Wenn das Schicksal der Welt aufs Spiel gesetzt wird

Das im Jahr 1985 veröffentlichte Computerspiel Balance of Power des amerikanischen Entwicklers Chris Crawford ist eine Simulation der globalen geopolitischen Auseinandersetzungen im Zeitalter des Kalten Krieges. Das Spiel wurde selbst von einem Diplomaten in einer Besprechung in der New York Times als realistische und detailgetreue Simulation gelobt.[1]
Ziel im Spielverlauf ist es, als Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten von Amerika oder der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken die eigene Dominanz zu festigen und auszuweiten, wobei eine direkte militärische Konfrontation mit der jeweils anderen Supermacht zu vermeiden ist. Dies geschieht durch außenpolitische Maßnahmen, die sich auf die Beeinflussung der innenpolitischen Verhältnisse in anderen Staaten konzentrieren. Die SpielerInnen können so ihre Einflusssphäre vergrößern und neue Verbündete gewinnen. Eine Überschätzung der eigenen Position kann allerdings schnell zu einem Atomkrieg führen, der das Spiel sofort mit einer Niederlage für beide Seiten beendet.

 

Abbildung 1: Einflusssphären der Mächte. Screenshot aus Balance of Power.

 

 Der Entwickler des Spiels, Chris Crawford, hat neben einem 100 Seiten starken Handbuch eine Monographie über das Spiel verfasst. Balance of Power, so Crawford, ist Spiel und Simulation zugleich: „The Simulation communicates technical information, while a game communicates something closer to an artistic message.“[2]

Um das Spiel nicht zu komplex werden zu lassen, worunter der Unterhaltungswert gelitten hätte, entschied sich Crawford, die weltpolitischen Zusammenhänge zu simplifizieren. Er verzichtete also auf detaillierte demographische Daten oder akkurat recherchierte politische Länderstudien. Konflikte – dies verdeutlicht Balance of Power eindrucksvoll – stellten für Crawford die Essenz geopolitischen Handelns dar. Crawford versucht, die hinter diesen Konflikten stehenden strukturellen Prozesse und politischen Rahmenbedingungen spielerisch darzustellen. Im Ergebnis sollen die SpielerInnen erfahren, dass Geopolitik strukturell determiniert ist und die konkreten Akteure möglicherweise irrelevant sind. Entsprechend haben beide Supermächte im Spiel die jeweils gleichen Ziele, die sie mit den jeweils gleichen Mitteln durchsetzen können. Durch diese Spielmechanik wird verdeutlicht, dass Geopolitik immer auf den gleichen Prinzipien beruht und vom ideologischen Überbau unabhängig ist. Das Spiel hat somit eine pädagogische Botschaft, wie Crawford unterstreicht: „If we have the wisdom to survive the next 100 years, our descendants will look back on our squabbles with Nicaragua as so much irrelevant nonsense. But the same principles, the same processes [...] will still be in force.“[3]

Im Spiel wird die Steuerung der anderen Großmacht durch die Künstliche Intelligenz oder eine/n zweite/n SpielerIn übernommen. Die Handlung beginnt 1989 und endet 1997, wobei jeder Spielzug über den Zeitraum eines Jahres angelegt ist. Das Hauptziel ist es, das Prestige des eigenen Landes mit Hilfe von Maßnahmen wie Aufstand, Putsch, "Finnlandisierung" und Krise zu steigern. Um Einfluss und Prestige zu erlangen, müssen die SpielerInnen sich entweder mit Regierungen anderer Staaten befreunden, diese durch freundlich gesinnte Regierungen ersetzen oder mittels politischem Druck zur Annäherung bewegen.

In jedem Staat existieren neben der Regierung auch widerständige Gruppierungen unterschiedlicher Stärke. Die nationalen Hintergründe orientieren sich dabei an der politischen Realität – und spätestens hier zeigt sich, dass der historische Rahmen des Kalten Krieges ungeachtet der Intention von Crawford sehr wohl auch die Spielmechanik determiniert. SpielerInnen können – je nach politisch-ideologischer Nähe zum eigenen System – wahlweise die jeweiligen Regierungen oder die Oppositionsbewegungen durch Finanzhilfen, Waffenlieferungen oder durch einen beschränkten Truppeneinsatz unterstützen. Diese Aktionen sollen Stellvertreterkriege simulieren, wie etwa den Vietnamkrieg, über die die Supermächte ihre jeweiligen Machtbereiche ausdehnten, ohne eine direkte militärische Konfrontation zu riskieren.

Im Spiel werden alle mit politischen Mitteln erfolgten Regierungswechsel als Putsch (coup d’etat) bezeichnet, auch wenn diese ein Resultat demokratischer Wahlen sind. Gewaltsame Putschversuche passieren häufiger in instabilen Regionen, deswegen kann man diese meistens durch wirtschaftliche Förderungen oder durch Niederschlagung der Aufstände vermeiden. Staaten können auch „friedlich“ beeinflusst werden, wenn man diese durch eine aggressive Rhetorik bedroht, bis sie „finnlandisieren“, d.h. von sich aus ein freundschaftliches Verhältnis zur jeweiligen Supermacht aufbauen, um eine Konfrontation zu vermeiden. Das Spiel rekurriert hier auf das zeitgenössisch intensiv diskutierte geopolitische Konzept der „Finnlandisierung“, mit dem zunächst die finnisch-sowjetischen Beziehungen beschrieben wurden: Ein Staat übt Macht gegenüber einem schwächeren Nachbarstaat aus.[4]

Wenn die Gegenseite im Spiel die jeweiligen außenpolitischen Aktivitäten kritisiert, kommt es zu einer diplomatischen Krise zwischen der Sowjetunion und den USA. Das sind die einzigen Fälle, in denen die Supermächte direkt miteinander interagieren. Die SpielerInnen haben nun die Wahl, sich zurückzuziehen und die entsprechenden politischen Maßnahmen rückgängig zu machen oder die Situation weiter eskalieren zu lassen. Gewinnt eine Seite dieses Kräftemessen, verliert die andere an Prestige. Falls niemand nachgibt, wird ein Atomkrieg ausgelöst, und das Spiel endet mit der Zerstörung der Erde, ergo ohne Sieger und mit dem Hinweis: „You have ignited a nuclear war. And no, there is no animated display of a mushroom cloud with parts of bodies flying through the air. We do not reward failure.“
Wenn bis ins Jahr 1997 kein Krieg ausgelöst wurde, gewinnt die Supermacht mit dem höheren Prestige.

 

Abbildung 2: Endbildschirm bei einer Niederlage. Screenshot aus Balance of Power.

 

Das Spiel verkaufte sich bereits in der Erstfassung für den Macintosh so gut, dass noch im gleichen Jahr eine Portierung für Windows und später für verschiedene andere Systeme folgte. Hierdurch und infolge zahlreicher, überwiegend positiver Rezensionen in Fachmagazinen wurde das Spiel zu einem der meist verkauften Spiele.[5]
Im Jahr 1989 veröffentlichte Crawford die hier vorgestellte „1990 Edition“, die wesentlich mehr Nationen und einen höheren Schwierigkeitsgrad einführte. Am grundlegenden Spielprinzip änderte sich jedoch nichts.

 

 

[1] D. Aaron: Playing with apocalypse, New York Times, 29.12.1985, S. 22, 26 und 33.
[2] C. Crawford: Balance of Power: International Politics as the Ultimate Global Game. Redmond 1986, S. 9.
[3] Crawford, Balance, S. 15.
[4] Vgl. Crawford, Balance, S. 101-128.
[5] Mark J. P. Wolf: Encyclopedia of Video Games. Greenwood 2012, S. 151.

Art der Seite
Artikel
Artikelformat
Aus
body2

Veröffentlicht am 20. Dezember 2017

Das im Jahr 1985 veröffentlichte Computerspiel Balance of Power des amerikanischen Entwicklers Chris Crawford ist eine Simulation der globalen geopolitischen Auseinandersetzungen im Zeitalter des Kalten Krieges. Das Spiel wurde selbst von einem Diplomaten in einer Besprechung in der New York Times als realistische und detailgetreue Simulation gelobt.[1]
Ziel im Spielverlauf ist es, als Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten von Amerika oder der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken die eigene Dominanz zu festigen und auszuweiten, wobei eine direkte militärische Konfrontation mit der jeweils anderen Supermacht zu vermeiden ist. Dies geschieht durch außenpolitische Maßnahmen, die sich auf die Beeinflussung der innenpolitischen Verhältnisse in anderen Staaten konzentrieren. Die SpielerInnen können so ihre Einflusssphäre vergrößern und neue Verbündete gewinnen. Eine Überschätzung der eigenen Position kann allerdings schnell zu einem Atomkrieg führen, der das Spiel sofort mit einer Niederlage für beide Seiten beendet.

Einflusssphären der Mächte. Screenshot aus Balance of Power

Einflusssphären der Mächte. Screenshot aus Balance of Power

 Der Entwickler des Spiels, Chris Crawford, hat neben einem 100 Seiten starken Handbuch eine Monographie über das Spiel verfasst. Balance of Power, so Crawford, ist Spiel und Simulation zugleich: „The Simulation communicates technical information, while a game communicates something closer to an artistic message.“[2]

Um das Spiel nicht zu komplex werden zu lassen, worunter der Unterhaltungswert gelitten hätte, entschied sich Crawford, die weltpolitischen Zusammenhänge zu simplifizieren. Er verzichtete also auf detaillierte demographische Daten oder akkurat recherchierte politische Länderstudien. Konflikte – dies verdeutlicht Balance of Power eindrucksvoll – stellten für Crawford die Essenz geopolitischen Handelns dar. Crawford versucht, die hinter diesen Konflikten stehenden strukturellen Prozesse und politischen Rahmenbedingungen spielerisch darzustellen. Im Ergebnis sollen die SpielerInnen erfahren, dass Geopolitik strukturell determiniert ist und die konkreten Akteure möglicherweise irrelevant sind. Entsprechend haben beide Supermächte im Spiel die jeweils gleichen Ziele, die sie mit den jeweils gleichen Mitteln durchsetzen können. Durch diese Spielmechanik wird verdeutlicht, dass Geopolitik immer auf den gleichen Prinzipien beruht und vom ideologischen Überbau unabhängig ist. Das Spiel hat somit eine pädagogische Botschaft, wie Crawford unterstreicht: „If we have the wisdom to survive the next 100 years, our descendants will look back on our squabbles with Nicaragua as so much irrelevant nonsense. But the same principles, the same processes [...] will still be in force.“[3]

Im Spiel wird die Steuerung der anderen Großmacht durch die Künstliche Intelligenz oder eine/n zweite/n SpielerIn übernommen. Die Handlung beginnt 1989 und endet 1997, wobei jeder Spielzug über den Zeitraum eines Jahres angelegt ist. Das Hauptziel ist es, das Prestige des eigenen Landes mit Hilfe von Maßnahmen wie Aufstand, Putsch, "Finnlandisierung" und Krise zu steigern. Um Einfluss und Prestige zu erlangen, müssen die SpielerInnen sich entweder mit Regierungen anderer Staaten befreunden, diese durch freundlich gesinnte Regierungen ersetzen oder mittels politischem Druck zur Annäherung bewegen.

In jedem Staat existieren neben der Regierung auch widerständige Gruppierungen unterschiedlicher Stärke. Die nationalen Hintergründe orientieren sich dabei an der politischen Realität – und spätestens hier zeigt sich, dass der historische Rahmen des Kalten Krieges ungeachtet der Intention von Crawford sehr wohl auch die Spielmechanik determiniert. SpielerInnen können – je nach politisch-ideologischer Nähe zum eigenen System – wahlweise die jeweiligen Regierungen oder die Oppositionsbewegungen durch Finanzhilfen, Waffenlieferungen oder durch einen beschränkten Truppeneinsatz unterstützen. Diese Aktionen sollen Stellvertreterkriege simulieren, wie etwa den Vietnamkrieg, über die die Supermächte ihre jeweiligen Machtbereiche ausdehnten, ohne eine direkte militärische Konfrontation zu riskieren.

Im Spiel werden alle mit politischen Mitteln erfolgten Regierungswechsel als Putsch (coup d’etat) bezeichnet, auch wenn diese ein Resultat demokratischer Wahlen sind. Gewaltsame Putschversuche passieren häufiger in instabilen Regionen, deswegen kann man diese meistens durch wirtschaftliche Förderungen oder durch Niederschlagung der Aufstände vermeiden. Staaten können auch „friedlich“ beeinflusst werden, wenn man diese durch eine aggressive Rhetorik bedroht, bis sie „finnlandisieren“, d.h. von sich aus ein freundschaftliches Verhältnis zur jeweiligen Supermacht aufbauen, um eine Konfrontation zu vermeiden. Das Spiel rekurriert hier auf das zeitgenössisch intensiv diskutierte geopolitische Konzept der „Finnlandisierung“, mit dem zunächst die finnisch-sowjetischen Beziehungen beschrieben wurden: Ein Staat übt Macht gegenüber einem schwächeren Nachbarstaat aus.[4]

Wenn die Gegenseite im Spiel die jeweiligen außenpolitischen Aktivitäten kritisiert, kommt es zu einer diplomatischen Krise zwischen der Sowjetunion und den USA. Das sind die einzigen Fälle, in denen die Supermächte direkt miteinander interagieren. Die SpielerInnen haben nun die Wahl, sich zurückzuziehen und die entsprechenden politischen Maßnahmen rückgängig zu machen oder die Situation weiter eskalieren zu lassen. Gewinnt eine Seite dieses Kräftemessen, verliert die andere an Prestige. Falls niemand nachgibt, wird ein Atomkrieg ausgelöst, und das Spiel endet mit der Zerstörung der Erde, ergo ohne Sieger und mit dem Hinweis: „You have ignited a nuclear war. And no, there is no animated display of a mushroom cloud with parts of bodies flying through the air. We do not reward failure.“
Wenn bis ins Jahr 1997 kein Krieg ausgelöst wurde, gewinnt die Supermacht mit dem höheren Prestige.

Endbildschirm bei einer Niederlage. Screenshot aus Balance of Power.

Endbildschirm bei einer Niederlage. Screenshot aus Balance of Power.

 

Das Spiel verkaufte sich bereits in der Erstfassung für den Macintosh so gut, dass noch im gleichen Jahr eine Portierung für Windows und später für verschiedene andere Systeme folgte. Hierdurch und infolge zahlreicher, überwiegend positiver Rezensionen in Fachmagazinen wurde das Spiel zu einem der meist verkauften Spiele.[5]
Im Jahr 1989 veröffentlichte Crawford die hier vorgestellte „1990 Edition“, die wesentlich mehr Nationen und einen höheren Schwierigkeitsgrad einführte. Am grundlegenden Spielprinzip änderte sich jedoch nichts.

 

 

[1] D. Aaron: Playing with apocalypse, New York Times, 29.12.1985, S. 22, 26 und 33.
[2] C. Crawford: Balance of Power: International Politics as the Ultimate Global Game. Redmond 1986, S. 9.
[3] Crawford, Balance, S. 15.
[4] Vgl. Crawford, Balance, S. 101-128.
[5] Mark J. P. Wolf: Encyclopedia of Video Games. Greenwood 2012, S. 151.

Chronologische Klassifikation
Header
Aus
manuelles Inhaltsverzeichnis/keine automatische Darstellung der Beiträge des TS
Aus
Position auf der Startseite
0
Regionale Klassifikation
Reprint
Aus
Rubrik
Thematische Klassifikation
Themenschwerpunkt
Titel

Wenn das Schicksal der Welt aufs Spiel gesetzt wird

Untertitel

Balance of Power (1985) und die Darstellung der Geopolitik in einem Computerspiel

Veröffentlichung
übergeordneter Themenschwerpunkt vorhanden
Aus