Kulturelle Bruchstücke der DDR in einer Kindheitserinnerung
Nach langer Überlegung zur Frage: „Was ist Ihrer Meinung nach von der DDR geblieben?“, sind mir einige persönliche Alltagssituationen eingefallen, die für mich als Fragmente der DDR in Erscheinung getreten sind. In Hinblick auf die kommende Weihnachtszeit möchte ich hierbei auf eine ganz bestimmte Erinnerung aus meiner Kindheit eingehen.
So standen meine Schwester und ich am 24. Dezember zu früher Stunde auf und erwarteten mit großer Vorfreude den festlichen Akt von Heiligabend. Da es bis zum Weihnachtsfest noch einige Stunden dauern würde und unsere Eltern mit den Vorbereitungen beschäftigt waren, überbrückten wir die Zeit mit dem Weihnachtsfernsehprogramm. Unter den vielen Klassikern, die im Rahmen der Feiertage ausgestrahlt wurden, haben wir uns besonders gerne die Märchenfilme angeschaut. Gespannt haben wir den Abenteuergeschichten vom „Kleinen Muck“ gelauscht oder sind mit kindlicher Begeisterung in die märchenhaften Welten von „Froschkönig“, „Frau Holle“, „Schneewittchen“ und „Aschenbrödel“ eingetaucht.
Erst später bemerkte ich, dass viele dieser Märchenklassiker vom ostdeutschen Filmunternehmen Deutsche Film AG (abgekürzt DEFA) produziert worden sind.
Was ist also für mich von der DDR geblieben? Diese Frage wäre vielleicht einfacher zu beantworten, wenn man die DDR selbst miterlebt hätte. Bei genauer Betrachtung können allerdings viele Überbleibsel der DDR in unserem alltäglichen Leben angetroffen werden. Das gilt wahrscheinlich für meine Heimatstadt Berlin ganz besonders. Jedenfalls können diese Bruchstücke einer vergangenen Zeit in verschiedenster Form auftreten.
So sehe ich eines dieser Überbleibsel der DDR in einer Erinnerung aus Kindheitstagen.
von Julia Baumann
Der Geruch der Lausitzer Laube meiner Omi
Wenn ich an die DDR denke, fallen mir sehr viele Geschichten und bekannte Gesichter ein. Die Gesichter stammen von Menschen aus meiner Familie, und die Geschichten haben sie mir erzählt. Es ist schwer, daraus EIN Bild zu formen. Es gibt jedoch einen Ort, der mir immer wieder durch den Kopf spukt, wenn ich an die DDR denke: Es ist die Holzlaube im wilden Garten meiner Großeltern, in dem meine Oma als Hauptakteurin auftritt. In diesem Bild leuchten auch die vielen bekannten Gesichter und ihre Geschichten auf. Vor allem aber bringe ich diese Erinnerungen mit bestimmten Gerüchen in Verbindung.
Ich sehe meinen Opa, meine Oma und ihre vier Kinder, 1978, wie sie ein Haus aus Holz und Kalksandstein bauen, und ich rieche den Schweiß ihrer schweren Arbeit. Ich rieche das verbrannte Holz, das im Ofen des Wohnzimmers fackelt, in dem ich Häuser aus dem Metallbaukasten baue. Ich rieche feuchtes Schilf, das auf dem Dach liegt und durch das der Wind so schöne Melodien pfeift. Ich rieche dicke, bunte Ölfarbe, mit der ich Tiere und Blumen auf die Wände der kleinen Toilette male, und erinnere, wie die Farbe nur schwer von meinen Fingern zu ziehen ist. Ich rieche den Staub einer alten Uniform, den ich wegpuste, bis ein „FDJ“-Abzeichen auf ihr zu erkennen ist. Ich rieche ausgewaschenes „Plaste“ – von Gemüsebehältern und Schokoladenverpackungen, welches meine Oma wiederverwendet für ihre Stifte und Notizen und die sauren Johannisbeeren aus dem Garten. Ich rieche ihre alten Reliefkarten, die sie im Geografieunterricht benutzte und auf denen Worte wie „UdSSR“ stehen, die ich als Kind nicht verstehe. Ich rieche Musiknoten von „Peter und der Wolf“ und erinnere, wie meine Oma mich und meine Cousins drängt, laut vor der Familie zu singen. Ich rieche die Sonnenblumen im Garten, die meine Mama so liebt, und erinnere, wie sie mir erklärt, warum es merkwürdig ist, wenn ich „Kosmonaut“ in der Schule sage. Ich rieche Tränen vom Familienzank, in dem Worte wie „Stasi“ und „Diktatur“ fallen. Politisch betrachtet, bin ich zwei Jahre nach der Wiedervereinigung geboren. Wenn ich aber an die DDR denke, dann denke ich an meine frühe Kindheit.
von Julia Meier
Der Westdeutsche
Wenn man Mitte der 90er geboren und in einer Provinz in Westdeutschland aufgewachsen ist, fühlt sich schon die Zuschreibung falsch an: „In Westdeutschland aufgewachsen“. Denn eigentlich ist man ja in „Normaldeutschland“ aufgewachsen, von der jüngeren Geschichte, abgesehen von einem weit entfernten „Deutschen Herbst“, kaum berührt. Die DDR war das andere, schmuddelige Deutschland, das höchstens in Form kurioser Anekdoten (Autos aus Plastik, kein Kaffee) zur Sprache kam. Andere „Deutsche“ oder überhaupt Menschen schien es da kaum gegeben zu haben, höchstens einen Typen namens „Der Honecker“ und eine entfernte Verwandte, die unangemessen undankbar meiner Oma gegenüber war, die ihr mal irgendwelche Pakete geschickt hatte. Viel öfter ging es sowieso nicht um die DDR, sondern um den Osten, um die Gegend also, wo die DDR früher mal war. Da konnte man in den 1990ern hinfahren und sich kaputte Häuser anschauen.
Dass in der DDR richtige Menschen mit einer eigenen Kultur gelebt hatten, wurde mir erst nach meinem Umzug nach Berlin bewusst. Meine Ex-Freundin, deren Eltern aus Brandenburg kommen, redete von Dingen wie „Fix und Fax“ (ein DDR-Comic?) und kannte einen Musiker namens „Gundermann“, davon hatte ich noch nie gehört. Bevor ich ihre Eltern kennengelernt hatte, hieß es, ich solle die Wessi-Sprüche ihres Vaters ignorieren. Schon wieder dieser Begriff: Ich, der „Westdeutsche“?
Zum ersten Mal bin ich in der ersten Woche in meiner neuen Wohnung als solcher bezeichnet worden, als mir ein Rentner sagte, dass ich wie ein Westdeutscher parke.
Die Rentner in meiner Wohnsiedlung sind für mich überhaupt das sichtbarste Stück DDR-Geschichte. Da ich eine gute Beziehung zu meiner Nachbarin Frau Fehr, die schon über 80 ist, pflege, weiß ich, dass sie in dieser Siedlung geboren, aufgewachsen, Mutter geworden und verrentet worden ist. Sie kennt viele Menschen in der Siedlung beinahe ihr ganzes Leben lang. Sie alle haben wie sie, solange die DDR existierte und darüber hinaus, dort gelebt, Musik gehört, Filme gesehen und gearbeitet. Damit sind sie für mich wandelnde Zeitzeugen, auch wenn ich bisher nur mit ein paar von ihnen gesprochen habe. Sie alle haben den Großteil ihres Lebens in einem anderen Deutschland verbracht, in einem Land, über das ich kaum etwas weiß und das es nicht mehr gibt. Das finde ich nach wie vor faszinierend.
von Jan Casper
[caption caption="Foto: Gerhard Gunderman, 1
Guten Morgen, du Schöne Maxie Wander. Bilder von und Erinnerungen an DDR-Frauen*
Meine Eltern fahren noch heute, 29 Jahre nach dem Mauerfall, nur mit Stadtplan oder Navigationssystem in den Ostteil Berlins – wenn sie denn überhaupt hinfahren. „Als die Mauer noch stand, konnte ich mich nie verfahren: Ich wusste ja immer, wo Schluss war“, beschwerte sich meine Mutter einmal. Wir hatten uns mit dem Auto in Ostberlin tierisch verfahren. Meine Eltern sind wohl das, was man typische „Wessis“ schimpft: Sie betrachten ihr damaliges Leben im Westen als besser, verglichen mit dem in der DDR, bemitleiden die „Ossis“ für das Leben unter Stasi und Bananenmangel und wissen allgemein sehr wenig über die Geschichte des anderen Deutschlands. Umso größer war meine Überraschung, als ich im Winter dieses Jahres im Bücherregal meiner Mutter Maxie Wanders Buch „Guten Morgen, du Schöne“ entdeckte. Ich hatte es ein paar Monate zuvor gelesen und allen, die es hören oder nicht hören wollten, begeistert davon erzählt. Maxie Wander war ein „feministischer Star“ für mich geworden und wie ich herausfand, sie war es ebenfalls für meine Mutter. Auf dem Rückweg von Spandau nach Hause ging mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: Wieso hatte meine Mutter mir nie von dem Buch erzählt? Meine Mutter ist keine Akademikerin, aber sie hat mir Bücher, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben, immer zum Lesen gegeben. Meine Mutter ist auch keine klassische Feministin, aber Grundvorstellungen von Emanzipation und Selbstbestimmung hat sie mir von Kind auf vermittelt. Das hätte uns, darüber war ich mir in meinem Maxie Wander-Rausch hundertprozentig sicher, doch zu einem Gespräch über das Buch bringen müssen!
Auf der langen U-Bahn-Fahrt nach Hause kam mir folgende Erklärung: Maxie Wander hat es als DDR-Autorin nicht in den BRD-Kanon geschafft, auch nicht für diejenigen, die wie meine Mutter und viele Frauen* in Ost- und Westdeutschland das Buch sehr bewegt hat. Ich fragte mich: Was weiß ich über die Geschichte von Frauen* in Deutschland nach 1945? Die Liste dessen, was ich über die westdeutsche Frauen*-Geschichte in meinem Kopf habe, ist lang. Die über die ostdeutsche hingegen lässt sich unter drei Stichpunkten zusammenfassen: Frauen* haben früh Kinder bekommen, es gab Kindergartenplätze für alle, Frauen* haben gearbeitet. Erst durch die Lektüre von „Guten Morgen, du Schöne“ habe ich einen Einblick in die Realität von Frauen der 70er Jahre in der DDR bekommen, der über das Drei-Punkte-Narrativ hinausgeht. Die westliche BRD-Sicht habe ich nicht nur durch mein Elternhaus, sondern auch durch das Fernsehen und in der Schule erlernt. Dass Maxie Wanders Buch nicht in das kollektive Gedächtnis der Frauen*-Bewegung eingegangen ist (oder zumindest nicht in das meiner Mutter), wohingegen wahrscheinlich jede*r Alice Schwarzers Stern-Aktion zum Thema Abtreibung kennt, ist nicht nur verwunderlich, sondern ein großer Verlust für die deutsche Erinnerungskultur zur DDR-Geschichte.
von Jona Schapira
Mehr als nur Stasi und Rotkäppchen-Sekt?
Als letzte Woche in der Einführungsveranstaltung die zu erwartende, ja fast unvermeidliche Frage fiel, was für uns persönlich denn tatsächlich von der DDR geblieben sei, fiel mir – unvorbereitet wie ich zugegebenermaßen war – auf Anhieb sehr wenig Greifbares ein. Auch nach reiflicher Überlegung kam mir wenig in den Sinn, das es verdiente, niedergeschrieben zu werden, und das wohl aus mehreren Gründen.
Zunächst, ich komme nicht aus Deutschland, sondern aus einem der Nachbarländer. Einem Land, das im direkten Vergleich selbst zu Zeiten der innerdeutschen Grenze und Teilung als Zwergstaat bezeichnet werden konnte – Luxemburg. Hinsichtlich meiner Kenntnisse über die bewegte Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik kann ich mir getrost eingestehen, dass ich auf diesem Gebiet keineswegs eine Expertin bin, sondern einfach nur das weiß, was ein jeder Geschichtsstudent sich während der ersten drei Jahre seines Studiums aneignet.
Tatsächlich, und dieser Umstand ist schon fast tröstlich, ergibt auch eine schnelle Google-Recherche mit den Schlagwörtern „Luxemburg-DDR“ kaum etwas, abgesehen von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Januar 1973 und einem Fußball-WM Qualifikationsspiel, das Luxemburg 1-3 verlor.
Nachdem diese Quelle nunmehr ausgeschöpft war und ich noch immer keine konstruktive Antwort auf die Frage, was denn von der DDR geblieben sei, vorweisen konnte, rief ich in der festen Überzeugung, dass Menschen, die die DDR – wenn auch aus der Ferne – miterlebt hatten, mir doch sicher etwas dazu erzählen könnten, meine Eltern an. Doch auch diese Hoffnung wurde zerschlagen, denn meine Eltern hatten – mangels Familienbeziehungen und engen Freunden in Deutschland – die DDR sowie die BRD während der Teilung gemieden. Trotzdem kamen im Gesprächsverlauf in rascher Folge klassische DDR-Assoziationen wie Überwachungsstaat, Stasi und Berliner Mauer zur Sprache, was bei mir wiederum die Frage aufwarf, ob von der DDR denn wirklich nicht mehr geblieben sei als die Assoziation mit einem Unterdrückungs-Staat? Einem Staat, der selbst aus dem Bau einer Mauer – die bisweilen in den Köpfen vieler Menschen immer noch existiert – inmitten einer pulsierenden Großstadt wie Berlin keinen Zuwachs an Zustimmung in der Bevölkerung und damit Legitimität generieren konnte? Ist die DDR für viele Menschen nicht mehr als jenes sowjetisch-sozialistische Experiment, das nach keinem halben Jahrhundert seiner Gründung – die wahrlich kaum mehr als ein ideologisches Trauerspiel war – wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und spektakulär scheiterte?
Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage traf ich zufällig auf einen Nachbarn und bekam prompt eine: „DDR-Überbleibsel? Ja klar, Rotkäppchen Sekt natürlich!“
von Linda Graul
Die fünfte Renovierung
Als ich letztens bei einer älteren Freundin zu Besuch war, stellte ich fest, dass ihr Wohnzimmer schon wieder umgestaltet wurde. Ein neuer Teppich und eine neue Couch sowie dazu passende Kissen, Vorhänge und Wandfarbe verliehen dem Raum ein völlig neues Aussehen. Das war die fünfte Renovierung innerhalb von elf Jahren. Nach einem kurzen Lob sprach ich sie vorsichtig darauf an, ob sie sich dessen bewusst sei. Daraufhin lächelte sie nur und sprach davon, wie wunderbar es doch wäre, dass einem heutzutage so viele Möglichkeiten für eine individuelle Einrichtung zur Verfügung stünden. Möglichkeiten, die ihr in ihrer Jugend in der DDR nicht gegeben wurden.
Natürlich wusste ich bereits aus Erzählungen und Lektüre, dass Individualität in vielen Lebensbereichen in der DDR aufgrund der fehlenden Auswahl nicht sonderlich präsent war. So richtig verstanden habe ich es allerdings erst, als ich wenige Tage später mit ihr durch die Straßen des Prenzlauer Berg lief. Wir betraten ein Geschäft, welches ausschließlich mit Mode, Möbeln und Accessoires aus den 60er, 70er und 80er Jahren der DDR handelte. Wo ich von einer Ecke zur nächsten rannte, weil ich gar nicht wusste, wo ich bei all den Schätzen anfangen sollte zu suchen, war es für meine Freundin eine sichtlich unangenehme Reise in die Vergangenheit. Bei meinen Versuchen, ihr ein Teeservice schmackhaft zu machen oder ihr wenigstens eine ihrer für mich kostbaren Erinnerungen als Zeitzeugin zu entlocken, fühlte sie sich merklich immer unwohler. Als ich ihr dann zu verstehen gab, dass ich nicht begreifen könne, warum sie nur der Anblick dieser Gegenstände so verstimmt, entgegnete sie mir: „Wie würdest du es finden, wenn du eine Brille bräuchtest und es nur dieses eine scheußliche Modell gibt? Wie würde es dir gefallen, wenn die Wohnungen all deiner Freunde Ebenbilder deiner eigenen wären? Was würdest du von einem Leben ohne jegliche Individualität halten?“ Nun war ich diejenige, die nicht mehr wusste, was sie sagen sollte.
Später auf meinem Heimweg blieb ich vor einem Café im Einrichtungsstil der DDR stehen. Wie konnte ich etwas als schön empfinden, das wohl für viele ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR so eintönig war? Schlagartig wurde mir bewusst, das mich lange Zeit etwas fasziniert hatte, dass in meiner Freundin immer nur eines hervorrief: Keine Wahl zu haben.
von Vivien Püschel
Wo die Trambahnschienen beginnen
Ich bin in Westdeutschland geboren. Ein Teil meiner Familie stammt aus Bayern, der andere aus den Niederlanden. „Ich habe keine Berührpunkte mit der DDR“, dachte ich mir, als ich begann, über die Frage nachzudenken. Es fielen mir lediglich einige Anekdoten ein, die alles sind, was mir persönlich bleibt, von einer Zeit, die ich selbst nie erlebt habe und die mir bisher außerhalb der Universität immer fern war. Beispielsweise fragte mich meine Mutter, vermutlich benebelt von der Aufregung meines Umzugs, kurz bevor ich nach Berlin zog, ob ich denn seit der Wende schon einmal in Berlin gewesen sei. Ich bin 1994 geboren. Das zeigt wohl, dass die Wende in der Wahrnehmung meiner Mutter sehr wohl einen Umbruch darstellt, jedoch nicht mehr so präsent ist, wie sie es vermutlich vor 20 Jahren noch war. Ich erinnerte mich auch sofort daran, dass mein Taufpate in seiner Studienzeit bei einem Ausflug nach Ostberlin wegen illegalem Geldwechsel festgenommen wurde und einen Tag im Gefängnis verbringen musste.
Andererseits musste ich daran denken, dass mir meine Freundin davon erzählte, wie der mütterliche Teil ihrer Familie die Wende als Zusammenbruch von etwas sah, das über Jahrzehnte selbstverständlich war. Ihr Großvater, ein Chemiker aus Halle an der Saale und damals definitiv Teil des DDR-Systems (Parteimitglied etc.), verlor seinen Job mit der Wende und konnte wegen der ihm nachgesagten Systemtreue in der wissenschaftlichen Welt der BRD keinen Fuß mehr fassen. Als dieser Großvater erfuhr, dass ich Geschichte studiere, drückte er mir begeistert ein rot eingebundenes Buch in die Hand: „Die Geschichte Russlands“.
Was mir also bleibt ist ein Mosaik aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf die DDR. Einerseits eine klassisch westdeutsche Sichtweise von Menschen, die sie nie wirklich erlebt haben. Andererseits sind in dieses Mosaik auch Anekdoten eingelassen, die mir ein Bild von Menschen zeigen, die in dem System funktionierten.
Mir persönlich, als westdeutschem Studenten, ist die DDR nun in meinem neuen Berliner Alltag noch nicht sonderlich präsent. Ich denke nicht daran, ob ich nun in der ehemaligen DDR ein Bier trinke oder nicht. Für mich ist der Westen dort, wo es keine alten Trambahngleise gibt, und der Osten da, wo sie wieder anfangen. Egal ist sie mir jedoch keineswegs. Ich möchte die ja doch noch nicht so ferne Geschichte in meine Wahrnehmung holen.
Anonym
Kulturelle Bruchstücke der DDR in einer Kindheitserinnerung
Nach langer Überlegung zur Frage: „Was ist Ihrer Meinung nach von der DDR geblieben?“, sind mir einige persönliche Alltagssituationen eingefallen, die für mich als Fragmente der DDR in Erscheinung getreten sind. In Hinblick auf die kommende Weihnachtszeit möchte ich hierbei auf eine ganz bestimmte Erinnerung aus meiner Kindheit eingehen.
So standen meine Schwester und ich am 24. Dezember zu früher Stunde auf und erwarteten mit großer Vorfreude den festlichen Akt von Heiligabend. Da es bis zum Weihnachtsfest noch einige Stunden dauern würde und unsere Eltern mit den Vorbereitungen beschäftigt waren, überbrückten wir die Zeit mit dem Weihnachtsfernsehprogramm. Unter den vielen Klassikern, die im Rahmen der Feiertage ausgestrahlt wurden, haben wir uns besonders gerne die Märchenfilme angeschaut. Gespannt haben wir den Abenteuergeschichten vom „Kleinen Muck“ gelauscht oder sind mit kindlicher Begeisterung in die märchenhaften Welten von „Froschkönig“, „Frau Holle“, „Schneewittchen“ und „Aschenbrödel“ eingetaucht.
Erst später bemerkte ich, dass viele dieser Märchenklassiker vom ostdeutschen Filmunternehmen Deutsche Film AG (abgekürzt DEFA) produziert worden sind.
Was ist also für mich von der DDR geblieben? Diese Frage wäre vielleicht einfacher zu beantworten, wenn man die DDR selbst miterlebt hätte. Bei genauer Betrachtung können allerdings viele Überbleibsel der DDR in unserem alltäglichen Leben angetroffen werden. Das gilt wahrscheinlich für meine Heimatstadt Berlin ganz besonders. Jedenfalls können diese Bruchstücke einer vergangenen Zeit in verschiedenster Form auftreten.
So sehe ich eines dieser Überbleibsel der DDR in einer Erinnerung aus Kindheitstagen.
von Julia Baumann
Der Geruch der Lausitzer Laube meiner Omi
Wenn ich an die DDR denke, fallen mir sehr viele Geschichten und bekannte Gesichter ein. Die Gesichter stammen von Menschen aus meiner Familie, und die Geschichten haben sie mir erzählt. Es ist schwer, daraus EIN Bild zu formen. Es gibt jedoch einen Ort, der mir immer wieder durch den Kopf spukt, wenn ich an die DDR denke: Es ist die Holzlaube im wilden Garten meiner Großeltern, in dem meine Oma als Hauptakteurin auftritt. In diesem Bild leuchten auch die vielen bekannten Gesichter und ihre Geschichten auf. Vor allem aber bringe ich diese Erinnerungen mit bestimmten Gerüchen in Verbindung.
Ich sehe meinen Opa, meine Oma und ihre vier Kinder, 1978, wie sie ein Haus aus Holz und Kalksandstein bauen, und ich rieche den Schweiß ihrer schweren Arbeit. Ich rieche das verbrannte Holz, das im Ofen des Wohnzimmers fackelt, in dem ich Häuser aus dem Metallbaukasten baue. Ich rieche feuchtes Schilf, das auf dem Dach liegt und durch das der Wind so schöne Melodien pfeift. Ich rieche dicke, bunte Ölfarbe, mit der ich Tiere und Blumen auf die Wände der kleinen Toilette male, und erinnere, wie die Farbe nur schwer von meinen Fingern zu ziehen ist. Ich rieche den Staub einer alten Uniform, den ich wegpuste, bis ein „FDJ“-Abzeichen auf ihr zu erkennen ist. Ich rieche ausgewaschenes „Plaste“ – von Gemüsebehältern und Schokoladenverpackungen, welches meine Oma wiederverwendet für ihre Stifte und Notizen und die sauren Johannisbeeren aus dem Garten. Ich rieche ihre alten Reliefkarten, die sie im Geografieunterricht benutzte und auf denen Worte wie „UdSSR“ stehen, die ich als Kind nicht verstehe. Ich rieche Musiknoten von „Peter und der Wolf“ und erinnere, wie meine Oma mich und meine Cousins drängt, laut vor der Familie zu singen. Ich rieche die Sonnenblumen im Garten, die meine Mama so liebt, und erinnere, wie sie mir erklärt, warum es merkwürdig ist, wenn ich „Kosmonaut“ in der Schule sage. Ich rieche Tränen vom Familienzank, in dem Worte wie „Stasi“ und „Diktatur“ fallen. Politisch betrachtet, bin ich zwei Jahre nach der Wiedervereinigung geboren. Wenn ich aber an die DDR denke, dann denke ich an meine frühe Kindheit.
von Julia Meier
[caption caption="Foto: Datsche in Primorsky Krai."][/caption]
Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 2.5.
Der Westdeutsche
Wenn man Mitte der 90er geboren und in einer Provinz in Westdeutschland aufgewachsen ist, fühlt sich schon die Zuschreibung falsch an: „In Westdeutschland aufgewachsen“. Denn eigentlich ist man ja in „Normaldeutschland“ aufgewachsen, von der jüngeren Geschichte, abgesehen von einem weit entfernten „Deutschen Herbst“, kaum berührt. Die DDR war das andere, schmuddelige Deutschland, das höchstens in Form kurioser Anekdoten (Autos aus Plastik, kein Kaffee) zur Sprache kam. Andere „Deutsche“ oder überhaupt Menschen schien es da kaum gegeben zu haben, höchstens einen Typen namens „Der Honecker“ und eine entfernte Verwandte, die unangemessen undankbar meiner Oma gegenüber war, die ihr mal irgendwelche Pakete geschickt hatte. Viel öfter ging es sowieso nicht um die DDR, sondern um den Osten, um die Gegend also, wo die DDR früher mal war. Da konnte man in den 1990ern hinfahren und sich kaputte Häuser anschauen.
Dass in der DDR richtige Menschen mit einer eigenen Kultur gelebt hatten, wurde mir erst nach meinem Umzug nach Berlin bewusst. Meine Ex-Freundin, deren Eltern aus Brandenburg kommen, redete von Dingen wie „Fix und Fax“ (ein DDR-Comic?) und kannte einen Musiker namens „Gundermann“, davon hatte ich noch nie gehört. Bevor ich ihre Eltern kennengelernt hatte, hieß es, ich solle die Wessi-Sprüche ihres Vaters ignorieren. Schon wieder dieser Begriff: Ich, der „Westdeutsche“?
Zum ersten Mal bin ich in der ersten Woche in meiner neuen Wohnung als solcher bezeichnet worden, als mir ein Rentner sagte, dass ich wie ein Westdeutscher parke.
Die Rentner in meiner Wohnsiedlung sind für mich überhaupt das sichtbarste Stück DDR-Geschichte. Da ich eine gute Beziehung zu meiner Nachbarin Frau Fehr, die schon über 80 ist, pflege, weiß ich, dass sie in dieser Siedlung geboren, aufgewachsen, Mutter geworden und verrentet worden ist. Sie kennt viele Menschen in der Siedlung beinahe ihr ganzes Leben lang. Sie alle haben wie sie, solange die DDR existierte und darüber hinaus, dort gelebt, Musik gehört, Filme gesehen und gearbeitet. Damit sind sie für mich wandelnde Zeitzeugen, auch wenn ich bisher nur mit ein paar von ihnen gesprochen habe. Sie alle haben den Großteil ihres Lebens in einem anderen Deutschland verbracht, in einem Land, über das ich kaum etwas weiß und das es nicht mehr gibt. Das finde ich nach wie vor faszinierend.
von Jan Casper
[caption caption="Foto: Gerhard Gunderman, 1994 von Claude Lebus. "][/caption]
Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0.
Guten Morgen, du Schöne Maxie Wander. Bilder von und Erinnerungen an DDR-Frauen*
Meine Eltern fahren noch heute, 29 Jahre nach dem Mauerfall, nur mit Stadtplan oder Navigationssystem in den Ostteil Berlins – wenn sie denn überhaupt hinfahren. „Als die Mauer noch stand, konnte ich mich nie verfahren: Ich wusste ja immer, wo Schluss war“, beschwerte sich meine Mutter einmal. Wir hatten uns mit dem Auto in Ostberlin tierisch verfahren. Meine Eltern sind wohl das, was man typische „Wessis“ schimpft: Sie betrachten ihr damaliges Leben im Westen als besser, verglichen mit dem in der DDR, bemitleiden die „Ossis“ für das Leben unter Stasi und Bananenmangel und wissen allgemein sehr wenig über die Geschichte des anderen Deutschlands. Umso größer war meine Überraschung, als ich im Winter dieses Jahres im Bücherregal meiner Mutter Maxie Wanders Buch „Guten Morgen, du Schöne“ entdeckte. Ich hatte es ein paar Monate zuvor gelesen und allen, die es hören oder nicht hören wollten, begeistert davon erzählt. Maxie Wander war ein „feministischer Star“ für mich geworden und wie ich herausfand, sie war es ebenfalls für meine Mutter. Auf dem Rückweg von Spandau nach Hause ging mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: Wieso hatte meine Mutter mir nie von dem Buch erzählt? Meine Mutter ist keine Akademikerin, aber sie hat mir Bücher, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben, immer zum Lesen gegeben. Meine Mutter ist auch keine klassische Feministin, aber Grundvorstellungen von Emanzipation und Selbstbestimmung hat sie mir von Kind auf vermittelt. Das hätte uns, darüber war ich mir in meinem Maxie Wander-Rausch hundertprozentig sicher, doch zu einem Gespräch über das Buch bringen müssen!
Auf der langen U-Bahn-Fahrt nach Hause kam mir folgende Erklärung: Maxie Wander hat es als DDR-Autorin nicht in den BRD-Kanon geschafft, auch nicht für diejenigen, die wie meine Mutter und viele Frauen* in Ost- und Westdeutschland das Buch sehr bewegt hat. Ich fragte mich: Was weiß ich über die Geschichte von Frauen* in Deutschland nach 1945? Die Liste dessen, was ich über die westdeutsche Frauen*-Geschichte in meinem Kopf habe, ist lang. Die über die ostdeutsche hingegen lässt sich unter drei Stichpunkten zusammenfassen: Frauen* haben früh Kinder bekommen, es gab Kindergartenplätze für alle, Frauen* haben gearbeitet. Erst durch die Lektüre von „Guten Morgen, du Schöne“ habe ich einen Einblick in die Realität von Frauen der 70er Jahre in der DDR bekommen, der über das Drei-Punkte-Narrativ hinausgeht. Die westliche BRD-Sicht habe ich nicht nur durch mein Elternhaus, sondern auch durch das Fernsehen und in der Schule erlernt. Dass Maxie Wanders Buch nicht in das kollektive Gedächtnis der Frauen*-Bewegung eingegangen ist (oder zumindest nicht in das meiner Mutter), wohingegen wahrscheinlich jede*r Alice Schwarzers Stern-Aktion zum Thema Abtreibung kennt, ist nicht nur verwunderlich, sondern ein großer Verlust für die deutsche Erinnerungskultur zur DDR-Geschichte.
von Jona Schapira
[caption caption="Buchcover: Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne."][/caption]
Mehr als nur Stasi und Rotkäppchen-Sekt?
Als letzte Woche in der Einführungsveranstaltung die zu erwartende, ja fast unvermeidliche Frage fiel, was für uns persönlich denn tatsächlich von der DDR geblieben sei, fiel mir – unvorbereitet wie ich zugegebenermaßen war – auf Anhieb sehr wenig Greifbares ein. Auch nach reiflicher Überlegung kam mir wenig in den Sinn, das es verdiente, niedergeschrieben zu werden, und das wohl aus mehreren Gründen.
Zunächst, ich komme nicht aus Deutschland, sondern aus einem der Nachbarländer. Einem Land, das im direkten Vergleich selbst zu Zeiten der innerdeutschen Grenze und Teilung als Zwergstaat bezeichnet werden konnte – Luxemburg. Hinsichtlich meiner Kenntnisse über die bewegte Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik kann ich mir getrost eingestehen, dass ich auf diesem Gebiet keineswegs eine Expertin bin, sondern einfach nur das weiß, was ein jeder Geschichtsstudent sich während der ersten drei Jahre seines Studiums aneignet.
Tatsächlich, und dieser Umstand ist schon fast tröstlich, ergibt auch eine schnelle Google-Recherche mit den Schlagwörtern „Luxemburg-DDR“ kaum etwas, abgesehen von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Januar 1973 und einem Fußball-WM Qualifikationsspiel, das Luxemburg 1-3 verlor.
Nachdem diese Quelle nunmehr ausgeschöpft war und ich noch immer keine konstruktive Antwort auf die Frage, was denn von der DDR geblieben sei, vorweisen konnte, rief ich in der festen Überzeugung, dass Menschen, die die DDR – wenn auch aus der Ferne – miterlebt hatten, mir doch sicher etwas dazu erzählen könnten, meine Eltern an. Doch auch diese Hoffnung wurde zerschlagen, denn meine Eltern hatten – mangels Familienbeziehungen und engen Freunden in Deutschland – die DDR sowie die BRD während der Teilung gemieden. Trotzdem kamen im Gesprächsverlauf in rascher Folge klassische DDR-Assoziationen wie Überwachungsstaat, Stasi und Berliner Mauer zur Sprache, was bei mir wiederum die Frage aufwarf, ob von der DDR denn wirklich nicht mehr geblieben sei als die Assoziation mit einem Unterdrückungs-Staat? Einem Staat, der selbst aus dem Bau einer Mauer – die bisweilen in den Köpfen vieler Menschen immer noch existiert – inmitten einer pulsierenden Großstadt wie Berlin keinen Zuwachs an Zustimmung in der Bevölkerung und damit Legitimität generieren konnte? Ist die DDR für viele Menschen nicht mehr als jenes sowjetisch-sozialistische Experiment, das nach keinem halben Jahrhundert seiner Gründung – die wahrlich kaum mehr als ein ideologisches Trauerspiel war – wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und spektakulär scheiterte?
Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage traf ich zufällig auf einen Nachbarn und bekam prompt eine: „DDR-Überbleibsel? Ja klar, Rotkäppchen Sekt natürlich!“
von Linda Graul
Die fünfte Renovierung
Als ich letztens bei einer älteren Freundin zu Besuch war, stellte ich fest, dass ihr Wohnzimmer schon wieder umgestaltet wurde. Ein neuer Teppich und eine neue Couch sowie dazu passende Kissen, Vorhänge und Wandfarbe verliehen dem Raum ein völlig neues Aussehen. Das war die fünfte Renovierung innerhalb von elf Jahren. Nach einem kurzen Lob sprach ich sie vorsichtig darauf an, ob sie sich dessen bewusst sei. Daraufhin lächelte sie nur und sprach davon, wie wunderbar es doch wäre, dass einem heutzutage so viele Möglichkeiten für eine individuelle Einrichtung zur Verfügung stünden. Möglichkeiten, die ihr in ihrer Jugend in der DDR nicht gegeben wurden.
Natürlich wusste ich bereits aus Erzählungen und Lektüre, dass Individualität in vielen Lebensbereichen in der DDR aufgrund der fehlenden Auswahl nicht sonderlich präsent war. So richtig verstanden habe ich es allerdings erst, als ich wenige Tage später mit ihr durch die Straßen des Prenzlauer Berg lief. Wir betraten ein Geschäft, welches ausschließlich mit Mode, Möbeln und Accessoires aus den 60er, 70er und 80er Jahren der DDR handelte. Wo ich von einer Ecke zur nächsten rannte, weil ich gar nicht wusste, wo ich bei all den Schätzen anfangen sollte zu suchen, war es für meine Freundin eine sichtlich unangenehme Reise in die Vergangenheit. Bei meinen Versuchen, ihr ein Teeservice schmackhaft zu machen oder ihr wenigstens eine ihrer für mich kostbaren Erinnerungen als Zeitzeugin zu entlocken, fühlte sie sich merklich immer unwohler. Als ich ihr dann zu verstehen gab, dass ich nicht begreifen könne, warum sie nur der Anblick dieser Gegenstände so verstimmt, entgegnete sie mir: „Wie würdest du es finden, wenn du eine Brille bräuchtest und es nur dieses eine scheußliche Modell gibt? Wie würde es dir gefallen, wenn die Wohnungen all deiner Freunde Ebenbilder deiner eigenen wären? Was würdest du von einem Leben ohne jegliche Individualität halten?“ Nun war ich diejenige, die nicht mehr wusste, was sie sagen sollte.
Später auf meinem Heimweg blieb ich vor einem Café im Einrichtungsstil der DDR stehen. Wie konnte ich etwas als schön empfinden, das wohl für viele ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR so eintönig war? Schlagartig wurde mir bewusst, das mich lange Zeit etwas fasziniert hatte, dass in meiner Freundin immer nur eines hervorrief: Keine Wahl zu haben.
von Vivien Püschel
[caption caption="Foto:Wohnzimmer, VEB Vereinigte Möbelfabriken Frankfurt-Oder. "][/caption]
Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0 de.
Wo die Trambahnschienen beginnen
Ich bin in Westdeutschland geboren. Ein Teil meiner Familie stammt aus Bayern, der andere aus den Niederlanden. „Ich habe keine Berührpunkte mit der DDR“, dachte ich mir, als ich begann, über die Frage nachzudenken. Es fielen mir lediglich einige Anekdoten ein, die alles sind, was mir persönlich bleibt, von einer Zeit, die ich selbst nie erlebt habe und die mir bisher außerhalb der Universität immer fern war. Beispielsweise fragte mich meine Mutter, vermutlich benebelt von der Aufregung meines Umzugs, kurz bevor ich nach Berlin zog, ob ich denn seit der Wende schon einmal in Berlin gewesen sei. Ich bin 1994 geboren. Das zeigt wohl, dass die Wende in der Wahrnehmung meiner Mutter sehr wohl einen Umbruch darstellt, jedoch nicht mehr so präsent ist, wie sie es vermutlich vor 20 Jahren noch war. Ich erinnerte mich auch sofort daran, dass mein Taufpate in seiner Studienzeit bei einem Ausflug nach Ostberlin wegen illegalem Geldwechsel festgenommen wurde und einen Tag im Gefängnis verbringen musste.
Andererseits musste ich daran denken, dass mir meine Freundin davon erzählte, wie der mütterliche Teil ihrer Familie die Wende als Zusammenbruch von etwas sah, das über Jahrzehnte selbstverständlich war. Ihr Großvater, ein Chemiker aus Halle an der Saale und damals definitiv Teil des DDR-Systems (Parteimitglied etc.), verlor seinen Job mit der Wende und konnte wegen der ihm nachgesagten Systemtreue in der wissenschaftlichen Welt der BRD keinen Fuß mehr fassen. Als dieser Großvater erfuhr, dass ich Geschichte studiere, drückte er mir begeistert ein rot eingebundenes Buch in die Hand: „Die Geschichte Russlands“.
Was mir also bleibt ist ein Mosaik aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf die DDR. Einerseits eine klassisch westdeutsche Sichtweise von Menschen, die sie nie wirklich erlebt haben. Andererseits sind in dieses Mosaik auch Anekdoten eingelassen, die mir ein Bild von Menschen zeigen, die in dem System funktionierten.
Mir persönlich, als westdeutschem Studenten, ist die DDR nun in meinem neuen Berliner Alltag noch nicht sonderlich präsent. Ich denke nicht daran, ob ich nun in der ehemaligen DDR ein Bier trinke oder nicht. Für mich ist der Westen dort, wo es keine alten Trambahngleise gibt, und der Osten da, wo sie wieder anfangen. Egal ist sie mir jedoch keineswegs. Ich möchte die ja doch noch nicht so ferne Geschichte in meine Wahrnehmung holen.
Anonym
[caption caption="Foto: Bombardier Flexity Berlin (GT6-08ER) in Berlin-Alt-Hohenschönhausen an der Kreuzung Hauptstraße / Rhinstraße / Wartenberger Straße."][/caption]
Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0.
Kulturelle Bruchstücke
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