenen Staaten und Systemen begreifen und die Revolution von 1989/90 als Ausgangpunkt etwas gemeinsam Neuen.
Margaret Thatcher soll einmal gesagt haben, dass die Menschen alle dreißig Jahre etwas radikal Neues wollen. In dieser Lesart wäre es folgerichtig, dreißig Jahre nach dem letzten großen historischen Einschnitt auch Deutungen der Geschichte neu zu kontextualisieren. Nicht ohne Grund erleben wir aktuell, dass die Ereignisse der Friedlichen Revolution, der Deutschen Einheit und der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung auch in den Fokus historischer Betrachtungen geraten. Der Abstand von einer Generation bedeutet, dass wir nunmehr allmählich von der Perspektive der Erinnerung in die Perspektive des Historisierens übertreten.
Wagen wir einmal einen Blick zurück: Auch der Umgang mit der NS-Geschichte verlief in verschiedenen Etappen. Es brauchte über zehn Jahre, bis es etwa mit Filmen wie „Rosen für den Staatsanwalt“ erste Formen der Auseinandersetzung gab. Die Auschwitz-Prozesse, der Umgang mit der Erstausstrahlung der Reihe „Holocaust“ oder auch die Frage nach dem Umgang mit dem 8. Mai – all dies waren Episoden in einem jahrzehntelangen Ringen um den Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Was allgemein als Errungenschaft von „68“ gewertet wird, nämlich ein Wandel im Umgang mit der Vergangenheit, um daraus auch ein neues Selbstverständnis für die Gegenwart abzuleiten, war in Wirklichkeit ein mühsamer Prozess, der bereits früher begann und länger als einen Protestsommer andauerte. Die Debatten um die Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1985 oder der Historikerstreit der 1980er Jahre zeigten, wie hart selbst fast zwei Generationen nach Kriegsende noch um ein Geschichtsbild gerungen wurde. Die Auseinandersetzung über das Selbstbild, den Umgang mit Geschichte und den Folgerungen daraus sind eine jahrzehntelange Arbeit ist, die mit dem Abstand einer Generation eher beginnt, als das sie endet.
Ein Ostdeutsches 1968
Insofern stehen wir heute inmitten einer Art „ostdeutschen 1968“. Es geht dabei letztlich um die Frage, was Ost- und Mitteldeutschland heute ausmacht. Und darum, was davon auf welche Ursachen zurückzuführen ist. Denn dass sich Landstriche unterscheiden, ist zunächst eher die Regel als die Ausnahme. Auch vor 100 Jahren hat die Uckermark von der Schwäbischen Alb vieles getrennt. Der größte Unterschied lag vielleicht darin, dass es noch keine Demoskopen gab, die uns dies wöchentlich vor Augen geführt hatten. Neben all dem Trennenden auch innerhalb der Neuen Länder gibt es aber strukturelle Themen, die uns einen: Dies sind z.B. geringere Vermögen, größere biographische Brüche, weniger Präsenz in Führungspositionen, eine ländlichere Siedlungsstruktur mit allen Folgen wie weiten Schulwegen, schlechterem Internet oder ungünstigerer medizinischen Versorgung. Dies ließe sich fortsetzen. Für all dies sind auch mit dem Abstand von dreißig Jahren die Mehrzahl der Gründe in der Zeit vor 1989 zu suchen. Insofern ist der Versuch lohnend, die Zeit seit 1990 genauer zu betrachten. Alles andere hätte ein „Überfahren“ des Ostens mit all seinen Erfahrungen und Schätzen bedeutet und eine Perspektivverschiebung zur Folge, die in die Irre führen kann.
Eine Revolution und ein Umbruch dieser Dimension hatte natürlich Schattenseiten und auch tiefschwarze Abgründe. Für viele Menschen waren die unmittelbare Erfahrung des Endes der DDR und das Chaos der ersten Jahre nicht nur mit Aufbruch, Freiheit und Wiedervereinigung verbunden, sondern vor allem mit Ungewissheit und Orientierungslosigkeit. Das Ende der DDR und die Wiedervereinigung sind Weltgeschichte – und zugleich millionenfach persönlich erlebte Geschichte, von Görlitz bis nach Bischofferode. „Im Kleinen bleibt Geschichte unentschieden“, hat Christoph Dieckmann einmal formuliert. Die Politik hat im eigenen Glück des historischen Gelingens manche Probleme ignoriert. Und so blieben Wertschätzung und Anerkennung mitunter auf der Strecke. Zu schnell wollte man das westliche System im Osten verwirklicht sehen.
Politiker sind nicht die besseren Historiker
Lange genug herrschten in Politik und Medien ein „Westblick“. Nur bei Problemen richtet sich der Spot kurz und grell auf den Osten – danach folgt westdeutsch geprägte Normalität, in der der Osten lediglich die Rolle eines Anhängsels spielt, politisch und wirtschaftlich.
Dass für die Geschichtswissenschaft die Epochenwende von 1989/90 allmählich mehr in den Blick rückt, ist eine logische Folge der üblichen zeitgeschichtlichen Achsverschiebung. Insofern bedarf es nicht politischer oder feuilletonistischer Zusatzinterpretationen. Ich für meinen Teil glaube zumindest nicht, dass Politiker*innen die besseren Historiker*innen sind. Ich vertraue stattdessen auf die wissenschaftliche Arbeit, die nach und nach Themen für sich entdeckt. Die Öffnung von Akten, wie etwa im Fall der Treuhand, ist deshalb wichtig und wird Anstoß für viele weitere Forschungen sein.
Von der Erinnerung zum Gedenken
Wenn wir einen Blick voraus wagen, so wird sich der Umgang mit der Geschichte vor 1989 ebenso wie nach 1989 sicher weiter verändern. Für die Zeit vor 1989 gilt: Wir bewegen uns nach und nach von der Erinnerung zum Gedenken. Es gibt weniger Zeitzeug*innen, die uns beispielsweise darüber berichten können, was Stalinismus in der DDR bedeutet, wie es zum 17. Juni 1953 kam und was die Folgen waren oder was der Mauerbau bedeutete. Umso intensiver müssen wir die nächsten Jahre nutzen, um all diesen Dingen weiter Gehör zu verschaffen. Aber umso wichtiger ist es auch, die dauerhaften Grundlagen dafür zu legen, dass Erinnerungen bewahrt bleiben können und das Fundament für Gedenkarbeit legen können. Eine der Aufgaben der heuten Stasiunterlagen-Behörde, die Akteneinsicht für Betroffene, verliert ganz sicher an Bedeutung. Die Arbeit einer solchen Institution, insbesondere auch nach einer erfolgten Neuausrichtung, verliert aber nicht an Aktualität – gerade in einer Zeit, in der wir um uns herum sehen, wie schnell Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in anderen Kontexten wieder unter Druck geraten können.
Das Entscheidende aber scheint mir zu sein: Die Neujustierung der Betrachtungswinkel bietet eine Chance, ein gemeinsames Geschichtsbuch zu öffnen. Trotz des Trennenden kann man die Zeit vor 1989 auch als eine gemeinsame in zwei verschiedenen Staaten und Systemen begreifen und die Revolution von 1989/90 als Ausgangpunkt etwas gemeinsam Neuen.
Aufarbeitung Ostdeutschland – Eine Standortbestimmung