„War Cannot Be Played“

„Spiele sind keine Filme!“[1] Hinter dieser Aussage eines Vertreters der Obersten Landesjugendbehörden aus dem Jahr 2014 steckt großes Unbehagen. Unbehagen gegenüber der Gleichsetzung digitaler Spiele mit Filmen. Bis heute herrscht große Skepsis gegenüber dem interaktiven Medium des Videospiels. Immer wieder ist in diesem Zusammenhang die Rede von Gewaltverherrlichung, einem hohen Suchtpotential und dem leichtfertigen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Inzwischen jedoch stoßen interaktive Videospiele auf wachsende Akzeptanz, wie etwa die zahlreichen durchweg positiven Reaktionen auf das jüngst erschienene Spiel „Through the Darkest of Times“ zeigen.[2]

Im Zuge dieser Entwicklung stellten sich drei junge Filmemacher aus Österreich die Frage: Warum nicht die beiden Medien Film und Spiel miteinander verbinden? In ihrem Kurzfilm „How to Disappear“ setzten sie diese Idee in die Tat um. Auf der 70. Berlinale 2020 feierte der Film seine Weltpremiere.

 

Pazifisten in der digitalen Welt

Hinter dem Projekt steht das 2018 gegründete Künstlerkollektiv „Total Refusal“. Seine Mitglieder Leonhard Müllner, Robin Klengel und Michael Stumpf haben es sich als „Digital Disarmament Movement“ zur Aufgabe gemacht, die militärischen Inhalte von digitalen Spielen in einen friedlichen Kontext umzudeuten. Sie nutzen die Spielmechanik für ihre Zwecke und versehen die digitalen Schlachtfeldern mit einem pazifistischen Anstrich.[3] Bereits 2018 gelang ihnen dies mit ihrem Projekt „Operation Jane Walk“, indem sie den auf Gewalt ausgelegten Shooter „Tom Clancy’s: The Division“ in eine friedliche, digitale Stadtführung durch New York umwandelten.[4]

Ihre Beziehung zu digitalen Spielen bezeichnet das Kollektiv als Hass-Liebe: Zwar böte das Medium enorme Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten, gleichzeitig sei es aber auch marktkapitalistischen Mechanismen unterworfen, die seine wahren Potentiale nicht zu Geltung kommen ließen.[5] Mit dem Anspruch, diese ungenutzten Möglichkeiten und die Grenzen auszutesten, entstand auch „How to Disappear“.

Das Macherkollektiv von „How to Disappear“: Robin Klengel, Leonhard Müllner und Michael Stumpf von „Total Refusal“ © N. Lackner & J. J. Kucek.

 

Idee und Entstehung

Das Videoprojekt basiert auf dem Spiel „Battlefield V“, einem Online-Multiplayer-Shooter, der zeitlich im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist. Die Spieler*innen schlüpfen dort in die Rolle einer Soldatin oder eines Soldaten auf Seiten der Alliierten oder der Wehrmacht und kämpfen gegen andere Spieler*innen auf der ganzen Welt. „Battlefield V“ folgt einer einfachen Logik: Töte oder werde getötet. Vor dem Hintergrund dieser Kriegsthematik widmete sich das Team von „Total Refusal“ einem häufig unbeachteten Aspekt militärischer Konflikte: der Desertion. Die Filmemacher stellen Fahnenflucht in „How to Disappear“ als einen wesentlichen Bestandteil von Kriegen heraus. Und da Krieg auch der Kernaspekt von „Battlefield V“ ist, setzen sie sich mit den Möglichkeiten von Desertion innerhalb der digitalen Welt auseinander: Sie loten die Grenzen des Spiels aus und hinterfragen gleichzeitig die zentralen Maximen von Kriegen, wie etwa Gehorsam und Disziplin.

Stilistisch orientiert sich „How to Disappear“ am Dokumentarfilm: Das Thema Desertion wird in verschiedenen Spielszenen visualisiert, während eine Off-Stimme das Gezeigte kommentiert und einordnet. Doch wie lassen sich ein interaktives und ein rein audiovisuelles Medium mit dokumentarischem Charakter überhaupt miteinander in Einklang bringen?

Fakt ist, dass die gegenseitigen Einflüsse zwischen Film und Spiel im Allgemeinen sehr hoch sind. Auf der inhaltlichen und visuellen Ebene tauchen bestimmte Motive sowie Darstellungen medienübergreifend immer wieder auf. Einige erfolgreiche Spiele-Titel wurden auch schon verfilmt.[6] In „How to Disappear“ werden diese starken intermedialen Parallelen gleich in der ersten Szene deutlich: Der Film startet mit einer Landschaftsaufnahme, Soldaten überqueren ein Schlachtfeld. Plötzlich wendet sich einer von ihnen ab und rennt davon, während sich die Kamera an seine Beine heftet.  Bildmotive und Kameraführung erinnern stark an filmische Inszenierungen. Gleichzeitig aber machen die Qualität und Ästhetik der Bilder den Zuschauer*innen klar, dass es sich um Szenen aus einem Spiel handelt.

Filmstill aus „How to Disappear": Ein*e Spieler*in versteckt sich hinter einem Gebüsch, um dem Kampf zu entgehen © „Total Refusal“ .

Für ihren Film mussten die Filmemacher Teil des digitalen Schlachtfelds von „Battlefield V“ werden. Auf einer Diskussionsveranstaltung, die im Rahmen der Berlinale stattfand, wiesen Müllner, Klengel und Stumpf auf die Notwendigkeit hin, „innerhalb der Grenzen des Spiels“ zu arbeiten: Es sei für die Dreharbeiten weder modifiziert, noch abgeschottet von der restlichen Spieler*innen-Community gespielt worden. Somit habe die Arbeit zwar unter erschwerten Bedingungen stattgefunden, gleichzeitig habe dieser Umstand aber auch zu vielen unterhaltsamen Momenten geführt.[7]

Anders als der historische Rahmen von „Battlefield V“ erwarten lässt, beschränken sich die Filmemacher in „How to Disappear“ nicht auf den Zweiten Weltkrieg. Stattdessen nähern sie sich dem Phänomen Desertion und seiner soziokulturellen Bedeutung auf einer übergeordneten Ebene und nehmen ebenso Bezug auf die Napoleonischen Kriege, den Ersten Weltkrieg, den Vietnamkrieg sowie den Irakkrieg. Die nationale Zugehörigkeit der im Film gezeigten Soldaten hat somit keine tiefere Bedeutung. Während der Diskussionsveranstaltung wiesen die drei Filmemacher auf einen wichtigen Aspekt hin: Digitale Spiele seien – anders als es die großen Entwickler*innenstudios propagieren – immer politisch. Auch wenn die Inhalte zum Teil stark entpolitisiert und etwa die Bezüge zum Nationalsozialismus komplett getilgt seien, finde immer eine klare Einteilung bestimmter Gruppen in „Gut“ und „Böse“ oder eine Definition bestimmter Taten im Spiel als Recht oder Unrecht statt.[8]

 

Grenzen im virtuellen Raum

„War cannot be played“. Mit diesen Worten vermittelt das Team von „Total Refusal“ gleich zu Beginn seines Films eine deutliche Botschaft: Virtuelle Kriege, wie sie in „Battlefield V“ thematisiert werden, sind nur Simulationen realer Ereignisse. Sie dienen allein der Unterhaltung und werden im Gegensatz zu realen Kriegen immer freiwillig geführt.[9] Doch wie jedes analoge Spiel folgen auch digitale Spiele festen Regeln. Mit den Gegner*innen eine friedliche Lösung zu finden, ist ebenso unmöglich wie die Waffe fallen zu lassen oder sich vom Schlachtfeld zu entfernen. So schreibt es die Spielmechanik vor. Und so zeigen es Müllner, Klengel und Stumpf auch eindrücklich in ihrem Film: In einer Szene läuft ein Soldat in Richtung des Spielfeldrands, woraufhin sich der Bildschirm grau färbt und eine Stimme den Flüchtenden auffordert, auf das Schlachtfeld zurückzukehren – bis dieser plötzlich tot umfällt. Egal, auf welche Weise und wie oft die Spieler*innen es auch versuchen – ein Entkommen vom Schlachtfeld ist nicht möglich.

Filmstill aus „How to Disappear", beim Verlassen des Schlachtfeldes wird der/die Spieler*in von unsichtbarer Hand zu Fall gebracht, © „Total Refusal“ 

An diesem Punkt beginnt die „Mission“ der drei Künstler: In den folgenden knapp 20 Minuten ihres Films setzen sie sich mit verschiedenen Möglichkeiten auseinander, die vom Spiel vorgegebenen Grenzen auszutesten und seine längst nicht ausgeschöpften Potentiale zu nutzen. Denn auch wenn digitale Spiele umfassende Freiheit suggerierten, existierten diese in Wahrheit nur bedingt, so die Künstler.[10] Und da eine Flucht vom Schlachtfeld nicht möglich ist, müssen eben andere Formen der Kriegsverweigerung und des militärischen Ungehorsams gefunden werden. Sie reichen vom Springen in Abgründe, über das Verstecken hinter Fahrzeugen und in Büschen bis hin zur Behinderung der eigenen Teammitglieder beim Kämpfen. Da diese sich spielregelbedingt nicht mit Waffengewalt gegen die Verbündeten wehren können, bleiben ihnen nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie harren aus und entziehen sich auf diese Weise dem Kampf oder sie verlassen das Spiel und nehmen nicht weiter am virtuellen Krieg teil.

Filmstill aus „How to Disappear", in einer absurd anmutenden Szene robben Soldat*innen im Kreis auf den Gegner zu, um diesen handlungsunfähig zu machen, © Total Refusal.

In seinem Filmprojekt setzt das Team von „Total Refusal“ die Grundprinzipien eines Online-Multiplayer-Shooters außer Kraft, ohne in die Spielmechanik einzugreifen. Müllner, Klengel und Stumpf testen so die Grenzen des Spiels aus, überschreiten sie dabei aber nicht. Sie praktizieren zivilen Ungehorsam in digitaler Form. „How to Disappear“ ist mehr als nur ein Film – es ist ein pazifistisches Statement, das das digitale Spiel als Medium hinterfragt, und dennoch ernst nimmt, und seine Potentiale entsprechend nutzt. Auf diese Weise tragen Müllner, Klengel und Stumpf zu einem grundlegenden Wandel der letzten Jahre bei: der Anerkennung digitaler Spiele als Kunst und Kulturgut.

 

How to Disappear

Regie: Leonhard Müllner, Robin Klengel, Michael Stumpf (Total Refusal)

Österreich 2020

 

Mehr zum Thema

 
Annette Schuhmann, Don‘t predict the future, shape it*. Über die Berlinale Shorts 2020 und die Freiheit, die in der kurzen Form liegen kann, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2020. Maren Röger und Florian Greiner (Hg.), Kampf der Systeme. Brett- und Computerspiele zum Kalten Krieg in West- und Osteuropa, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2017.

 


[1] Martin, David: Hakenkreuze in Games: „Spiele sind keine Filme“. Interview mit der Obersten Landesjugendbehörde, in: PC Games (06.03.2014), [zuletzt abgerufen am 29. Juni 2020].

[2] Vgl. zum Beispiel Bosch, Daniel/Saß, Jakob: Es lässt sich nicht alles wegballern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.01.2020); Huberts, Christian: „Du bekämpfst immer das System“, in: Zeit Online (30.01.2020) und Freund, Nicolas: Nächste Runde: Nazi-Sabotage, in: Süddeutsche Zeitung (08.02.2020), [zuletzt abgerufen am 29. Juni 2020].

[3] Vgl. dafür auch den Internetauftritt von „Total Refusal“, [zuletzt abgerufen am 29. Juni 2020].

[4] Vgl. Operation Jane Walk, Regie: Leonhard Müllner, Robin Klengel, Deutschland 2018, [zuletzt abgerufen am 29. Juni 2020].

[5] Vgl. O. V.: Directors Robin Klengel and Michael Stumpf on „How to Disappear” and the Short Form, Interview, in: Berlinale Shorts – Blog  (25.02.2020), [zuletzt abgerufen am 29. Juni 2020].

[6] Vgl. zum Beispiel Assassin’s Creed (2016), Tomb Raider (2018) und im Serien-Segment The Witcher (2019).

[7] Vgl. Müllner, Leonhard/Klengel, Robin/Stumpf, Michael: Ctrl Alt Del: Leaving the System, Diskussionsveranstaltung, HAU – Hebbel am Ufer 3, Berlin (26.02.2020), [zuletzt abgerufen am 29. Juni 2020].

[8] Vgl. ebd.

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. ebd.

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„War Cannot Be Played“

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Der Kurzfilm „How to Disappear“ und die Überschreitung digitaler Grenzen

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