Drei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 rücken deren oft nur schwer überschaubare Nachgeschichten mit Macht wieder ins Blickfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Fortbestehende Ost-West-Differenzen sowie populistische Wahlerfolge werden als Symptome einer noch immer nicht erreichten „Inneren Einheit“ gedeutet. Dementsprechend finden sich Behauptungen und Vermutungen über „Ostdeutsche“ derzeit wieder gehäuft – sei es in Talkshows, in Zeitungen, im Internet, auf Familienfesten oder auch am Stammtisch. Sehr schnell wird dabei die ostdeutsche Vergangenheit zur Erklärung gegenwärtiger Probleme sowie fortbestehender Differenzen herangezogen. Während ein Lager die mentalen Langzeitfolgen sowie das schwierige Erbe der repressiven SED-Diktatur hierfür verantwortlich macht, verweisen andere vehement auf die durch neoliberale Transformationsstrategien ausgelösten, schockartigen Umbruchserfahrungen nach 1990. Gerade jenseits dieser beiden geschichtspolitischen Pole lohnt ein differenzierter Blick auf die jüngste Vergangenheit. Die Frage steht im Raum, was die zeithistorische Forschung zu dem Thema Neues beitragen kann. In diesem Dossier wollen wir eine facettenreiche Bestandsaufnahme aktueller geschichtswissenschaftlicher Forschungen zu Beginn des erwartbaren Jubiläumsreigens 2019/20 wagen und eruieren, welche neuen Deutungsangebote es gibt. Zugleich geht der Blick über die eigene Disziplin hinaus, indem danach gefragt wird, was andere von der Geschichtswissenschaft erwarteten oder erhofften.
Während in den 1990er-Jahren vor allem Sozialwissenschaftler*innen zu beziehungsweise über Ostdeutschland forschten, haben Historiker*innen die so genannte Transformationsgeschichte erst vor wenigen Jahren als ihr Sujet entdeckt. Gleichsam inspiriert von Ost-West-Begegnungen, Forschungen zu Ostmittel- und Südosteuropa oder anderen Gesellschaften, die umfassende Systemwechsel bewältigten, haben sich so neue Forschungsfragen entwickelt. Der Begriff der Transformation ist derzeit alles andere als gefestigt. Während der Begriff unspezifisch für verschiedenste Prozesse verwendet wird, die (sozialen und strukturellen) Wandel umfassen, bevorzugt ein anderer Vorschlag eine engere Definition. Diese betont die Gleichzeitigkeit der durch einen politischen Systemwechsel bedingten Veränderungen betont, den die historischen Akteure alle auf einmal in kurzer Zeit bewältigen mussten. Darunter können in der Geschichte verschiedenste Phänomene gefasst werden. Derzeit wird die enge Definition vor allem mit Blick auf die spät- und postsozialistische Transformation verwendet, dem folgen auch die meisten Beiträge in diesem Dossier. Für die deutschsprachige Forschungslandschaft war nicht zuletzt das Buch des Osteuropahistorikers Philipp Ther „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ impulsgebend.[1] Es wurde im Jahr 2015 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, was einmal mehr auf das breite gesellschaftliche Interesse am Themenfeld Transformationen, Übergänge und Umbrüche nach 1989/90 hinweist. Wenn man zunächst bei Ostdeutschland und 1989 bleibt, so ergibt sich ein Problem: Ostdeutschland gilt als „Sonderfall“, der aufgrund von Teilung und Einheit nicht als Teil der Forschung zu Ostmitteleuropa gilt, der aber zugleich auch nicht der westeuropäischen beziehungsweise „allgemeinen“ Geschichte zugeordnet wird. Kurzum: Ostdeutschland ist für „den Westen“ nicht westlich und für „den Osten“ nicht östlich genug.
Das hat durchaus erhebliche Konsequenzen gerade auch für die Zeitgeschichte und die hier verfolgten Analyse- und Erzählperspektiven. Während vor einiger Zeit eine Debatte um die vermeintliche „Verinselung“ der DDR-Geschichte geführt wurde,[2] scheint auch die Forschung zu Ostdeutschland – ob ab 1990 oder in einer langen Perspektive über den Epochenbruch von 1989 hinaus – oftmals isoliert zu sein. Einerseits gibt es eine lebendige Aufarbeitungslandschaft zum SED-Regime, die aber seit Jahren oder sogar Jahrzehnten vor allem durch dieselben Experten*innen geprägt ist. Zugleich bewirken derzeitige Trends der Geschichtswissenschaft wie der Fokus auf das Globale oder thematische Spezialbereiche nicht wirklich ein vermehrtes Forschungsinteresse an Ostdeutschland als vermeintlicher Regionalgeschichte. Es wird sogar behauptet, die Beschäftigung mit dem Thema Ostdeutschland sei hinderlich für eine wissenschaftliche Karriere. Und doch gibt es sie: neuere zeithistorische Ansätze, die Ostdeutschland aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden erforschen und in größere Zusammenhänge setzen – und die letztlich auch hierüber hinausweisen. Der zeithistorischen Forschung dürften sich somit auch erhebliche Chancen und Gelegenheiten bieten, anhand konkreter empirischer Forschungen an einem Grenz-, Sonder- oder Extremfall gängige Vorannahmen zu sprengen oder scheinbar festgefügte Kategorien zu überwinden.
Die perspektivische Überwindung festgefügter westlicher Triumph- und östlicher Verlustgeschichten erscheint damit sicher als reizvollste Herausforderung bei einer neuerlichen wie integrativen Analyse der kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen des Epochenumbruchs nach 1989/90 und seiner materiellen wie ideellen Konsequenzen. In diesem Dossier blicken zahlreiche Experten*innen erstens zum einen aus verschiedenen räumlichen Perspektiven auf den vermeintlichen „Sonderfall“ Ostdeutschland. Zum Zweiten stehen mit Forschungsberichten zu Ideen, Organisationen, Gesellschafts- und Alltagsbetrachtungen unterschiedliche Themenbereiche und Ansätze im Zentrum, die das postsozialistische Ostdeutschland als Untersuchungsraum neuerlich fokussieren, aber zugleich auch zeitlich wie räumlich überschreiten. Drittens geht es um die methodisch ausgerichtete Frage, wie diese komplexe Umbruchs- und Übergangsetappe gerade auch mit den historiografischen Instrumenten zu erforschen und letztlich auch zu erzählen ist. Dazu gehören auch Überlegungen, wie sich die Transformationsforschung in der jüngsten Zeitgeschichte entwickelt hat und wie sie sich weiterentwickeln könnte. Damit wird, viertens, der Reigen der Beiträge bereits für andere Disziplinen geöffnet und der Blick aus verschiedenen Perspektiven auf die Entwicklungen seit 1989/90 gelenkt: Kunst und Kultur, Politik, Aufarbeitung. Schließlich geht es um die Frage der Vermittlung geschichtswissenschaftlicher Forschung in der Öffentlichkeit als einem Beitrag zum Verständnis der Gegenwart.
[1] Ther, Philipp, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europas, Frankfurt a.M. 2014. Vgl. auch Yurchak, Alexei, Everything Was Forever, Until It Was No More.The Last Soviet Generation, Princeton 2006.
[2] Als Zusammenstellung der Diskussion siehe: Möller, Frank/ Mählert, Ulrich (Hg.), Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte, Berlin 2008 sowie Mählert, Ulrich (Hrsg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema, Berlin 2016.
Drei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 rücken deren oft nur schwer überschaubare Nachgeschichten mit Macht wieder ins Blickfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Fortbestehende Ost-West-Differenzen sowie populistische Wahlerfolge werden als Symptome einer noch immer nicht erreichten „Inneren Einheit“ gedeutet. Dementsprechend finden sich Behauptungen und Vermutungen über „Ostdeutsche“ derzeit wieder gehäuft – sei es in Talkshows, in Zeitungen, im Internet, auf Familienfesten oder auch am Stammtisch. Sehr schnell wird dabei die ostdeutsche Vergangenheit zur Erklärung gegenwärtiger Probleme sowie fortbestehender Differenzen herangezogen. Während ein Lager die mentalen Langzeitfolgen sowie das schwierige Erbe der repressiven SED-Diktatur hierfür verantwortlich macht, verweisen andere vehement auf die durch neoliberale Transformationsstrategien ausgelösten, schockartigen Umbruchserfahrungen nach 1990. Gerade jenseits dieser beiden geschichtspolitischen Pole lohnt ein differenzierter Blick auf die jüngste Vergangenheit. Die Frage steht im Raum, was die zeithistorische Forschung zu dem Thema Neues beitragen kann. In diesem Dossier wollen wir eine facettenreiche Bestandsaufnahme aktueller geschichtswissenschaftlicher Forschungen zu Beginn des erwartbaren Jubiläumsreigens 2019/20 wagen und eruieren, welche neuen Deutungsangebote es gibt. Zugleich geht der Blick über die eigene Disziplin hinaus, indem danach gefragt wird, was andere von der Geschichtswissenschaft erwarteten oder erhofften.
Während in den 1990er-Jahren vor allem Sozialwissenschaftler*innen zu beziehungsweise über Ostdeutschland forschten, haben Historiker*innen die so genannte Transformationsgeschichte erst vor wenigen Jahren als ihr Sujet entdeckt. Gleichsam inspiriert von Ost-West-Begegnungen, Forschungen zu Ostmittel- und Südosteuropa oder anderen Gesellschaften, die umfassende Systemwechsel bewältigten, haben sich so neue Forschungsfragen entwickelt. Der Begriff der Transformation ist derzeit alles andere als gefestigt. Während der Begriff unspezifisch für verschiedenste Prozesse verwendet wird, die (sozialen und strukturellen) Wandel umfassen, bevorzugt ein anderer Vorschlag eine engere Definition. Diese betont die Gleichzeitigkeit der durch einen politischen Systemwechsel bedingten Veränderungen betont, den die historischen Akteure alle auf einmal in kurzer Zeit bewältigen mussten. Darunter können in der Geschichte verschiedenste Phänomene gefasst werden. Derzeit wird die enge Definition vor allem mit Blick auf die spät- und postsozialistische Transformation verwendet, dem folgen auch die meisten Beiträge in diesem Dossier. Für die deutschsprachige Forschungslandschaft war nicht zuletzt das Buch des Osteuropahistorikers Philipp Ther „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ impulsgebend.[1] Es wurde im Jahr 2015 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, was einmal mehr auf das breite gesellschaftliche Interesse am Themenfeld Transformationen, Übergänge und Umbrüche nach 1989/90 hinweist. Wenn man zunächst bei Ostdeutschland und 1989 bleibt, so ergibt sich ein Problem: Ostdeutschland gilt als „Sonderfall“, der aufgrund von Teilung und Einheit nicht als Teil der Forschung zu Ostmitteleuropa gilt, der aber zugleich auch nicht der westeuropäischen beziehungsweise „allgemeinen“ Geschichte zugeordnet wird. Kurzum: Ostdeutschland ist für „den Westen“ nicht westlich und für „den Osten“ nicht östlich genug.
Das hat durchaus erhebliche Konsequenzen gerade auch für die Zeitgeschichte und die hier verfolgten Analyse- und Erzählperspektiven. Während vor einiger Zeit eine Debatte um die vermeintliche „Verinselung“ der DDR-Geschichte geführt wurde,[2] scheint auch die Forschung zu Ostdeutschland – ob ab 1990 oder in einer langen Perspektive über den Epochenbruch von 1989 hinaus – oftmals isoliert zu sein. Einerseits gibt es eine lebendige Aufarbeitungslandschaft zum SED-Regime, die aber seit Jahren oder sogar Jahrzehnten vor allem durch dieselben Experten*innen geprägt ist. Zugleich bewirken derzeitige Trends der Geschichtswissenschaft wie der Fokus auf das Globale oder thematische Spezialbereiche nicht wirklich ein vermehrtes Forschungsinteresse an Ostdeutschland als vermeintlicher Regionalgeschichte. Es wird sogar behauptet, die Beschäftigung mit dem Thema Ostdeutschland sei hinderlich für eine wissenschaftliche Karriere. Und doch gibt es sie: neuere zeithistorische Ansätze, die Ostdeutschland aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden erforschen und in größere Zusammenhänge setzen – und die letztlich auch hierüber hinausweisen. Der zeithistorischen Forschung dürften sich somit auch erhebliche Chancen und Gelegenheiten bieten, anhand konkreter empirischer Forschungen an einem Grenz-, Sonder- oder Extremfall gängige Vorannahmen zu sprengen oder scheinbar festgefügte Kategorien zu überwinden.
Die perspektivische Überwindung festgefügter westlicher Triumph- und östlicher Verlustgeschichten erscheint damit sicher als reizvollste Herausforderung bei einer neuerlichen wie integrativen Analyse der kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen des Epochenumbruchs nach 1989/90 und seiner materiellen wie ideellen Konsequenzen. In diesem Dossier blicken zahlreiche Experten*innen erstens zum einen aus verschiedenen räumlichen Perspektiven auf den vermeintlichen „Sonderfall“ Ostdeutschland. Zum Zweiten stehen mit Forschungsberichten zu Ideen, Organisationen, Gesellschafts- und Alltagsbetrachtungen unterschiedliche Themenbereiche und Ansätze im Zentrum, die das postsozialistische Ostdeutschland als Untersuchungsraum neuerlich fokussieren, aber zugleich auch zeitlich wie räumlich überschreiten. Drittens geht es um die methodisch ausgerichtete Frage, wie diese komplexe Umbruchs- und Übergangsetappe gerade auch mit den historiografischen Instrumenten zu erforschen und letztlich auch zu erzählen ist. Dazu gehören auch Überlegungen, wie sich die Transformationsforschung in der jüngsten Zeitgeschichte entwickelt hat und wie sie sich weiterentwickeln könnte. Damit wird, viertens, der Reigen der Beiträge bereits für andere Disziplinen geöffnet und der Blick aus verschiedenen Perspektiven auf die Entwicklungen seit 1989/90 gelenkt: Kunst und Kultur, Politik, Aufarbeitung. Schließlich geht es um die Frage der Vermittlung geschichtswissenschaftlicher Forschung in der Öffentlichkeit als einem Beitrag zum Verständnis der Gegenwart.
[1] Ther, Philipp, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europas, Frankfurt a.M. 2014. Vgl. auch Yurchak, Alexei, Everything Was Forever, Until It Was No More.The Last Soviet Generation, Princeton 2006.
[2] Als Zusammenstellung der Diskussion siehe: Möller, Frank/ Mählert, Ulrich (Hg.), Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte, Berlin 2008 sowie Mählert, Ulrich (Hrsg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema, Berlin 2016.
Einleitung „Weder Ost noch West“
zum Themenschwerpunkt über die schwierige Geschichte der Transformation Ostdeutschlands