Seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 beobachten wir einen Prozess der ständigen Erweiterung und Ausdifferenzierung völkerrechtlicher Menschenrechtsnormen. Die Herausbildung des Rechts auf Wahrheit – mitunter auch als Recht auf Wissen firmierend – ist Teil dieses Prozesses. Es handelt sich um ein Konzept, dem vor allem in den neunziger und zweitausender Jahren Aufmerksamkeit zuteil wurde. Es vereint zwei unterschiedliche Ansprüche in sich. Zum einen zielt es darauf ab, dem individuell-psychologischen Bedürfnis von Opfern staatlicher Menschenrechtsverletzungen oder deren Angehörigen einen juridischen Schutz zu gewähren, um ihnen zu ermöglichen, über die Hintergründe des erfahrenen Leids aufgeklärt zu werden und Informationen über das Schicksal jener zu erhalten, die seit der Verhaftung durch staatliche Sicherheitsbehörden verschwunden sind. Gleichzeitig formuliert es auch einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch auf eine wie auch immer geartete historische Wahrheit über staatliche Gewaltverbrechen.[1]
Medikalisierung der Menschenrechte
Diese Mehrdimensionalität des Konzepts verweist auf unterschiedliche und oft widersprüchliche Interessenlagen, die in der Genese des Rechts auf Wahrheit eine Rolle gespielt haben.[2] Ein wichtiger Impuls ging von Lateinamerika aus, wo vor allem während der siebziger und achtziger Jahre massive staatliche Gewaltverbrechen begangen wurden. Dabei setzten staatliche Sicherheitsbehörden und paramilitärische Einheiten in verschiedenen Ländern auf dasselbe Instrument: Sie hielten die ihnen Verdächtigen in geheimen Haftzentren gefangen und ermordeten sie. Die Angehörigen blieben im Ungewissen und erfuhren über das Schicksal der Ermordeten oft jahrzehntelang nichts.
Vor diesem Hintergrund war die Frage nach der Wahrheit über staatliche Gewaltverbrechen nicht nur Gegenstand des politischen Kampfes gegen die Diktatur. Die psychotherapeutische Begleitung von Opfern des Staatsterrors wurde zum Bestandteil der Menschenrechtsarbeit, in deren medikalisierter Form der Frage nach Wahrheit eine Schlüsselfunktion zukam. Prägend waren hier die Mütter der Plaza de Mayo. Sie stellten ihre Mutterrolle in den Mittelpunkt ihres Protestes und strichen heraus, dass der Verlust eines nahen Angehörigen eine Form der Folter darstelle, die erst durch Aufklärung des Verbrechens beendet werden könne. Diese Argumentation griffen verschiedene lateinamerikanische Menschenrechtsgremien und -Gerichtshöfe in ihren Dokumenten und ihrer Rechtsprechung auf; sie sollte zur Grundlage des in den neunziger Jahren in UN-Dokumenten Gestalt annehmenden Rechts auf Wahrheit werden.[3]
Dies stellte eine Neuerung in der Entwicklung der Menschenrechte dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges sollten Menschenrechte den Bürgern ermöglichen, einen eigenen Lebensweg zu wählen. Seit den achtziger Jahren kam ein narrativer Ansatz hinzu, der auch menschlichen Bindungen und emotionalen Prozessen Bedeutung beimaß.
Im Zuge der Demokratisierungsprozesse in Ost und West erlangte der Wahrheitsbegriff in den neunziger Jahren eine nie dagewesene Konjunktur. Allen voran trugen der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte und der UN-Menschenrechtsrat in ihren Urteilen und Dokumenten zur Ausformulierung eines Rechts auf Wahrheit bei, in dem beide Dimensionen – die individuelle und die gesellschaftliche – miteinander verknüpft wurden. Nun ging es nicht mehr nur um individuelle Genesungsprozesse, sondern gleich ganze Gesellschaften sollten von den Folgen der Diktatur geheilt werden, indem sie über die begangenen Verbrechen aufgeklärt wurden.
Individuelle versus gesellschaftliche Wahrheit
Dieser doppelten Bedeutung des Rechts auf Wahrheit wohnten Spannungsmomente inne: Hatte die Rekonstruktion der Wahrheit in erster Linie eine gesellschaftstherapeutische Funktion, oder ging es vor allem um die Bedürfnisse einzelner Personen? Die Wahrheitskommissionen der neunziger Jahre traten mit dem Anspruch an, beide Aspekte zu integrieren. Allerdings zeigte sich auch hier, dass der institutionelle Rahmen der Wahrheitskommission vielfältige Möglichkeiten bot, das Erzählen über Vergangenheit zu strukturieren und in bestimmte Bahnen zu lenken. So wurden gewisse persönliche Gewalterfahrungen ausgeklammert, wenn dies für den gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess nützlich schien.
Gleichzeitig warf die Mehrdeutigkeit des Wahrheitsbegriffs mit seinen moralischen, religiösen, psychologischen und rechtlichen Dimensionen Fragen auf. Wahrheit konnte heißen, die institutionellen Verstrickungen unter der Diktatur aufzuhellen, und unter Aussparung personeller Details einen gesellschaftlichen Konsens darüber herzustellen, dass Verbrechen stattgefunden hatten. Daran hatte beispielsweise die Anfang der neunziger Jahre in Chile an die Macht gekommene demokratische Regierung ein Interesse, denn sie war darauf bedacht, die Polarisierung der Gesellschaft zu überwinden.[4] Aus einer ähnlichen Überlegung heraus entstand die südafrikanische Wahrheitskommission. Sie definierte Wahrheitsfindung als einen Prozess, in dem persönliche Erfahrungsberichte einer sehr eng definierten Gruppe von Tätern und Opfern zusammengetragen wurden, ohne die gesamtgesellschaftliche Dimension der Gewalt in einem Apartheid-Regime einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Die Kritiker solcher gesteuerten Prozesse, die sich in den Reihen der ehemaligen Oppositionellen und der Menschenrechtsgruppen fanden, betonten demgegenüber, dass Wahrheit bedeute, Akten über die Täter zugänglich zu machen und Gerichte mit der Frage nach der Schuld individueller Täter zu befassen.[5]
Das Recht auf Wahrheit erreichte die Menschenrechtsgremien der UN somit nicht aus dem globalen Norden, sondern aus dem Süden. Diese außereuropäische Rechtsentwicklung war allerdings weder losgelöst von den Ereignissen auf dem „alten Kontinent“, noch blieb sie folgenlos für dessen Rechtssystem. Während sich die lateinamerikanischen Befürworter eines Rechts auf Wahrheit auf Nürnberg beriefen, bemühten sich Kläger vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unter Bezugnahme auf UN-Dokumente und die Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs die Bedeutung der Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention im Sinne des Rechts auf Wahrheit zu erweitern. Dabei ging es ihnen um zweierlei: einerseits darum, das Recht von Einzelpersonen auf Informationszugang zu stärken, andererseits aber um die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die gesellschaftlichen Debatten über staatliche Gewaltverbrechen. Insofern konterkariert diese Geschichte eurozentrische Perspektiven auf die Ausgestaltung des Menschenrechtsregimes. Stattdessen gerät in den Blick, wie außereuropäische Gewalterfahrungen, Rechtsentwicklungen und -traditionen nicht nur das Völkerrecht prägten, sondern auch auf Europa wirkten.[6]
[1] Yasmin Naqvi, The Right to Truth in International Law. Fact of Fiction? In: International Review of the Red Cross 88 (2006), S. 235-273.
[2] Einen ersten Versuch der Historisierung unternimmt der Band José Brunner, Daniel Stahl (Hg.), Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts. Göttingen 2016.
[3] José Brunner, Menschenrecht und Menschenbild. Zur Psychologie des Rechts auf Wahrheit, in: Ders., Stahl (Hg.), Recht auf Wahrheit, S. 67-79.
[4] Stephan Ruderer, Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990-2006. Göttingen 2010.
[5] Vgl. bspw. Mahmood Mamdani, Amnesty or Impunity? A Preliminary Critique of the Report of the Truth and Reconciliation Commission of South Africa, in: Diacritics 32 (2002), S. 33-59.
[6] Siehe hierzu die Beiträge von Norbert Frei, Angelika Nußberger, Ruth Effinowicz und Claus Kreß in Brunner/Stahl, Recht auf Wahrheit.
Zur Genese des Rechts auf Wahrheit