Polnische Historiker*innen, die zum Thema Holocaust forschen, haben es nicht leicht. Einerseits stoßen ihre Publikationen auf Unverständnis in Deutschland, weil sie das etablierte Bild der Shoah als einen nationalsozialistischen Judenmord korrigieren. Andererseits werden sie in Polen von der polnischen Regierung und ihr nahestehenden Stiftungen, Zeitungen und Instituten angegriffen und neuerdings gesetzlich belangt. So entschied am 9. Februar 2021 das Warschauer Bezirksgericht in einem Verleumdungsprozess gegen die Wissenschaftler*innen Barbara Engelking und Jan Grabowski zugunsten der 81-jährigen Klägerin, Filomena Leszczyńska. In der Folge müssen sich die Angeklagten bei ihr „wegen Ungenauigkeiten“ entschuldigen. Obwohl die Richterin die geforderte Entschädigung von 100.000 Złoty (23.000 Euro) zurückwies, hinterließ das Gerichtsverfahren einen schlechten Beigeschmack, schon allein weil es überhaupt stattfinden konnte.
Gegen den Prozess protestierten weltweit Mitarbeiter*innen wissenschaftlicher Institute und Historikerverbände, die zusammengenommen über 15.000 Geschichtswissenschaftler*innen vereinen. Darunter die die Israelitische Akademie der Wissenschaften, das Yad Vashem, das Warschauer Museum der Geschichte der polnischen Juden, das United States Holocaust Memorial Museum, der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, die Fondation pour la Mémoire de la Shoah, die American Historical Association und die Association of Slavic, East European, and Eurasian Studies. Sie verurteilten die Art des Umgangs mit Engelking und Grabowski und riefen dazu auf, den Prozess sofort zu beenden. Aber worum ging es bei dem Gerichtsverfahren und warum konnte es überhaupt stattfinden?
Barbara Engelking und Jan Grabowski zählen zu den weltweit führenden Wissenschaftler*innen, die den Holocaust erforschen. Engelking ist Soziologin und Mitbegründerin des Polnischen Zentrums für Holocaustforschung an der Polnischen Akademie der Wissenschaften, das sie seitdem leitet. Sie spezialisierte sich in ihren Forschungen auf die Berichte von Überlebenden, publizierte mehrere Monographien und leitete einige große wissenschaftliche Projekte. Grabowski studierte Geschichte an der Universität Warschau, bevor er 1988 nach Kanada emigrierte, wo er 1994 an der Universität Ottawa seine Dissertation über den Umgang mit der einheimischen Bevölkerung in der Kolonisationszeit verteidigte. In den letzten Jahren publizierte er unter anderem die Studie „Jagd auf Juden 1942-1945. Forschungen über die Geschichte eines Kreises“, die mit dem Yad Vashem International Book Prize ausgezeichnet wurde.
Am 17. Juni 2019, ein Jahr nachdem die beiden Wissenschaftler*innen die zweibändige und über 1600 Seiten zählenden Studie „Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski” (Danach ist nur Nacht. Das Schicksal der Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens) veröffentlichten, wurden sie wegen einer Passage in Engelkings Textteil angeklagt. Die Klage reichte Filomena Leszczyńska ein, die den guten Ruf ihres Onkels Edward Malinowski verteidigen wollte, was das polnische Zivilrecht im Fall einer Verleumdung grundsätzlich zulässt. Ihr längst verstorbener Onkel diente im Krieg als Ortsvorsteher in dem Dorf Malinowo, im Bezirk Bialystok. Wie viele andere Dorfschulzen, Vögte und Bürgermeister nahm er sowohl an der Rettung wie auch Verfolgung der Juden teil.
Leszczyńska war die Publikation von Engelking und Grabowski nicht bekannt. Darauf aufmerksam gemacht wurde sie von der rechtsnationalen Stiftung „Reduta – Festung des guten Namens“ (Reduta Dobrego Imienia), die unter anderem von der polnischen Regierung unterstützt wird. Die „Reduta“ suchte Leszczyńska auf, machte sie auf die Passage aufmerksam und unterstützte Leszczyńska finanziell und medial. Ein wichtiger Grund für die Einreichung der Klage war offensichtlich auch die Möglichkeit, eine Entschädigung in Höhe von 100.000 Złoty (23.000 €) zu erhalten, falls das Gericht Engelking und Grabowski der Verletzung ihrer Privatrechte schuldig finden würde. Entscheidend dabei war die Frage, ob Engelking und Grabowski das Recht auf den „Kult des Gedenkens an einen Verstorbenen“ verletzten beziehungsweise dem Verstorbenen Taten zuschrieben, die er nicht begangen hatte.
In Engelkings Passage, welche den Anlass zur Klage gab, wurde erklärt, dass der Dorfschulze Edward Malinowski der Jüdin Estera Drogicka zu überleben half, indem er sie als polnische Zwangsarbeiterin nach Rastenburg in der Provinz Ostpreußen deportieren ließ. Engelking schrieb allerdings auch, dass derselbe Dorfschulze zur Ermordung von Juden im Jahr 1943 beitrug. Beide Aussagen sind im Band ausreichend belegt und lassen keinen Raum für Zweifel, selbst wenn Engelking eine wichtige Quelle in der Fußnote ausließ. Bei dieser Quelle handelte es sich um ein Interview mit Estera Drogicka (zur Zeit des Interviews: Maria Wiltgren), das die Shoah Foundation im Jahr 1996 aufgenommen hatte. Im Gegensatz zum Gerichtsverfahren, das im Jahr 1950 in Polen stattgefunden hatte und in dem Malinowski freigesprochen wurde, sagte Drogicka im Jahr 1996, dass er zu der Ermordung der Juden beitrug. Im Jahr 1950 sagte sie dies nicht aus, weil sie ihren damaligen Helfer nicht belasten wollte. Bewohner*innen des Dorfes, die über die Taten Malinowskis Bescheid wussten, sagten ebenfalls nicht gegen ihn aus, weil sie von einer polnischen, antisowjetischen Untergrundorganisation eingeschüchtert worden waren.
Was Engelking beim Schreiben der Studie nicht wusste, was aber für die Frage der Kollaboration des Dorfschulzen auch irrelevant ist, ist die Tatsache, dass in Malinowo zwei Edward Malinowskis lebten. Mit dem anderen Malinowski nahm Estera nach ihrer Deportation nach Rastenburg zufällig Kontakt auf und tauschte mit ihm Lebensmittel aus. Dass es jedoch der andere Edward Malinowski war, der im Jahr 1943 den deutschen Besatzern half, Juden aufzuspüren, geht aus keinem Dokument hervor. Die Rolle des Dorfschulzen bestand unter anderem darin, eine Gruppe von Helfern zu organisieren, die versteckte Juden aufspüren sollten. Eine entscheidende Rolle unter den Helfern spielte damals offensichtlich ein Förster, der für diese Taten von sowjetischen Partisanen erschossen wurde.
Unter anderen politischen Umständen wären diese „Fehler“ wahrscheinlich nicht einmal Expert*innen aufgefallen. Falls es dennoch dazu gekommen wäre, hätte man die Autorin in einer Rezension darauf hingewiesen oder bei einer Konferenz angesprochen. Die Stiftung „Reduta“, das Polnische Institut für Nationales Gedenken, das Witold Pilecki Institut in Berlin und weitere der polnischen Regierung nahestehende Organisationen beauftragten jedoch Forscher*innen, Publikationen wie Engelkings und Grabowskis Studie auf mögliche Unstimmigkeiten zu untersuchen. Darüber hinaus polemisieren sie auch öffentlich gegen Engelking, Grabowski und weitere Historiker*innen, die den Holocaust, Besatzung und Kollaboration untersuchen.
Die Angriffe auf die Holocaust-Forschung in Polen nahmen in den letzten Jahren zu und wurden schließlich gesetzlich legitimiert, als die populistische und nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) die Präsidentschafts- und Abgeordnetenwahlen im Jahr 2015 gewann. Bereits damals ergänzte die PiS den polnischen Strafgesetz-Kodex um den §133, der besagt, dass „wer [...] öffentlich das polnische Volk oder die polnische Republik herabwürdigt“, mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu rechnen hat. Der erste Wissenschaftler, der schon im Jahr 2015 aufgrund des §133 verhört wurde, war der renommierte amerikanisch-jüdisch-polnische Soziologe Jan Tomasz Gross. Anlass dazu bot sein in der „Welt“ veröffentlichter Artikel unter dem Titel „Die Osteuropäer haben kein Schamgefühl“,[1] in dem er auf die Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und Angst vor der Aufnahme von Flüchtlingen in Polen hinwies und die These aufstellte, dass Polen im Zweiten Weltkrieg mehr Juden als Deutsche ermordeten: „Die Polen beispielsweise waren zwar zu Recht stolz auf den Widerstand ihrer Gesellschaft gegen die Nazis, haben aber tatsächlich während des Krieges mehr Juden als Deutsche getötet.“[2]
Die Anklage gegen Gross fand nicht zufällig statt. Vierzehn Jahre zuvor trug er mit seiner Studie „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“ wie bisher kein(e) andere(r) Wissenschaftler*in dazu bei, dass die internationale Holocaust-Forschung sich für die nichtdeutschen Täter*innen zu interessieren begann und Engelkings Zentrum für Holocaustforschung in Polen entstand. Ein Zentrum, das bis heute in sehr beengten räumlichen Verhältnissen in der Akademie der Wissenschaften untergebracht ist. Gross wies nach, dass in der Kleinstadt Jedwabne am 10. Juli 1941, zu einer Zeit als sich keine deutschen Einheiten im Ort befanden, polnische Bewohner*innen ein Massaker an ihren jüdischen Nachbarn begingen und dabei über 400 Personen ermordeten.
Der Prozess gegen Engelking und Grabowski zeigt, dass Kollaboration in Polen und auch vielen anderen Ländern, ein kaum erforschter Aspekt des Holocaust ist. Die Forschung zu Kollaboration lässt sich in Osteuropa leicht von rechtsnationalen Organisationen instrumentalisieren, zumal das Bild des Holocaust als eines nationalsozialistischen Judenmords vorherrscht, was auf eine einseitige Aufarbeitung der Shoah zurückzuführen ist. Komplexere Herangehensweisen an die Täterschaft in der Shoah machen leider nur einen Bruchteil der Forschung aus und stoßen auf Unverständnis sowohl in Deutschland als auch in Osteuropa. Die Reaktionen auf das Gerichtsverfahren verdeutlichen aber auch, dass geschichtswissenschaftliche Institutionen in Europa und den USA gegen politische Eingriffe in die Wissenschaft und Einschüchterungsversuche vorgehen können.
[1] "Die Osteuropäer haben kein Schamgefühl, 13.9.2015", Die Welt (Zugang: 17.2.2021).
[1]Ebd.
Politische Eingriffe in die Holocaustforschung in Polen
Der Fall Engelking/Grabowski