Karin Herbst-Meßlinger ist Filmwissenschaftlerin und Redakteurin der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der Publikationen, die die Deutsche Kinemathek alljährlich begleitend zum Filmprogramm der Retrospektive der Berlinale veröffentlicht. Karin Herbst-Meßlinger hat mit Sophie Genske und Rebecca Wegmann über ihre Arbeit gesprochen.
zeitgeschichte|online: Seit wann arbeiten Sie im Kurator*innen-Team der Berlinale-Retrospektive und wie genau sieht Ihre Arbeit aus?
Karin Herbst-Meßlinger: 2017 habe ich die Redaktion der Publikation zur Retrospektive übernommen. Diese Sektion der Berlinale wird von der Deutschen Kinemathek in Kooperation mit den Filmfestspielen kuratiert und organisiert. Ab dem Frühjahr jeden Jahres beginnen die Vorbereitungen für die Retrospektive des Folgejahres. Aufgabe der Publikation ist es, das Thema der Retrospektive zu vertiefen, filmhistorisch einzuordnen und dabei ein filmwissenschaftliches Fachpublikum ebenso anzusprechen wie cineastisch Interessierte. Auf der Basis einer umfassenden Literaturrecherche und der parallel stattfindenden Filmsichtungen mache ich mich auf die Suche nach Fragestellungen, die von der filmhistorischen Forschung noch nicht oder nicht ausgiebig bearbeitet wurden. Ich recherchiere international nach potenziellen Autor/-innen, die bereits mit dem Thema vertraut oder durch Arbeiten in dessen weiterem Spektrum qualifiziert sind, und entwickle Aufsatzschwerpunkte, die die wichtigsten Aspekte des Themas der Retrospektive erschließen und in der Kombination eine neue Sicht darauf ermöglichen. In den während der Sichtungsphase stattfindenden gemeinsamen Gesprächen mit Rainer Rother, dem Leiter der Retrospektive und künstlerischen Direktor der Deutschen Kinemathek, und der Kuratorin Connie Betz kristallisieren sich zudem über mehrere Monate hinweg bestimmte Schwerpunkte heraus, nach denen wir die Fülle der Filme, die zur Auswahl stehen, strukturieren. Basis der Bücher sind in der Regel mehrere wissenschaftliche Langessays. Für die Konzeption des Buchs „Weimarer Kino — neu gesehen“ erwies es sich als sinnvoll, neben wissenschaftlichen Langessays eine kleinere Anzahl von Aufsätzen zu einzelnen, aufgrund der Überlieferungslage völlig unbekannten Filmen schreiben zu lassen – und zwar von Filmemacher/-innen wie Wim Wenders oder Ulrike Ottinger, die einen ganz persönlichen, von ihrer künstlerischen Praxis geprägten Blick auf diese Werke geworfen haben. Auch für die beiden folgenden Bücher haben Filmemacher/-innen Texte zu einzelnen Werken verfasst. Wichtig ist der konkrete Bezug, den die Autor/-innen zu den Filmen haben. Zu meinen sonstigen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Buch zur Retrospektive gehört u. a. die Zusammenarbeit mit dem Verlag, der Austausch mit den Autor/-innen über die entstehenden Texte, das Lektorat der Texte, die Zusammenarbeit mit mehreren Übersetzer/-innen, mit einem Grafiker sowie die Auswahl der Abbildungen.
zeitgeschichte|online: Was waren Ihre Highlights der vergangenen Jahre?
Karin Herbst-Meßlinger: Die Publikation „Weimarer Kino — neu gesehen“ wurde 2018 im Rahmen des Cinefest – Internationales Festival des deutschen Film-Erbes mit dem Willy-Haas-Preis ausgezeichnet, im Jahr darauf erhielt die Publikation zur Retrospektive „Selbstbestimmt – Perspektiven von Filmemacherinnen“ im gleichen Kontext eine lobende Erwähnung. Über diese Anerkennung haben wir uns sehr gefreut.
Ein besonderes Highlight war es auch, dass im Rahmen der Retrospektive „Selbstbestimmt“ fast alle rund dreißig Regisseurinnen, deren Filme wir ausgewählt hatten, zur Berlinale hier vor Ort waren und ihre Werke persönlich in den Kinos vorgestellt haben. Das Zusammentreffen dieser deutschen Filmemacherinnen aus Ost und West, die überwiegend in den 1960er-, 1970er-und 1980er-Jahren Kinogeschichte geschrieben haben, war ein einmaliges und berührendes Ereignis.
zeitgeschichte|online: Die diesjährige Retrospektive widmet sich dem Werk des US-amerikanischen Regisseurs King Vidor. Wieso haben Sie King Vidor als Jubiläumsthema ausgewählt? Warum King Vidor?
Karin Herbst-Meßlinger: Nach zwei Jahrgängen mit Themenschwerpunkten in der deutschen Filmgeschichte und nach mehreren Retrospektiven der letzten Jahre, deren Fokus auf filmästhetischen oder filmtechnischen Aspekten bzw. auf Genres wie dem Science-Fiction-Film lag, stand im Vorfeld fest, dass 2020 wieder das Œuvre eines einzelnen Filmschaffenden vorgestellt werden sollte. Zuletzt waren 2011 Ingmar Bergman, 2008 Luis Buñuel und 2003 Friedrich Wilhelm Murnau vertreten.
King Vidor zählte seit Längerem zu den Regisseuren, die für eine Retrospektive in Frage kamen: Allein zwischen 1919 und 1959 realisierte er 54 Spielfilme, zusammen mit seinen beiden 1966 und 1980 entstandenen Essayfilmen umfasst seine aktive Filmarbeit 67 Jahre. Vidor war ein Regisseur, Drehbuchautor und Produzent, der grundsätzlich vom Thema her dachte, das heißt: den Stil seiner Filme vom jeweiligen Stoff ausgehend entwickelte. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, dass sein Name zumindest in Europa weitaus weniger bekannt ist als zumindest einzelne seiner Filme. Sein Gesamtwerk lässt sich nicht anhand weniger Kategorien fassen, es ist thematisch wie stilistisch sehr vielfältig. Vidor machte sich mit großer Experimentierfreude die jeweiligen filmtechnischen Neuerungen seiner Zeit – darunter Tonfilm, Breitwandformat, Technicolor – für seine Produktionen zunutze und lotete unterschiedlichste Genres aus: Melodramen, Western, Komödien, Sozialdramen etc. Er war ein außergewöhnlich vielseitiger und innovativer Regisseur, in seinen heute selten gezeigten Filmen gibt es viel zu entdecken.
zeitgeschichte|online: Gibt es in den Filmen King Vidors Bezüge zur Gegenwart?
Karin Herbst-Meßlinger: Ja, es gibt eine Reihe noch heute oder heute wieder aktueller gesellschaftspolitischer Themen, die immer wieder in Vidors Filmen auftauchen, wie zum Beispiel die Folgen von Arbeitslosigkeit in „The Crowd“ (1928) oder in „Our Daily Bread“ (1934).
Das nicht immer konfliktfreie Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalität und mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund, die in die USA eingewandert sind, zeigt Vidor humorvoll in „Street Scene“ (1931). „A Japanese War Bride“ (1952) ist ein explizit antirassistischer Film, der sich gegen die in den USA lange verbreitete Verurteilung von japanischen Ehefrauen amerikanischer Militärangehöriger richtet. Außerdem beschäftigte King Vidor sich früh mit dem Thema Emanzipation: In dem Stummfilm „The Real Adventure“ (1922) beispielsweise verlässt eine junge Frau vorübergehend ihren konservativ eingestellten Ehemann, um Anerkennung und Erfolg in einer Berufstätigkeit zu suchen.
zeitgeschichte|online: Viele Filme King Vidors enthalten für das damalige Hollywood untypische, sozialkritische Botschaften. Was kritisiert Vidor und in welchem Kontext steht seine Kritik?
Karin Herbst-Meßlinger: „The Big Parade“ (1925) war der erste amerikanische Film über den Ersten Weltkrieg, der frei ist von der sogenannten Anti-Hunnen-Propaganda, die bis dahin in der US-Politik und auch im US-Kino dominierte. Der Film zeigt die durch den Krieg verursachten Leiden des Einzelnen bzw. einer kleinen Gruppe Betroffener und relativiert dadurch die politischen Interessen, mit denen der Krieg gerechtfertigt wurde. Selbst die feindlichen deutschen Soldaten inszenierte Vidor mit mitfühlendem Blick. Diese Haltung machte „The Big Parade“ zum weltberühmten Vorbild für spätere Antikriegsfilme wie „Westfront 1918“ (R: G. W. Pabst, D 1930) oder „All Quiet on the Western Front“ (R: Lewis Milestone, USA 1930).
Ein anderes Thema, das sich durch Vidors Filme zieht, ist seine Kritik an den Einschränkungen, die durch Klassenzugehörigkeiten entstehen. Davon betroffen sind oft die Frauenfiguren in den Filmen: Barbara Stanwyck verweigert sich in der Titelrolle von „Stella Dallas“ (1937) dem Lebensstil der ‚besseren‘ Gesellschaft, in die sie hineingeheiratet hat, und bleibt am Ende allein. Bette Davis geht als Rosa Moline in „Beyond the Forest“ (1949) über Leichen bei dem Versuch, aus ihren als zu eng empfundenen Lebensverhältnissen in einer Kleinstadt auszubrechen. Dass sie sich dabei auch für eine Abtreibung entscheidet, war ein zur Entstehungszeit des Films, als Regisseure und Produzenten unter dem Zensurdruck des Hays Codes standen, ungewöhnlich gewagtes Detail der Handlung.
zeitgeschichte|online: „Hallelujah“ (1929), der erste Tonfilm King Vidors und erste Film überhaupt mit ausschließlich schwarzem Cast, wird zweimal im Retrospektive-Programm, jeweils mit einer Einführung (einmal von Lisa Gotto und einmal von Dennis Lim), aufgeführt. Warum wird dieser Film heute mit Einführungen gezeigt und was thematisieren diese? Wie gehen Sie jenseits dessen, beispielsweise mittels Warntafeln, mit den rassistischen Stereotypen, die im Film gezeigt werden, um?
Karin Herbst-Meßlinger: King Vidor hat lange für diesen ausschließlich mit afroamerikanischen Darsteller/-innen besetzten Film über eine schwarze Familie, die auf einer Baumwollplantage in den Südstaaten arbeitet, gekämpft. Seinen Anspruch, das afroamerikanische Alltagsleben als realitätsnahes Drama zu inszenieren, konnte er aber gegen die Einschränkungen, die MGM ihm auferlegte, nicht durchsetzen. Ein Jahr zuvor hatte Vidor in „The Crowd“ ebenso wirklichkeitsgetreu wie kritisch die prekären Arbeitsbedingungen von Angestellten in amerikanischen Großstädten geschildert – und dabei übrigens viele persönliche Erfahrungen seiner mühsamen Anfänge im Studiosystem Hollywoods verarbeitet. In „Hallelujah“ ist dagegen keinerlei Sozialkritik erkennbar: Die alltägliche rassistische Diskriminierung und die Ausbeutung afroamerikanischer Baumwollpflücker durch weiße Plantagenbesitzer kommen in dem Film nicht vor. Die zur Entstehungszeit des Films stattfindende Great Migration, bei der Millionen Afroamerikaner/-innen aus den Südstaaten in die nordamerikanischen Metropolen flüchteten, bleibt in „Hallelujah“ ausgespart zugunsten einer nostalgisch verklärten Schilderung des Lebens von Plantagenarbeiter/-innen, die sich sämtlichen Beschränkungen widerstandslos unterwerfen.
Mit den Einführungen in den Kinos wollen wir – ebenso wie auch mit Lisa Gottos Essay über „Hallelujah“ in der Publikation zur Retrospektive – auf eine Reihe filmhistorischer Faktoren aufmerksam machen, die die Entstehung dieses Films beeinflusst haben. Dazu gehört beispielsweise der Umstand, dass MGM sich damals in einem Wettstreit mit dem Konkurrenz-Studio Fox um die Produktion des ersten abendfüllenden Tonfilm-Musicals mit ausschließlich afroamerikanischen Darsteller/innen befand. Schwarze Musiker/-innen, Sänger/-innen und Tänzer/-innen galten als verkaufsfördernd, und die Produktionsfirmen wollten die wachsende Popularität ihres Blues und Jazz für die massenwirksame Durchsetzung der neuen Tontechnologie nutzen. Allerdings handelt es sich bei den Musik- und Tanzstilen in dem Film in Wirklichkeit um Varianten der authentischen afroamerikanischen Vorbilder, die an die von Weißen geprägte Unterhaltungsindustrie angepasst waren. „Hallelujah“ ist gleichermaßen geprägt vom fortschrittlichen Element des Tons, das Vidor hier erstmals und beeindruckend einfallsreich einsetzt, und von der aus heutiger Perspektive rückwärtsgewandt erscheinenden Darstellung afroamerikanischer Lebenswelten. Gleichzeitig erstaunlich modern und mutig inszeniert sind die zwischen Sexualität und Religiosität hin- und hergerissenen beiden Hauptfiguren des Films, Zeke und die Tänzerin Chick.
zeitgeschichte|online: Was macht die Filme des diesjährigen Retrospektive-Programms für Zeithistoriker*innen sehenswert?
Karin Herbst-Meßlinger: King Vidors Werk bringt uns mehr als 50 Jahre der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nahe. Zahlreiche seiner Filme sind beeinflusst von Themen, die Politik und Gesellschaft damals prägten – angefangen beim Ersten Weltkrieg über die Weltwirtschaftskrise bis hin zum New Deal etc. Vidors Fähigkeit, sich in das Erleben seiner Figuren einzufühlen, ohne zu urteilen oder zu verurteilen, macht die Filme zeitlos und zutiefst menschlich. Martin Scorsese schreibt in seinem Essay für die Publikation zur Retrospektive etwas, was Ihre Frage vielleicht auch beantwortet: „Ist es nicht gerade wichtig zuzulassen, dass die Filme uns lehren, wie wir uns die Welt zur Zeit von deren Entstehung in Erinnerung rufen sollen, wie wir sie uns vorzustellen haben, als es Künstler wie Vidor gab?“ Wobei dieses Zitat weit über die aktuelle Retrospektive hinausreicht: Es ist ein grundlegendes Argument für die Beschäftigung mit Werken der Filmgeschichte.
zeitgeschichte|online: Im Jahr 1962 war Vidor bei den 12. Filmfestspielen in Berlin sogar Jurypräsident, damit Jurymitglied der Internationale Spielfilm-Jury. Was verbindet die Berlinale seitdem mit King Vidor?
Karin Herbst-Meßlinger: Vidors Western „Duel in the Sun“ (1947) wurde in den letzten Jahrzehnten dreimal im Rahmen der Berlinale-Retrospektive gezeigt: 1988 („Color. Die Geschichte des Farbfilms“), 1993 („CinemaScope“) und 2015 („Glorious Technicolor. Filme aus dem George Eastman House und weiteren Archiven“). „The Patsy“ (1928) lief 2007 im Rahmen der Retrospektive „City Girls. Frauenbilder im Stummfilm“.
2015 war auch „An American Romance“ (1944) im Programm vertreten. Außerdem ist „The Wizard of Oz“ (1939) zu nennen, der 1985 in der Retrospektive „Special Effects“ gezeigt wurde. In den Credits taucht nur Victor Fleming als Regisseur auf, tatsächlich übernahm aber King Vidor diesen Part für die letzten drei Wochen der Produktion.
zeitgeschichte|online: Welchen Film von King Vidor würden Sie uns besonders empfehlen?
Karin Herbst-Meßlinger: Zu meinen Favoriten zählt u. a. „Street Scene“, ein wenig bekannter Film, dessen Schauplatz die Fassade eines New Yorker Mietshauses und der Gehweg davor ist. Auf der Basis dieses klar definierten und nur scheinbar beschränkten Sets hat Vidor mittels aufwendiger Kameratechnik ein ästhetisches Meisterwerk geschaffen, in dem keine einzige Einstellung zweimal vorkommt und bei dem man sich fragen kann, ob Alfred Hitchcock sich für „Rear Window“ davon inspirieren ließ.
Hinzu kommen die vielfältigen Akzente der Immigrant/-innen, die mal mehr, mal weniger harmonisch in diesem Haus zusammenleben – sie machen den Film auch akustisch zu einem großen Vergnügen. Besonders mitreißend ist aber auch die Mantel-und Degen-Komödie „Bardelys the Magnificent“ (1926) mit John Gilbert in der Hauptrolle.
Zum Programm der diesjährigen Retrospektive
Fünf Jahrzehnte amerikanischer Geschichte im Film
Ein Interview mit Karin Herbst-Meßlinger über das facettenreiche Werk des Filmregisseurs King Vidor