Ljiljana Radonić ist promovierte Kulturwissenschaftlerin. Mit zehn Jahren flüchtete sie, vor dem Hintergrund der Jugoslawien-Kriege, gemeinsam mit ihrer Familie aus Zagreb nach Wien. Über ihren Weg in die Wissenschaft hat Ljiljana Radonić mit uns im Interview gesprochen.
zeitgeschichte|online: Wie sind Sie dahin gekommen, wo Sie jetzt sind? Was haben Sie „richtig gemacht“ in Ihrer Berufsbiographie?
Ljiljana Radonić: Schule und Studium fielen mir vergleichsweise leicht und ich ertappe mich bis heute dabei, das für selbstverständlich zu nehmen. Alles, was ich beginne, muss ich fast zwanghaft auch erfolgreich zu Ende bringen, auch mein Zweitstudium, Übersetzen und Dolmetschen, obwohl ich mittendrin bereits erkannt hatte, dass das eine Panikreaktion auf die Frage war, wie ich denn jemals mit einem Studium der Politikwissenschaft und Philosophie einen Job finden soll, und dass das Studium, zumindest für ‚meine‘ Sprachen, nicht wissenschaftlich genug betrieben wurde, sondern mich eher an ein Handwerk erinnerte.
An einem entscheidenden Punkt in meinem Leben hatte ich schlicht Glück, würde ich sagen: Als die Universität Wien ein bezahltes Doktoratsprogamm ausschrieb, zu dem mein Dissertationsthema passte. Die faculty members dieses „Initiativkollegs“ haben mich währenddessen und teilweise auch danach gefördert.
Als wichtig, stellte sich im Nachhinein, meine frühe Erkenntnis heraus, dass peer-reviewte Zeitschriftenartikel – bei allen Vor- und Nachteilen dieser Entwicklung – zentral für erfolgreiche weitere Bewerbungen sein würden.
Nach der Dissertation habe ich dann selbst ein ähnliches Doktoratsprogramm koordiniert und hatte dadurch genug Zeit, um einen sehr ausgereiften Projektantrag zu verfassen, der sofort sowohl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) als auch vom Wissenschaftsfond FWF bewilligt wurde. Ich entschied mich für das Apart-Stipendium der ÖAW, in der Hoffnung, mich nach diesen drei Jahren erneut für das Elise-Richter-Programm des FWF bewerben zu können, was dann auch geklappt hat.
Als diese beiden Förderschienen ausgeschöpft waren, hätte meine Karriere in zwei Richtungen gehen können: kurz bevor ich mich arbeitslos hätte melden müssen, bekam ich nach mehreren Anläufen beim European Research Council (ERC) und dem FWF-Start-Preis dann doch einen ERC Consolidator Grant – also entweder Arbeitslosigkeit oder die Leitung eines Zwei-Millionen-Euro-EU-Projekts.
In diesem Sinne habe ich offenbar im Nachhinein gesehen alles richtig gemacht, aber ob ein derart verrücktes Arbeitspensum wie ich es schon seit vielen Jahren an den Tag lege, wirklich „richtig“ auch im Sinne von gesund ist, bleibt offen.
zeitgeschichte|online: Diese permanente Überarbeitung ist unserer Erfahrung nach, struktureller Natur und betrifft viele Wissenschaftler:innen, was nicht zuletzt an den in der Regel befristeten Arbeitsverträgen liegt. Was würden Sie vorschlagen, um die nicht selten prekären Arbeitsbedingungen zu verändern?
Radonić: Wenn ich das nur wüsste… Im Moment gilt es in Österreich aber eher, einen ‚Lösungsvorschlag‘ der Regierung abzuwenden: WissenschaftlerInnen sollen dem aktuellen Gesetzesentwurf zur Novellierung des Universitätsgesetzes nach insgesamt sechs bis acht Jahren nie wieder an diese Institution zurückkehren dürfen, wenn sie bis dahin keinen unbefristeten Vertrag haben, wie in dieser kritischen Stellungnahme des Netzwerks von StipendiatInnen von FWF-Frauenförderprogrammen herausgearbeitet wird. Das Elise-Richter-Netzwerk fordert „eine rechtlich bindende, transparente Regelung zur Entfristung bestehender bzw. zum Abschluss neuer, unbefristeter Vollzeit-Arbeitsverträge.“[1] Wie die UG-Novelle es vorsieht, geht es jedenfalls nicht.
zeitgeschichte|online: Gab es (geschlechtsspezifische) Hürden und wenn ja, wie haben Sie diese überwunden?
Radonić: Die Hürden, die ich überwinden musste, hingen vor allem damit zusammen, dass ich nicht aus Österreich komme. Als ich mit zehn Jahren aus Zagreb nach Wien kam, war es für mich und für meine Eltern, die beide Diplomingenieure sind, ein Schock, dass mich die Gymnasien zunächst ablehnten, weil ich nicht Deutsch sprach (aber bereits recht gut Englisch) und ‚Ausländerkinder‘ üblicherweise nicht ins Gymnasium gingen, so wurde uns das vermittelt. Es klappte dann doch, weil sich mein italienischstämmiger Klassenvorstand persönlich für mich verbürgte. Nach drei Monaten sprach ich Deutsch und schloss das erste Jahr des Gymnasiums wie auch alle folgenden mit „sehr gut“ ab, aber die Kränkung blieb.
Diese Kränkung wiederholte sich, als ich im Zuge der Inskription an der Uni erfuhr, dass ich mich bei der Studienzulassung einer anderen, weitaus langwierigeren und komplizierteren Prozedur unterziehen musste als all meine SchulkollegInnen, weil ich damals noch nicht die österreichische Staatsbürgerschaft hatte. Ich wurde buchstäblich von einem Freund getrennt, weil ich mich naiverweise in dieselbe Warteschlange gestellt hatte wie er. Nach acht Jahren Schule in Wien war mir einfach nicht in den Sinn gekommen, dass ich ‚anders‘ sei.
Geschlechtsspezifische Hürden habe ich kaum erfahren, vermutlich auch, weil ich nie Kinder haben wollte und mir deshalb diesbezügliche Schikanen erspart geblieben sind. Ausgerechnet bei einer Bewerbung für eine Frauenförderprofessur wurde ich aber einmal von zwei Männern interviewt, von denen mir einer untergriffige Fragen gestellt hat, z.B.: „Drängt sich angesichts der Vielzahl ihrer Publikationen nicht die Frage auf, ob nicht Qualität vor Quantität kommen sollte?“
Mir verschlägt es sonst wirklich nicht oft die Sprache und ich ärgere mich bis heute, dass ich nicht einfach aus Protest den Raum verlassen habe. Sonst stellte sich der Umgang mit dem Geschlechterverhältnis für mich aber vergleichsweise einfach dar, weil mir meine Mutter sehr viel Selbstbewusstsein mitgegeben hat, ein starkes Vorbild war und aufgrund ihres technischen Berufes wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass Frauen etwas weniger gut können. Ich glaube, Jugoslawien war Ende der 1980er Jahre in diesem Punkt fortschrittlicher als Österreich heute. Dieses früh erlangte Selbstbewusstsein befähigt mich vermutlich dazu, mit Humor unzumutbare Aussagen zurückzuweisen und sie von mir abprallen zu lassen. Das wird wohl unendlich viel schwieriger, wenn man schon einmal oder sogar öfter als Frau benachteiligt oder sexistisch angegangen wurde.
Hürden waren hingegen Phasen der extremen Überarbeitung: wenn man so viel und so sehr am Limit arbeitet wie ich, bringen Krankheiten (eigene sowie im engsten Freundeskreis) das Fass leicht zum Überlaufen. Was dann half, war die Order, dass ich auf keinen Fall mehr am Wochenende arbeiten darf, woran ich mich bis heute im Wesentlichen sklavisch halte, obwohl mir der Gedanke zunächst völlig absurd schien.
zeitgeschichte|online: Wovon haben Sie innerhalb Ihrer Laufbahn profitiert? Hatten Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn Vorbilder* oder Mentor*innen?
Radonić: Profitiert habe ich von der frühen Erkenntnis, was ein akademischer Lebenslauf enthalten muss, sowie davon, dass ich immer Personen hatte, die mich unterstützt haben. Vor allem wurde ich seit der Frühphase meiner Dissertation von meiner großen Mentorin hier vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte gefördert. Sie reichte zum Beispiel Vortragseinladungen an mich weiter, aus denen sich dann wichtige Kontakte ergaben, las und kommentierte meine Texte, wann immer es wichtig war und beriet mich bei schwierigen Entscheidungen. Entscheidend war aber auch, denke ich, dass es immer Dinge gab, die ich unbedingt wissen bzw. herausfinden wollte – und diese Begeisterung für ‚meine‘ Themen offenbar auch gut vermitteln konnte. (Das Wort Begeisterung mag sicher merkwürdig anmuten, wenn das Thema die Aufarbeitung von Massenmord und Krieg ist…)
zeitgeschichte|online: Hatten Sie bezüglich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch Konflikte oder Momente des Zweifelns?
Radonić: Ich wollte wie gesagt nie Kinder und mein Partner und ich wohnen seit beinahe 20 Jahren bewusst nicht zusammen. Insofern geht es bei mir eher ‚bloß‘ um die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben. Da stehen einander vor allem der innere Druck, alles von der To-do-Liste abzuarbeiten und der Wunsch gegenüber, in der Lage zu sein, weniger zu arbeiten und sich mehr Freizeit zu gönnen. Ich bin voller Bewunderung für alle, die all das auch noch mit Familie unter einen Hut bringen können.
zeitgeschichte|online: Welche Unterschiede haben Sie an den verschiedenen Stationen ihrer Karriere im trans-/inter-/binationalen Vergleich der Wissenschaftssysteme bezüglich der Arbeit von Frauen festgestellt?
Radonić: Da ich einmal vor dem Krieg nach Wien geflohen bin, weigere ich mich seitdem erfolgreich, dem Konzept der akademischen Mobilität soweit zu folgen, dass ich ständig von einem Ort zum anderen umziehen muss. Meine Auslandsaufenthalte habe ich deshalb bewusst auf längstens ein Semester beschränkt, war dafür vor der Pandemie jedoch ständig auf Forschungs- und Konferenzreisen. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich bereits als kleines Mädchen davon ausging, dass mir das Weiblich-Sein keinerlei Grenzen setzt, wurde glücklicherweise bei meinen Erfahrungen im akademischen Bereich nie auf die Probe gestellt, weder in Österreich noch im Ausland.
zeitgeschichte|online: Ursprünglich haben Sie Politikwissenschaften und Philosophie studiert. In Ihrer akademischen Laufbahn haben Sie durchweg interdisziplinär gearbeitet. Sind Ihnen bestimmte geschlechtsspezifische Hierarchien in der Arbeit ‚zwischen den Disziplinen‘ aufgefallen? Oder umgekehrt gefragt, konnten Sie Unterschiede hinsichtlich bestimmter geschlechtsspezifischer Hierarchien in den Disziplinen feststellen?
Radonić: Das Institut für Politikwissenschaft, an dem ich mich seit 1999 zuerst Studentin und dann als Lehrbeauftragte immer wieder herumtreibe, war in dieser Zeit bereits fest in weiblicher Hand, das war das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, dessen Früchte ich aber ernten konnte. Beim Übersetzerstudium hingegen war ich (zum ersten Mal in meinem Leben) fast ausschließlich von Frauen umgeben, was ich jedoch kritisch gesehen habe, weil ich wenig von der Qualität der Ausbildung hielt. Daraus schloss ich, dass hier vor allem Frauen einen Studienabschluss erwarben, den ich für weniger ‚wert‘ hielt. In den Kulturwissenschaften als einer relativ neuen Disziplin sowie bei interdisziplinären Projekten sind wir vergleichsweise aus dem Schneider, was verkrustete alte Strukturen angeht. Das ist bei altehrwürdigen Disziplinen wie Geschichte noch anders.
zeitgeschichte|online: Sie haben Ihre Diplomarbeitsthema zum Thema »Die friedfertige Antisemitin? Politische Psychologie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus« bei Walter Manoschek geschrieben? Wie verhält es sich mit den Geschlechterverhältnissen bezogen auf den heutigen Antisemitismus?
Radonić: Ich hielt die Annahme immer schon für absurd, Frauen seien das friedfertigere Geschlecht und deshalb weniger antisemitisch. Prinzipiell gilt nach wie vor: Antisemitismus befriedigt Bedürfnisse im Sinne einer ‚Schiefheilung‘ (Stichwort: einfache Welterklärung, falsche Kapitalismuskritik, ‚die Juden‘ als negative Autoritäten, die man im Gegensatz zu den eigenen hassen darf). Dieser Mechanismus funktionierte früher wie auch heute gleichermaßen bei Männern wie bei Frauen. Aber es sind gemäß den unterschiedlichen und sich wandelnden Geschlechterrollen verschiedene Bedürfnisse, die bei Männern und Frauen bei der pathischen Projektion auf ‚die Juden‘ befriedigt werden. Rechter, linker, islamischer und islamistischer Antisemitismus und seine israelbezogene Ausprägung finden sich heute bei Frauen wie bei Männern, wobei in islamistischen Kreisen Frauenorganisationen eher die Ausnahme sind, aber durchaus auch etwa in Gestalt der Muslimschwestern existieren.
zeitgeschichte|online: Was geben Sie Ihren Doktorand:innen für die Planung einer wissenschaftlichen Karriere mit auf den Weg?
Radonić: Das Problem ist hier, dass das, was ich ihnen sage und das, was ich vorlebe und sie sich von mir abschauen, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Ich dränge sie immer wieder, nicht zu viel zu arbeiten, damit sie nicht irgendwann ausbrennen, aber ich lebe es nicht vor. Im Gegensatz zu mir halten sie sich nicht einmal an die Order, zumindest an einem Tag der Woche nicht zu arbeiten. Was sich jedoch hoffentlich als Erfahrung einbrennt, hinter die sie nicht mehr zurückfallen wollen, ist, wie toll es ist, sich das Thema, für das man brennt, selbst auszusuchen und sich zwar von allen Seiten gut beraten, aber nicht dreinreden zu lassen. Es ist umso viel schwerer, sich zu motivieren, wenn das Thema von oben verordnet wurde oder man sehr stark gelenkt wird.
Wenn man sich für eine akademische Karriere trotz aller Unsicherheiten entscheidet, etwa weil man sich im besten Fall morgens keinen Wecker mehr stellen muss und einem niemand sagt, was man tun soll, dann heißt es natürlich: begutachtete Artikel publizieren, Vorträge halten, Drittmittelanträge stellen, sich eine dicke Haut zulegen und niemals vergessen, die Sinnhaftigkeit des ganzen Betriebs und des eigenen Tuns regelmäßig kritisch zu überprüfen.
zeitgeschichte|online: Inwiefern hat die Corona-Pandemie ihre Arbeit als Kulturwissenschaftlerin verändert?
Radonić: Das ERC-Projekt über „Globalised Memorial Museums“, das ich seit 2019 leite, besteht in der Erforschung von 50 Museen weltweit. Im April 2020 mussten wir zum Beispiel unsere große Reise nach China und Japan absagen. Wir hatten zum Glück bereits in den ersten Monaten genug Museen photographisch vollständig dokumentiert, um fortzufahren, mussten den Zeitplan für das fünfjährige Projekt aber völlig umstellen. Die Arbeit im Home-Office bin ich hingegen gewöhnt und vor allem das Schreiben im Büro habe ich nie gelernt, da muss ich mich zuhause, allein völlig in die Materie versenken können. Die Pandemie hat mir nur noch deutlicher vor Augen geführt, wie privilegiert ich bin, wenn für mich zuhause die optimalen Bedingungen bestehen, um zu arbeiten. Bis nach Mitternacht zu arbeiten, wenn ich nicht mit meinem Partner zusammen bin, war für mich früher genauso normal wie jetzt. Wenn etwas Spannendes wirklich gut vorankommt, was bei mir immer schon eher abends und keinesfalls morgens der Fall war, will ich nicht unterbrechen.
Der erste Lockdown kam nur ein halbes Jahr nachdem ich Projektleiterin wurde. Fast gleichzeitig musste ich also erstmals erproben, wie ‚Chefin sein‘ geht und wie gut die für mich selbstverständlichen flachen Hierarchien wirklich funktionieren und unmittelbar danach oder währenddessen Lehre und Teamarbeit auf Videoformate umstellen. Ich fühle mich für alles und jeden zuständig, für die DoktorandInnen, die ich mitten in der Pandemie im September 2020 nach Europa geholt habe, für die Motivation und die gute Laune bei den Teamsitzungen usw. Das kostet Kraft, aber es kommt auch so viel zurück, dass es mir auch wieder viel Energie und Motivation gibt.
[1] Stellungnahme des Elise-Richter-Netzwerks zur Novellierung des UG 2002, [zuletzt abgerufen am 8. März 2021].
„Zwischen Arbeitslosigkeit und der Leitung eines Zwei-Millionen-Euro-EU-Projekts“
Interview mit der Kulturwissenschaftlerin Ljiljana Radonić