Mehr als 45 Jahre seit seinem Erscheinen ist Steven Spielbergs Jaws (dt. Der Weiße Hai) noch immer ein Phänomen. Wahrscheinlich ist der Plot auch aufgrund seiner Einfachheit selbst jenen bekannt, die den Film gar nicht gesehen haben: Ein weißer Hai sucht einen Urlaubsstrand heim bis er schließlich – Achtung Spoiler – gejagt und getötet wird. In cinephilen Kreisen gern erzählt sind außerdem die Geschichten der langwierigen, vom unter Wasser nahezu vollkommen dysfunktionalen mechanischen Hai geprägten Dreharbeiten. Der kommerzielle Triumph des Films markierte 1975 nicht nur den ersten Welterfolg von Regisseur Steven Spielberg, sondern auch einen Wendepunkt in der Geschichte Hollywoods und den Beginn der Sommer-Blockbuster, der auf ein Massenpublikum zugeschnittenen Event-Filme.
Der Erste seiner Art?
Vergleicht man Jaws mit Hollywood jüngsten Blockbuster-Erfolgen wie James Camerons Avatar: The Way of Water oder Spider-Man: No Way Home, so fällt es schwer, Jaws als den Film zu erinnern, der das Zeitalter eben dieser Filme einzuläuten half. Auf der einen Seite stehen Filme, die mittels modernster Computertechnik ganze Welten, wenn nicht sogar Multi-Versen entstehen lassen, wohingegen in Jaws lediglich die Illusion eines großen Raubfisches erzeugt wird. Zudem ist Jaws selbst für heutige Sehgewohnheiten immer noch überraschend blutig und scheint als Proto-Slasher so gar nicht in das Schema der betont unanstößigen US-Kassenhits zu passen.
Doch so klein eine Produktion wie Jaws im Vergleich zu den neueren, hunderte Millionen Dollar teuren Blockbuster-Filmen von heute auch wirken mag: Jaws war im Kinojahr 1975 weder ein Außenseitertitel noch ein wirklicher Überraschungserfolg gewesen, zu dem er durch unzählige Making-Of-Erzählungen stilisiert wurde. Jaws war von Anfang an ein kalkulierter Erfolg. Die Produzenten Brown und Zanuck sicherten sich die Rechte an der literarischen Vorlage schon lange bevor das Buch überhaupt offiziell verkauft wurde. Buch und Film wurden dann bewusst im Tandem beworben.[1] In dem für viele Jaws Fans zur Bibel gewordenem Making-Of-Bericht „The Jaws Log“ erzählt Drehbuchautor Carl Gottlieb zwar ausgiebig von den Strapazen der Dreharbeiten, welche von ursprünglich veranschlagten 55 auf über 150 Tage explodierten. Allerdings erwähnt Gottlieb kein einziges Mal Druck des Studios auf die Filmschaffenden, was indirekt viel über das Vertrauen der Produzenten in den Erfolg des Films aussagt. Auch die landesweite Veröffentlichungspolitik mit über 400 Kopien war meisterlich orchestriert: genug, um zu Start einen Hype zu erzeugen, gleichzeitig aber auch die richtige Menge, um eine künstliche Knappheit an den Kinokassen zu erzeugen. So konnte sich der Film über die gesamte sommerliche Bade-Saison im Kino halten.[2]
Zur erfolgreichen Vermarktung gehörte eine treffende Marktanalyse. Friedkins The Exorzist hatte schon 1973 gezeigt wie erfolgreich Horror an den Kinokassen sein kann und Filme wie Airport 1975, Earthquake und The Towering Inferno hatten schon im Vorjahr eine große Nachfrage nach Katastrophenfällen bewiesen. Während The Exorcist allerdings von der US-Rating Agentur Motion Picture Association of America (MPAA) ein R-Rating erhielt (also für Jugendliche unter 17 Jahren nicht freigegeben wurde), erstritten die Produzenten für Jaws ein ziemlich zweifelhaftes PG-Rating (circa FSK 6 im deutschen Kontext). Als Jaws dann am 20. Juni 1975 in die amerikanischen Kinos kam, war wohl kaum davon überrascht, dass der Film kein Minus machte.[3] Die Größe des Erfolgs übertraf jedoch die allermeisten Erwartungen.
Auf der anderen Seite des mit Haien verseuchten Atlantiks, in West-Deutschland, zeigte man sich besorgt, welche Wirkung der Film auf das deutsche Publikum haben könnte. Der Bayrische Rundfunk unkte, der Film könne stressgeplagte Großstadtmenschen um ihre wohlverdiente Entspannung beim Strandurlaub bringen.[4] Im SPIEGEL rezensierte der Tierdokumentarist Horst Stern den Film und kam aufgrund der wissenschaftlichen Ungereimtheiten des Filmes zu dem schlichten Urteil, Jaws sei ein „Rufmord am Hai“. SZ-Rezensent Peter Buchka empfand all diese Äußerungen nur als lästige und inhaltsleere Verlängerung der für ihn nervigen Werbekampagne des Films, immerhin „die aufwendigste […] Reklameschlacht, die je in Deutschland für einen Film geschlagen wurde“, welche aber den Blick auf den Film fast vollständig versperre, welcher nicht mehr und nicht weniger sei als „ein solider, gutgemachter Actionfilm“.[5]
Eine neue Formel für Erfolg oder der Anfang eines Niedergangs?
Diese Besprechungen verdeutlichen die Unsicherheit, die viele Kritiker*innen im Umgang mit dem neuen, durch Spielberg mit Wucht eingeführten, effektgeladenen Überwältigungskino ergriff. Weniger besorgt um das Wohl des Publikums als um den Zustand des amerikanischen Films, veröffentlichte die New York Times zwei Monate nach dem Kinostart eine erneute, diesmal auffallend negative Kritik von Jaws. Filmkritiker Farber beendete sie mit einer Äußerung, welche für viele Jahre paradigmatisch für den filmwissenschaftlichen Diskurs über Jaws und Spielberg sein würde, bis sich in den 1990er-Jahren sein Image durch Filme wie Schindlers Liste wandeln würde, aber Blockbuster-Filmen bis heute anhaftet:
Maybe I am making too much of a sleazy horror movie, but I am concerned about the effect of this film on other films. The studios are looking for the magic formula for commercial blockbuster, and since they are making fewer movies every year, they want to minimize risks. The giant success of “Jaws” may encourage them to keep aiming for the lowest common denominator; from now on it will almost certainly be a little harder to find financing for more modest and meaningful films.[6]
Nach Jaws begannen die Studios tatsächlich das System hinter dem Erfolg von Jaws zu adaptieren und zur Formel für kommende erfolgreiche Filme umzuwandeln: Nun setzten die „High Concept“-Filme ihren Siegeszug durch das Kino der 1980er- und -90er-Jahre an, Filme also, die nicht von einer bestimmten Genre-Konvention aus konstruiert und vermarktet werden, sondern durch eine in wenigen Worten zusammenfassbare Handlung oder Grundprämisse und immer weiter wachsenden Budgets Interesse beim Publikum wecken sollen. Filme wie Alien, laut einer Hollywoodlegende den Produzenten gepitched als „Jaws in space“, Flashdance, Top Gun und Die Hard entstanden nach dieser Idee. Nach Jaws verstärkte sich der finanzielle Fokus auf das erste Einspielwochenende, genauso wie die Orientierung an außerfilmischen Einnahmemöglichkeiten durch Lizensierungen von Spielen, Büchern, Soundtrack-Alben und Merchandising-Artikeln. Filme waren nun verstärkt als Massenevents für die gesamte Familie konzipiert.[7]
Vieles von der Kritik, die heute an das „Marvel Cinematic Universe“ und seine Superheld*innenverfilmungen gerichtet wird, lässt sich also schon bei Jaws ausmachen. So schrieb Regisseur Martin Scorsese – seines Zeichens selbst ein großer Fan von Jaws – 2019 in seinem New York Times Essay, warum Marvel Filme für ihn nichts mehr mit Kino zu tun hätten:
In the past 20 years, as we all know, the movie business has changed on all fronts. But the most ominous change has happened stealthily and under cover of night: the gradual but steady elimination of risk. Many films today are perfect products manufactured for immediate consumption. Many of them are well made by teams of talented individuals. All the same, they lack something essential to cinema: the unifying vision of an individual artist. Because, of course, the individual artist is the riskiest factor of all.
Diese Kritik ist Teil einer bis heute fortgeschriebenen Niedergangserzählung, nach der die stetig wachsende Kommerzialisierung Hollywoods nur über den Verlust des authentischen Kunstschaffens zu erreichen sei und an deren Ende statt Künstler*innen „Geschäftsleute“ Filme machen würden. Vermutlich nicht zufällig fällt dieser Diskurs in genau jene Zeit, in der Hollywood-Studios ihre Filme immer stärken für den internationalen Markt konzipierten. Jaws lässt sich so als Scharnierfilm verstehen: sowohl als erster internationaler Blockbuster als auch als letzter amerikanischer Erfolgsfilm. Spielberg selbst galt dann auch über weite Strecken der 1980er- und 1990er-Jahre als Verräter, der künstlerischen Anspruch für billige Effekte aufgegeben habe. Ihm wurde dabei auch im Hinblick auf die Diskurse der amerikanischen „Culture Wars“ in den 1980er Jahren vermehrt der Vorwurf gemacht ein Regisseur der sentimentalen Happy Ends und der Idealisierung von Familie und kleinbürgerlicher Spießigkeit zu sein, dessen Filme von reaktionärer oder neokonservativer Ideologie durchzogen seien. Eine Kritik, die vermutlich der öffentlichen Vermarktung von Spielberg als familienfreundlichem Regisseur mehr Glauben und Aufmerksamkeit schenkte als dem tatsächlichen Inhalt seiner Filme.[8]
Ein weißer Raubfisch als Projektionsfläche
Interessanterweise aber verdankt Jaws seine popkulturelle Langlebigkeit nicht allein seinem – schon zwei Jahre später durch Star Wars – überflügeltem Erfolg oder seiner Produktionsgeschichte, sondern auch, entgegen aller Kritiker*innen, welche ihm nur inhaltsleere Effekte und Geschäftemacherei unterstellten, seiner Bedeutung als politische Allegorie. Schon in den 1970er Jahren wurde Jaws durchaus als ein politischer Film wahrgenommen. Seine Veröffentlichung, die zeitlich eng mit dem Skandal um Watergate und dem Ende des Vietnamkrieges zusammenfiel, ließ viele Beobachter*innen den Film als eine Verarbeitung amerikanischer Gegenwart lesen.
Gerade die Vertuschungsaktionen des Bürgermeisters Vaughn, welcher die Haiangriffe und den Tod einer jungen Frau herunterspielt, um die Sommer-Einnahmen der Insel nicht zu gefährden, erinnerte viele an Zeitgenossen an Richard Nixons Verhalten während der Watergate Affäre. Aber auch zu Edward „Ted“ Kennedy stellten viele Beobachter*innen Bezüge her. Kennedy war 1969 nach einer Wahlkampfveranstaltung auf der Insel Martha’s Vineyard im Bundesstaat Massachusetts mit seinem Auto eine Brücke hinunter ins Meer gestürzt. Sich selbst konnte Kennedy retten, aber seine Begleiterin Mary Jo Kopechne ertrank. Als Steven Spielberg 1974 an eben diesem Ort Jaws drehen sollte, war der Vorfall noch immer ein heiß diskutiertes Thema in den US-Medien, erst recht als Edward Kennedy als aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 1976 gehandelt wurde.[9]
Die Versuche Jaws zu deuten blieben nicht in der Entstehungszeit des Films stehen: Der Philosoph Frederic Jameson sah beispielsweise in einem Essay aus dem Jahr 1979 in dem Tod des raubeinigen Seemanns Quint am Ende des Films den Niedergang von „old fashioned private enterprise, of the individual entrepreneurship not merely of small buisness, but also of local business” und in dem Überleben von Polizeichef Martin Brody und dem Meeresbiologen Matt Hooper (welcher in der Romanvorlage stirbt) „an alliance between the forces of law-and-order and the new technocracy of the multinational corporations.“[10] In den 1980er-Jahren kamen mehrere Deutungen aus marxistischer, feministischer und psychoanalytischer Blickrichtung hinzu. Anlässlich seines 40. Jubiläum wurde dem Film eine eigene akademische Tagung an der De Montfort University in Großbritannien gewidmet, wo Jaws als Film über männliche Schuld, den Hiroshima-Atombombenabwurf oder als Wiederbelebung des amerikanischen Western diskutiert wurde.[11] Die möglichen Deutungen des Films sind inzwischen so weitläufig, dass der englische Filmkritiker Mark Kermode einen Artikel über das 40 Jährige Jubiläum von Jaws mit den Worten begann: „First things first; Jaws is not about a shark.“
Eine sehr neue Deutung stellt ebenso wie die älteren Watergate- und Kennedy-Bezüge nicht den Hai, sondern die Figur des Bürgermeisters des Urlaubsstädtchens in den Vordergrund. Während der Coronapandemie fanden viele Menschen in den Bemühungen von Mayor Vaughn, die Strände um jeden Preis offen zu halten, Parallelen zur Corona-Politik von US-Präsident Donald Trump. Jaws wurde dadurch als „Pandemiefilm“ in den sozialen wie klassischen Medien erneut zu einem viralem Hit.[12] Diese Vielzahl an Deutungen über die letzten 45 Jahre ist sicher nicht zufällig, sondern in der offenen – oder kritischer gesagt in der unentschlossenen – Struktur des Films angelegt, wie bereits der Filmkritiker Roger Ebert in seiner Review zu Jaws hervorhob: „There are no doubt supposed to be all sorts of levels of meanings in such an archetypal story, but Spielberg wisely decides not to underline any of them”. Als gesellschaftliche oder politische Allegorie hat Jaws daher bis heute ein immenses Aktualisierungspotential.
Im Rahmen der diesjährigen Hommage der Berliner Filmfestspiele wird Jaws am Mittwoch, 22. Februar um 21:30 Uhr im Cubix 6 und am Samstag 25. Februar um 19:00 Uhr in Cubix gezeigt.
[1] Zur Vorproduktionsgeschichte und Vermarktung des Films, vgl. z.B: I.Q. Hunter; Matthew Melia, Introduction, in: The Jaws Book: New Perspectives on the Classic Summer, hrsg. von: I.Q. Hunter; Matthew Melia, New York 2020, S. 1-15.
[2] Vgl. Zur Veröffentlichungspolitik, vgl. Peter Krämer, ‚She Was the First': The Place of Jaws in American Film History, in: the Jaws Book, S. 41-44.
[3] Vgl. z. B.: Gary Arnold, The Jaws of Blockbuster, in: The Washington Post vom 15.05.1975, S. B5.
[4] Rosemarie Stenzel-Quast: Der weiße Hai (Schaukasten). BR, 03.11.1975.
[5] Peter Buchka, Dummer Rummel um einen anständigen Film, in Süddeutsche Zeitung vom 19.12.1975, S.10.
[6] Vgl. Stephen Farber, ‘Jaws’ and ‘Bugs’ – the Only Difference is the Hype, in: The New York Times vom 24.08.1974, S. 91.
[7] Vgl. dazu, z. B. Noel King, ‘The Last Good Time We Ever Had’ Remembering the New Hollywood Cinema, in: The Last Great American Picture Show. New Hollywood Cinema in the 1970s, hrsg. von: Thomas Elsaesser, Alexander Horwath, Noel King, Amsterdam 2004, S. 23–25.
[8] Zu diesem Diskurs, vgl. King, The Last Good Time, S.25–33, sowie Nigel Morris, In the Teeth of Criticism: Forty-Five Years of Jaws, in: the Jaws Book, S. 79–95.
[9] Vgl. dazu z.B. J. Hoberman, Nashville contra Jaws. Or ‘the Imaginatin of Disaster’ Revisited, in: the Last Great American Picture Show, S. 200–202
[10] Frederic Jameson, Reification and Utopia in Mass Culture, in: Frederic Jameson, Signatures of the Visible, New York 1992, S. 38. Zu den akademischen Debatten um Jaws vgl. Auch: Morris, In the Teeth of Criticism, S. 82-84.
[11] Daraus hervorgegangen ist das Buch The Jaws Book: New Perspectives on the Classic Summer, hrsg. von: I.Q. Hunter; Matthew Melia, New York 2020.
[12] Vgl. zum Beispiel die Memesammlung von auf dem Filmblog the daily Jaws, unter: , sowie Beispielsweise: Julian Zelizer, What ‘Jaws’ can teach us about our coronavirus response, auf: cnn.com, 24.05.2020, URL: , oder: Mary McNamara, ‘You knew and now my boy is dead.’ Trump is as craven as the mayor in ‘Jaws, in: The Los Angles Times 06.04.2020, [zuletzt abgerufen am 17. Februar 2023].
You’re gonna need a bigger budget
Der weiße Hai und die Folgen