Der 3. Oktober 2010 war der zwanzigste Jahrestag der deutschen Einheit. Ursprünglich sollte auch das Spiel 1378 (km) an diesem Tag erscheinen. Doch entspann sich im Vorfeld der Veröffentlichung eine scharfe Kontroverse um das Spiel und seine Inhalte, so dass das Erscheinungsdatum auf Dezember desselben Jahres verschoben wurde.
Der Entwickler des Spiels, Jens M. Stober, zu diesem Zeitpunkt Student an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, erklärte, dass das Spiel Jugendlichen einen neuen Zugang zur deutschen Geschichte vermitteln und eben nicht nur Spaß machen solle.[1] Diesen Eindruck erweckte der vor der Veröffentlichung des Spiels erschienene Trailer in der Öffentlichkeit jedoch nicht.[2] Zahlreiche JournalistInnen und PolitikerInnen kritisierten das Spiel aufgrund ebendieses Trailers: Die Zeitung Bild bezeichnete das Spiel als „widerwärtiges DDR-Ballerspiel“[3], die damalige Vorsitzende der Linken, Gesine Lötzsch, nannte es „geschmacklos und dumm“, Markus Meckel von der SPD wählte die Worte „makaber und skandalös“[4]. Opferverbände äußerten sich ebenfalls kritisch über das Spiel. So etwa der Leiter der Stiftung Berliner Mauer, Axel Klausmeier, der das Spiel ebenfalls als „geschmacklos“ bezeichnete.[5] Die Berliner Staatsanwaltschaft leitete sogar ein Ermittlungsverfahren gegen die Entwickler ein und überprüfte, ob der Tatbestand der Gewaltverherrlichung vorliege. Aufgrund mangelnder Verdachtsmomente wurde das Verfahren jedoch schließlich eingestellt[6].
In 1378 (km) schlüpfen jeweils bis zu 16 SpielerInnen in die Rolle eines ostdeutschen Grenzsoldaten oder eines Republikflüchtling. Für die Soldaten ist das Ziel des Spiels das Erschießen oder Verhaften von „Grenzverletzern“ (siehe Abb. 1). Flüchtlinge dagegen müssen über die Grenzanlagen in die Bundesrepublik entkommen (siehe Abb.2). Sowohl Flüchtlinge als auch Deserteure finden sich bei erfolgreicher Flucht in einem typisch westdeutsch eingerichteten Wohnzimmer der Bundesrepublik wieder.
Während die reale Zahl der gescheiterten Fluchten über die Mauer bis heute nicht genau festgelegt werden kann, gehen Schätzungen von etwa 5000 gelungenen Fluchtversuchen aus.[7] Die Zahl der Toten an und wegen der Mauer unterscheidet sich je nach Definition. Die genaue Anzahl von Toten ist bis heute ein kontroverses Thema, wobei eine Studie der Stiftung Berliner Mauer und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, fertiggestellt 2017, von 387 Toten an der innerdeutschen Grenze ausgeht.[8]
Gelingt es einem Grenzsoldaten im Spiel einen Flüchtling zu erschießen, so erscheint auf dem Bildschirm folgender Text eingeblendet: „Belohnung: Bestenabzeichen der NVA! Erfolgreicher Dienst an der Grenze!“ (siehe Abb. 3) Durch wiederholtes Erschießen von Grenzflüchtlingen landet man jedoch auf der Anklagebank eines Gerichtsaals im Jahr 2000 (siehe Abb. 4).
Der darauffolgende Prozess endet schließlich mit einer Verurteilung in einem Mauerschützenprozess und einem entsprechenden Punkteverlust. Auch hier schlägt das Spiel eine Brücke zur Realität, denn die Mauerschützenprozesse wurden in der Tat bis auf wenige Ausnahmen zwischen 1991 und 2004 geführt. Dabei wurden nicht nur die Schützen angeklagt, sondern auch die Befehlsgeber und führende SED-Politiker. So wurde etwa der Verteidigungsminister der DDR Heinz Keßler zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt, der Nachfolger Erich Honeckers Egon Krenz, sowie der frühere Grenztruppen-Chef Klaus-Dieter Baumgarten zu jeweils sechseinhalb Jahren Haft.[9]
Insgesamt wurden 112 Prozesse gegen 246 Personen geführt – dabei kam es zu einer Höchststrafe von zehn Jahren Haft für den Mord an Walter Kittel, der mit 30 Schüssen hingerichtet worden war. Gleichzeitig gab es mehr als 60 Freisprüche; die übrigen Angeklagten wurden größtenteils zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt.
Trotz der zunächst heftigen Kritik an 1378 (km) wird das Spiel seit seiner Veröffentlichung zumindest in der ‚Gaming Community‘ durchweg positiv bewertet: Mittlerweile wurde es mehr als 750.000 Mal heruntergeladen und von Computerbild Spiele und der Welt als eines der besten Spiele der letzten 25 Jahre ausgezeichnet.[10] In zahlreichen Ausstellungen weltweit werden das Spiel und seine Geschichte thematisiert, unter anderem im Computerspiele Museum in Berlin (2011), in DOX Prag: The Lucifer Effect (2011), in Games for Change: Australia & New Zealand (2012) und zuletzt im ZKM Karlsruhe: ZKM_GamePlay (2013 – 2015).
Für breite Teile der deutschen Gesellschaft, ebenso wie für die politische Elite war es jedoch bei seinem Erscheinen ausschließlich Ausdruck eines unsensiblen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit.
[1] Vgl. Ballerspiel mit Mauerschützen."1378 (km)" - Computerspiel zur Deutschen Einheit, in: Stern vom 29.09.2010 [21.9.2017].
[2] Der Trailer findet sich online auf Vimeo [21.09.2017].
[3] Piechotta/Scholz: Wann wird das widerwärtige DDR-Ballerspiel verboten? Schüsse am Todesstreifen als Online-Spiel, in: BILD vom 29.09.2010 [21.09.2017].
[4] Zitiert nach Schneider, Fritz Christian: »Mauer-Shooter« – Strafanzeige gegen Entwickler von »1378 km«?, in: Gamestar vom 30.09.2010 [21.09.2017].
[5] Vgl. Venzky, Hellmuth: Grenzflucht ist kein Spiel. 1378 km, in: Zeit online vom 01.10.2010 [21.09.2017].
[6] Vgl. "1378 km"-Ermittlungen eingestellt. Mauerschützenspiel, in: Focus online vom 01.02.2011 [21.09.2017].
[7] Vgl. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Stiftung Berliner Mauer (Hg.): Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989: Ein biographisches Handbuch. Berlin 2009.
[8] Vgl. ebd.
[9] Zur Geschichte der Mauerschützenprozesse vgl. R. Grafe: Deutsche Gerechtigkeit. Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber. München 2004.
[10] Vgl. die Website des Comuterspiels "1378 km" [21.09.2017].
Veröffentlicht am 20. Dezember 2017
Der 3. Oktober 2010 war der zwanzigste Jahrestag der deutschen Einheit. Ursprünglich sollte auch das Spiel 1378 (km) an diesem Tag erscheinen. Doch entspann sich im Vorfeld der Veröffentlichung eine scharfe Kontroverse um das Spiel und seine Inhalte, so dass das Erscheinungsdatum auf Dezember desselben Jahres verschoben wurde.
Der Entwickler des Spiels, Jens M. Stober, zu diesem Zeitpunkt Student an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, erklärte, dass das Spiel Jugendlichen einen neuen Zugang zur deutschen Geschichte vermitteln und eben nicht nur Spaß machen solle.[1] Diesen Eindruck erweckte der vor der Veröffentlichung des Spiels erschienene Trailer in der Öffentlichkeit jedoch nicht.[2] Zahlreiche JournalistInnen und PolitikerInnen kritisierten das Spiel aufgrund ebendieses Trailers: Die Zeitung Bild bezeichnete das Spiel als „widerwärtiges DDR-Ballerspiel“[3], die damalige Vorsitzende der Linken, Gesine Lötzsch, nannte es „geschmacklos und dumm“, Markus Meckel von der SPD wählte die Worte „makaber und skandalös“[4]. Opferverbände äußerten sich ebenfalls kritisch über das Spiel. So etwa der Leiter der Stiftung Berliner Mauer, Axel Klausmeier, der das Spiel ebenfalls als „geschmacklos“ bezeichnete.[5] Die Berliner Staatsanwaltschaft leitete sogar ein Ermittlungsverfahren gegen die Entwickler ein und überprüfte, ob der Tatbestand der Gewaltverherrlichung vorliege. Aufgrund mangelnder Verdachtsmomente wurde das Verfahren jedoch schließlich eingestellt[6].
In 1378 (km) schlüpfen jeweils bis zu 16 SpielerInnen in die Rolle eines ostdeutschen Grenzsoldaten oder eines Republikflüchtling. Für die Soldaten ist das Ziel des Spiels das Erschießen oder Verhaften von „Grenzverletzern“ (siehe Abb. 1). Flüchtlinge dagegen müssen über die Grenzanlagen in die Bundesrepublik entkommen (siehe Abb.2). Sowohl Flüchtlinge als auch Deserteure finden sich bei erfolgreicher Flucht in einem typisch westdeutsch eingerichteten Wohnzimmer der Bundesrepublik wieder.
Während die reale Zahl der gescheiterten Fluchten über die Mauer bis heute nicht genau festgelegt werden kann, gehen Schätzungen von etwa 5000 gelungenen Fluchtversuchen aus.[7] Die Zahl der Toten an und wegen der Mauer unterscheidet sich je nach Definition. Die genaue Anzahl von Toten ist bis heute ein kontroverses Thema, wobei eine Studie der Stiftung Berliner Mauer und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, fertiggestellt 2017, von 387 Toten an der innerdeutschen Grenze ausgeht.[8]
Gelingt es einem Grenzsoldaten im Spiel einen Flüchtling zu erschießen, so erscheint auf dem Bildschirm folgender Text eingeblendet: „Belohnung: Bestenabzeichen der NVA! Erfolgreicher Dienst an der Grenze!“ (siehe Abb. 3) Durch wiederholtes Erschießen von Grenzflüchtlingen landet man jedoch auf der Anklagebank eines Gerichtsaals im Jahr 2000 (siehe Abb. 4).
Der darauffolgende Prozess endet schließlich mit einer Verurteilung in einem Mauerschützenprozess und einem entsprechenden Punkteverlust. Auch hier schlägt das Spiel eine Brücke zur Realität, denn die Mauerschützenprozesse wurden in der Tat bis auf wenige Ausnahmen zwischen 1991 und 2004 geführt. Dabei wurden nicht nur die Schützen angeklagt, sondern auch die Befehlsgeber und führende SED-Politiker. So wurde etwa der Verteidigungsminister der DDR Heinz Keßler zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt, der Nachfolger Erich Honeckers Egon Krenz, sowie der frühere Grenztruppen-Chef Klaus-Dieter Baumgarten zu jeweils sechseinhalb Jahren Haft.[9]
Insgesamt wurden 112 Prozesse gegen 246 Personen geführt – dabei kam es zu einer Höchststrafe von zehn Jahren Haft für den Mord an Walter Kittel, der mit 30 Schüssen hingerichtet worden war. Gleichzeitig gab es mehr als 60 Freisprüche; die übrigen Angeklagten wurden größtenteils zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt.
Trotz der zunächst heftigen Kritik an 1378 (km) wird das Spiel seit seiner Veröffentlichung zumindest in der ‚Gaming Community‘ durchweg positiv bewertet: Mittlerweile wurde es mehr als 750.000 Mal heruntergeladen und von Computerbild Spiele und der Welt als eines der besten Spiele der letzten 25 Jahre ausgezeichnet.[10] In zahlreichen Ausstellungen weltweit werden das Spiel und seine Geschichte thematisiert, unter anderem im Computerspiele Museum in Berlin (2011), in DOX Prag: The Lucifer Effect (2011), in Games for Change: Australia & New Zealand (2012) und zuletzt im ZKM Karlsruhe: ZKM_GamePlay (2013 – 2015).
Für breite Teile der deutschen Gesellschaft, ebenso wie für die politische Elite war es jedoch bei seinem Erscheinen ausschließlich Ausdruck eines unsensiblen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit.
[1] Vgl. Ballerspiel mit Mauerschützen."1378 (km)" - Computerspiel zur Deutschen Einheit, in: Stern vom 29.09.2010 [21.9.2017].
[2] Der Trailer findet sich online auf Vimeo [21.09.2017].
[3] Piechotta/Scholz: Wann wird das widerwärtige DDR-Ballerspiel verboten? Schüsse am Todesstreifen als Online-Spiel, in: BILD vom 29.09.2010 [21.09.2017].
[4] Zitiert nach Schneider, Fritz Christian: »Mauer-Shooter« – Strafanzeige gegen Entwickler von »1378 km«?, in: Gamestar vom 30.09.2010 [21.09.2017].
[5] Vgl. Venzky, Hellmuth: Grenzflucht ist kein Spiel. 1378 km, in: Zeit online vom 01.10.2010 [21.09.2017].
[6] Vgl. "1378 km"-Ermittlungen eingestellt. Mauerschützenspiel, in: Focus online vom 01.02.2011 [21.09.2017].
[7] Vgl. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Stiftung Berliner Mauer (Hg.): Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989: Ein biographisches Handbuch. Berlin 2009.
[8] Vgl. ebd.
[9] Zur Geschichte der Mauerschützenprozesse vgl. R. Grafe: Deutsche Gerechtigkeit. Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber. München 2004.
[10] Vgl. die Website des Comuterspiels "1378 km" [21.09.2017].
Darf man Republikflüchtlinge erschießen?
Der Mauer-Shooter 1378 (km) aus dem Jahre 2010 und die Erinnerung an das geteilte Deutschland