Eine Ausstellung im Frankfurter Museum für Moderne Kunst verschreibt sich der Perspektive von Betroffenen rassistischer Gewalt und Diskriminierung und verhilft damit einer viel zu lang vernachlässigten, zentralen Facette der Geschichte des Rassismus in Deutschland zum Ausdruck.
Die Ausstellung Weil ich nun mal hier lebe gehört zu einem Ensemble von drei Ausstellungen, die an den drei Dependancen des Museums für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt im Herbst 2018 neu eröffnet wurden. Alle Ausstellungen befassen sich mit Formen von Gewalt. Susanne Pfeffer, die neue Leiterin des Frankfurter MMK, eröffnet mit dieser Kombination von Kunstaustellungen einen dezidiert politischen Blick auf die Gegenwart.
Die hier besprochene Ausstellung konzentriert sich ganz auf die Perspektive der Betroffenen und Opfer von Rassismus und rassistischer Gewalt in Deutschland, deren Erfahrungen zumeist gesellschaftlich marginalisiert wurden.
Die Gruppenausstellung, die mehrheitlich aus Video-Arbeiten besteht, folgt einer parcoursähnlichen Anordnung. Den Anfang macht ein neunminütiger Film von Želimir Žilnik aus dem Jahr 1975. Die Bewohner*innen der Münchner Metzstraße 11, die zum Großteil als sogenannte „Gastarbeiter*innen“ nach Deutschland kamen, stellen sich im Treppenhaus nacheinander kurz vor und erzählen etwas aus ihrem Leben in Deutschland. Der Blick in ein von „Gastarbeiter*innen“ bewohntes Mietshaus öffnet ein Fenster zu den Einzelpersonen und ihren Schicksalen. Bereits 1973 trat ein Anwerbestopp für Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern in Kraft, mit dem die Vorstellung verbunden war, dass die in Deutschland lebenden „Gastarbeiter*innen“ wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Žilniks Inventur ist also auch eine Bestandsaufnahme derjenigen, die (noch) nicht zurückgekehrt sind. Stattdessen holten viele Gastarbeiter*innen ihre Familien nach und lebten dauerhaft in Deutschland. Die Realität, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland geworden war, wurde von Politik und Gesellschaft über Jahrzehnte nicht anerkannt.[1]
Lediglich als abstrakte Größe kommen die sogenannten „Gastarbeiter*innen“ in Harun Farockis Aufstellung vor. Seine Video-Zusammenstellung von demografischen Darstellungen aus zumeist älteren Schulbüchern zeigt statistische Blöcke, die mit Schnurrbart und Hut als „Fremde“ gekennzeichnet sind. Stereotypisierte Darstellungen von vornehmlich türkischen Einwanderer-Gruppen mit Koffern und Kopftüchern erinnern an heute gebräuchliche Sprachbilder wie „Flüchtlingswelle“.
Gewalterfahrungen
In mehreren gezeigten Arbeiten werden die rassistischen Brandanschläge und pogromartigen Ausschreitungen der 1990er Jahre mit sehr persönlichen, teils zeitgenössischen, teils retrospektiven Stellungnahmen von Betroffenen thematisiert. In dem titelgebenden Videoausschnitt „Weil ich nun mal hier lebe“ von 1995, erklärt eine junge Frau, dass sie sich von den rassistischen Morden in Mölln und Solingen nicht aus Deutschland vertreiben lasse. Hier wird die Bedeutung rassistischer Gewalttaten deutlich: Ziel der Angriffe ist immer die als „fremd“ markierte Gruppe, nicht nur das Individuum. Durch die rassistische Gewalt soll der angegriffenen Gruppe das Lebensrecht in Deutschland abgesprochen werden. Es ist nachvollziehbar, dass die Erfahrung alltäglicher Ausgrenzung von vielen Betroffenen nur als gradueller Unterschied zu den Gewalttaten betrachtet wird. Einige der in der Ausstellung gezeigten Videos, die diesen Zusammenhang besonders verdeutlichen, können unter tribunal-spots.net angesehen werden.
Die Installation 14 Words von Henrike Naumann besteht aus einem ehemaligen Blumengeschäft in einem sächsischen Dorf. Es sind keine Blumen zu sehen, stattdessen werden weitgehend leere Regale von Neonlicht ausgeleuchtet. Mordende Neonazis kommen nicht von einem fremden Stern, sondern aus einem gesellschaftlichen Umfeld, das den meisten „normalen“ Deutschen keineswegs fern ist. Sie leben in denselben Dörfern, fahren mit demselben Bus, gehen in denselben Laden. Auf der Innenseite der Ladentheke befindet sich ein Video-Screen, der die Betrachter*innen in eine ähnliche Position zwingt, in der einige der Opfer der NSU-Mordserie gestorben sind. Naumann hat im Bekennervideo des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ eine Reminiszenz an einen bekannten rechtsradikalen Zahlencode gefunden. Die 14 Words des US-amerikanischen Rassisten und Rechtsterroristen David Lane „We must secure the existence of our people and a future for white children“ inspirierten auch die Mitglieder des NSU zu ihren Morden.
Die Gruppe spot_the_silence beteiligt sich mit drei Video-Interviews an der Ausstellung. İbrahim Arslan ist Überlebender des Brandanschlags von Mölln, bei dem seine Schwester, Cousine und Großmutter im November 1992 ums Leben kamen. Arslan ist Mitinitiator des Tribunals NSU-Komplex auflösen, das im Mai 2017 in Köln stattfand. Es wurde ins Leben gerufen, um Aufmerksamkeit für die Betroffenen rassistischer Gewalt, für ihre Erfahrungen und Raum für ihre Forderungen zu schaffen. Im zweiten Interview kommt Mai-Phuong Kollath zu Wort, die als Vertragsarbeiterin in die DDR kam und miterlebte, wie ihr früheres Wohnheim in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 von einem rassistischen Mob angezündet wurde – unter Applaus tausender Schaulustiger. Das dritte Interview verweist darauf, dass sich Rassismus in Deutschland nicht nur auf rechte Gruppen begrenzt. Mouctar Bah ist ein antirassistischer Aktivist und war mit Oury Jalloh befreundet, der im Januar 2005 unter bis heute ungeklärten Umständen in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte.
So wird mit der Ausstellung auch eine zweite Ebene rassistischer Gewalt angesprochen. Neben der Menschenverachtung und Tötungsbereitschaft rechtsradikaler Gruppen gehört über weite Strecken ein eklatantes Fehlen von Aufklärungsbereitschaft oder sogar die Ermöglichung rassistischer Gewalt innerhalb staatlicher Institutionen zu dem Skandal, den die fortdauernde Geschichte des Rassismus in Deutschland bedeutet. Das Gravitationszentrum der Ausstellung stellt entsprechend die Installation 77sqm_9:26min der Gruppe Forensic Architecture dar. Die Gruppe wurde durch die Initiator*innen des NSU-Tribunals mit einer forensischen Analyse des Mordes an Halit Yozgat im April 2006 in einem Kasseler Internetcafé beauftragt. Auf der Basis von Zeugenaussagen, den Login-Daten der Internet-Arbeitsplätze und Polizeivideos werden der genaue zeitliche Ablauf und die örtlichen Gegebenheiten des Mordes rekonstruiert. Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass der hessische Verfassungsschützer Andreas Temme zur Tatzeit im Internetcafé war und den Mord zumindest mitbekommen haben muss.
Erst nach der „Selbstenttarnung“ der Kerngruppe des NSU im November 2011 kamen die zahlreichen Pannen, Fehlentscheidungen und verschleppten Ermittlungen der Behörden an die Öffentlichkeit. Die Familien der Mordopfer wurden oft über Jahre krimineller Machenschaften verdächtigt, die zur Tötung des Vaters, Ehemanns oder Sohns geführt hätten. Bereits im Jahr 2006 – nach dem neunten Mord des damals noch unbekannten NSU – organisierten Angehörige eine Demonstration in Kassel, bei der auf die Möglichkeit eines rassistischen Hintergrunds hingewiesen wurde. Ein Video-Ausschnitt zeigt die Demonstration, an der 4.000 Menschen teilnahmen – vor allem Personen mit einem sogenannten Migrationshintergrund. In der Öffentlichkeit wurde die Versammlung kaum wahrgenommen, umso abstoßender ist, dass die Terroristen des NSU einen kurzen Fernsehbeitrag zur Demonstration in ihrer Bekenner-DVD mit unglaublicher Häme kommentierten.
Die Aufnahmen von der Demonstration in Kassel korrespondieren in beklemmender Weise mit einem weiteren Video aus den SPOTS des NSU-Tribunals 2017. An dieser Stelle wird das Anliegen der Ausstellung, der Perspektive der Betroffenen von Rassismus Gehör zu schenken, geradezu zum Imperativ. In dem Zusammenschnitt von Kurzinterviews Was würden Nazis niemals tun? werden Passant*innen in Berlin danach gefragt, mit welchen Verkehrsmitteln sich Nazis fortbewegen. Keine der gefragten Personen kann sich vorstellen, dass Nazis Fahrrad fahren würden. Am Ende der Sequenz wird klar, dass die eher lustig wirkende Frage einen ernsten Hintergrund hat. An verschiedenen Tatorten des NSU waren Männer auf Fahrrädern beobachtet worden, die Polizei schloss Neonazis aber als Täter aus. Noch 2013 erklärte ein Polizeibeamter vor dem bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss, er habe noch nie einen Neonazi auf dem Fahrrad gesehen.
Eine Herausforderung für die Zeitgeschichtsforschung
Die Diskrepanz, die zwischen der Wahrnehmung der Betroffenen von Rassismus und ihrer (Nicht-)Wahrnehmung durch die Mehrheit der Bevölkerung liegt, ist in erster Linie ein gesellschaftliches Problem. Rassistische Klischees und Klischees über Rassismus haben nicht nur die Aufklärung von Verbrechen behindert, sondern können von zukünftigen Tätern sogar als Ermutigung verstanden werden. Diese Diskrepanz kann zugleich aber auch als Aufgabe für die zeitgeschichtliche Forschung verstanden werden. Rassismus und Rechtsradikalismus sind in Deutschland seit Kriegsende zumeist als bloßes Nischenphänomen ohne gesellschaftlichen Einfluss betrachtet worden. Der Grund dafür ist einfach, denn die Mehrheit der deutschen Gesellschaft fühlt sich von rassistischer Gewalt und Ausgrenzung schlicht nicht betroffen. Bis heute hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass die gesellschaftliche Wirkungsmacht von Rassismus in Deutschland mit der nationalsozialistischen Herrschaft zu Ende gegangen sei. Wenn Rassismus problematisiert wurde, geschah dies zumeist in Form von Geschichtspolitik oder als Kampf gegen Rechts. Das Versagen der Behörden und die Ignoranz von Medien und Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex führen vor Augen, dass Rassismus, Gewalt und Ausgrenzungserfahrungen nicht nur für die Angehörigen der Opfer der Mordserie, sondern für signifikante Teile der Bevölkerung eine Realität sind, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung – und daher auch in zeithistorischen Darstellungen – bisher kaum Berücksichtigung gefunden hat. Eine angemessene Reaktion auf diese Problematik wäre, die Perspektive der Betroffenen von Rassismus und Rechtsradikalismus auch historiographisch konzeptionell einzubinden. İbrahim Arslan bringt diese Forderung auf den Punkt: „Opfer und Überlebende sind keine Statisten, wir sind die Hauptzeugen des Geschehenen.“ Des Weiteren gilt es, die Kultur der Nicht-Wahrnehmung von Rassismus durch die Mehrheitsgesellschaft, die in vielen Fällen eher eine Kultur der systematischen Entwertung migrantischer oder nicht-weißer und in vielen Fällen auch jüdischer Erfahrungen war und ist, historisch zu betrachten. Dass es sich hierbei um ein umfassenderes historisches Phänomen handelt, zeigt etwa die Verbreitung von „Klan Denialism“ in den USA der Reconstruction Ära. Die rassistische Gewalt des Ku Klux Klan gegen befreite Sklaven in den Südstaaten wurde in der amerikanischen Presse und Öffentlichkeit der 1870er Jahre wiederholt in Zweifel gezogen.[2]
Einer der letzten Ausstellungsbeiträge ist der Dokumentarfilm Millis Erwachen von Natasha A. Kelly. Es handelt sich um sehr persönliche Porträts von zeitgenössischen schwarzen Künstler*innen, die in Deutschland geboren sind, hier leben oder arbeiten. Ihre künstlerische Arbeit, ihre Wahrnehmungen, Träume und Wünsche bestimmen das Ende der Ausstellung. Trotz aller schlechten Erfahrungen, die die dargestellten Protagonist*innen in Deutschland gemacht haben, gelingt ein inspirierender Blick auf ihre Stärke und ihren Gestaltungswillen.
Die Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“ ist noch bis zum 31. März 2019 im Tower des Museums für Moderne Kunst Frankfurt, Taunustor 1, zu sehen.
[1] Ulrich Herbert: Krisenzeichen. Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer/innen 1973, in: Zeitgeschichte-online, November 2013.
[2] Elaine Frantz Parsons: Klan Skepticism and Denial in Reconstruction-Era Public Discourse, in: Journal of Southern History 77, 2011, 53-90.
„Opfer und Überlebende sind keine Statisten“
Das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt/M. thematisiert die Perspektive von Betroffenen rassistischer Gewalt