Keine Erinnerungskultur ohne Debatten

Wer in der westdeutschen Metropole Köln am Rheinufer spazieren geht, kann neben der Hohenzollernbrücke einen Moment innehalten und einen Blick auf das im Sommer 1995 eingeweihte steinerne Denkmal werfen. Am Ufer des Flusses, in der Nähe eines beliebten queeren Cruising Spot in einer Stadt, die für ihre lebendige queere Szene bekannt ist, erinnert das Denkmal an das Schicksal der und ehrt die queeren Opfer des NS-Regimes. Mehrere rosafarbene und schwarze Keile bilden einen Rosa Winkel mit folgender Inschrift: „Den schwulen und lesbischen Opfern des Nationalsozialismus”. Für Achim Zinkann, den Künstler der das Denkmal entwarf, ist dieser Rosa Winkel ein Appell an Solidarität und Erinnerung. In seinen eigenen Worten: „Druck, Gegendruck und Reibung sind Voraussetzung für den Gesamtzusammenhalt. Wird einer der Keile entfernt, verliert mindestens ein anderer den Halt. Das Gefüge wird zerstört [...] zwei Blöcke, zwei Farben, zwei Schnitte, zu einem Ganzen zusammengefügt. Männer, Frauen, Lesben, Schwule, einander bedrückend, sich aneinanderreibend, ineinander aufgehoben, sich bedingend.”[1] Mit anderen Worten: Ohne einander würde jeder Aspekt des Denkmals zusammenbrechen; der Rosa Winkel als Ganzes würde zusammenbrechen. Ohne die Erwähnung queerer Frauen, so der Künstler, würde das Gedenken an queere Männer in sich zusammenfallen.

Jenseits der Binaritäten von zwei Geschlechtern, zwei Gendern und zwei möglichen Strukturen des Begehrens versteht dieser Beitrag Queerness als ein Netz, in dem alle Aspekte des Begehrens und der Sexualität, einschließlich der Hegemonie der Heteronormativität, miteinander in Beziehung stehen und fließend ineinander verwoben sind. Ich verwende ‚Queer‘ hier als ein analytisches Konzept, um auf nicht-heteronormative Strukturen des Begehrens und der Sexualität zu verweisen, ohne mich auf die Kategorien der Vergangenheit festzulegen. Mit anderen Worten: Ich versuche, der Fluidität, die queere Theorien betonen, treu zu bleiben. Queer wird hier nicht nur gedacht als ein Oberbegriff für alle Formen gleichgeschlechtlichen Begehrens und geschlechtlicher Nonkonformität. Vielmehr verwende ich queer um Identitätszwängen zu entrinnen, und so in den Archiven auch Stimmen zu finden, die sich nicht unter den je zeitgenössischen Begriffen subsumieren lassen.

Deswegen spreche ich im Folgenden nur von ‚schwul‘ oder ‚lesbisch‘, wenn ich Quellen wörtlich zitiere oder wenn der politische Aspekt von ‚schwul‘ oder ‚lesbisch‘ von Bedeutung ist, um zum Beispiel eine Gruppe oder eine Aktion zu charakterisieren. Diese scheinbare Spitzfindigkeit hat auch mit historischer Empathie zu tun und mit den Grenzen des Archivierten. So kann ich beispielsweise nicht mit Sicherheit sagen, wie die mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Männer ihre Sexualität begriffen oder definierten. ‚Schwul‘ und ‚lesbisch‘ sind politische Identitäten mit denen die Erfahrungen und Selbstbilder dieser Menschen erst retrospektiv verknüpft wurden. Es geht also darum, immer genau auf den Kontext zu achten, historische Begrifflichkeiten kritisch zu bewerten und Erfahrungen semantisch miteinander zu verknüpfen, ohne sie aneinander anzugleichen. ‚Queer‘ erlaubt genau das: Die Vergangenheit lässt sich so erkunden, ohne den historischen Akteur*innen, die uns in den Archiven nichts über ihre Sexualität mitteilen Identitäten zuzuweisen, die möglicherweise nicht ihre eigenen waren.

Die Wege zur queeren Erinnerung an die NS-Gräueltaten waren leider voller Hürden und nicht immer stand die Solidarität dabei im Mittelpunkt. Vom Kriegsende bis zu den jüngsten Debatten um die Enthüllung einer Gedenkkugel für die lesbischen Opfer des NS-Regimes auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück sorgten historiografische Diskussionen, Anstrengungen der Community und ein unablässiger erinnerungspolitischer Aktivismus für eine aufkeimende Professionalisierung von queerer Geschichte im deutschsprachigen Raum und für ein besseres Verständnis der NS-Vergangenheit.[2] Im Folgenden zeige ich, inwiefern Kontroversen ganz zentral zur schwul-lesbischen Identitätsbildung und zur Demokratisierung der Vergangenheitsbewältigung beitrugen.

 

NS-Zeit

Zunächst einmal gilt es zu klären, was überhaupt erinnert werden sollte. Das NS-Regime war nicht immer konsistent in seinen sex- und fortpflanzungspolitischen Maßnahmen, ging aber schnell gegen „Homosexualität“ vor.[3] Als Hitler 1934 einige seiner engsten Verbündeten der ersten Stunde ausschaltete, begründete die Propaganda Ernst Röhms Hinrichtung mit dessen gleichgeschlechtlichem Begehren. Das Regime schloss und plünderte das von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft. Die Archive und Papiere des Instituts, die damals größte Sammlung von Arbeiten zur Sexualität, wurden 1933 auf dem Opernplatz – heute Bebelplatz – im Zentrum Berlins von Studenten verbrannt, die eifrig für die nationalsozialistische Sache kämpften.

Nicht nur indem es Bücher über queere Realitäten vernichtete, radikalisierte das NS-Regime die Verfolgung queerer Personen in Deutschland. Queere Sexualität war für die Nationalsozialisten so etwas wie eine Geschlechtskrankheit: Sie konnte behandelt und sollte den unter ihr leidenden deutschen Männern gewaltsam ausgetrieben werden. Gleichzeitig musste die „Volksgemeinschaft“ vor den Gefahren einer „Infektion“ geschützt werden. 1935 änderten NS-Beamte das Strafrecht. Die neue Fassung des §175 radikalisierte die Bestrafung queerer Handlungen zwischen Männern. Wo es zuvor nötig gewesen war, „naturwidrigen“ Geschlechtsverkehr nachzuweisen, konnte nun auch ein einfacher liebevoller Moment zwischen zwei Männern genügen, um beide ins Gefängnis zu bringen. Jede Verletzung des allgemeinen Schamgefühls und jede „Ausschweifung“ galt als Straftat.

Auf der Grundlage von Listen, die teils noch aus der Weimarer Zeit stammten, aber auch aufgrund von Denunziationen wurden queere Männer nun immer heftiger schikaniert, überwacht und verfolgt. Tausende von ihnen wurden in Konzentrationslager deportiert, wo sie oft mit einem auf die Häftlingskleidung genähten Rosa Winkel gebrandmarkt wurden. In Österreich wurden auch queere Frauen strafrechtlich verfolgt. In Deutschland stand Sex zwischen Frauen zwar nicht unter Strafe, aber dennoch wurden, wie die Historiografie der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, Frauen, die Frauen begehrten, strukturell unterdrückt. Sie mussten in Angst und versteckt leben, galten als „asozial“ und manche von ihnen wurden auch in Konzentrationslagern inhaftiert.[4] Neben der gleichgeschlechtlichen Sexualität verfolgte das NS-Regime, wie neuere Forschungen zeigen, auch trans* Frauen und Männer, die zur Zielscheibe des NS-Heteropatriarchats wurden.[5] Daher ist es genauer und zutreffender, von der Verfolgung queerer Personen zu sprechen, statt sich an den von den Tätern geschaffenen juristischen Kategorien zu orientieren. Die Spannung zwischen einer breiteren Analyse der Gewaltstrukturen und konkreten, in der Täterperspektive verankerten Fällen prägt historiographische Debatten bis heute. Manche Wissenschaftler*innen beharren auf engen Begriffen und Perspektiven und blenden so das Leid und das Unrecht aus, das lesbischen und trans* Personen angetan wurde.

 

Die Nachkriegszeit

Unmittelbar nach dem Krieg brachte die Befreiung der Lager für queere Personen keine Freiheit. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal von queeren Männern in der Nachkriegszeit. Als die Alliierten das NS-Unrecht beseitigen wollten, bezog sich das nicht auf den §175. Männliche Homosexualität galt weiterhin als ein „gewöhnliches Verbrechen“ und die Homosexuellen-Verfolgung betrachtete man nicht als eine nationalsozialistisch geprägte Diskriminierung. Deswegen mussten einige queere Männer, die die Schrecken der Lager überstanden hatten, nach 1945 den „Rest“ ihrer Strafe in Gefängnissen verbüßen. Da sich viele Richter, die mit der NS-Ideologie sympathisierten oder überzeugte Nazis waren, der Entnazifizierung entziehen konnten, standen queere Männer nach 1945 oft wieder vor denselben Richtern, die sie nach demselben Gesetz verurteilten.[6] Eine angemessene Erinnerung an das Leiden queerer NS-Opfer war unter diesen Bedingungen unmöglich. Dies veranlasste den jüdischen Historiker Hans-Joachim Schoeps zu der berühmten Feststellung, dass queere Männer erst 1969 wirklich befreit wurden, also in dem Jahr, in dem die NS-Fassung des §175 in der BRD endlich reformiert wurde.[7] 1994 wurde er schließlich abgeschafft.

Die Liberalisierung in den späten 1960er Jahren bedeutete, dass queere Männer endlich offen Vereine gründen konnten. Sie gilt als die Geburtsstunde einer neuen Bewegung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.[8] Aber nicht nur Männer gründeten Vereine. Auch lesbische Gruppen waren politisch aktiv, arbeiteten manchmal mit schwulen Männern zusammen und gründeten manchmal eigene Gruppen im Kampf gegen Queerfeindlichkeit und Patriarchat.[9] Fast von Beginn an bildete die Erinnerung an die NS-Verfolgung einen wichtigen Aspekt in der Arbeit dieser Gruppen. Eine von ihnen war die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW). Sie tauschten sich mit anderen Gruppen aus, wie der Homosexuellen Aktion Nürnberg, der kurzlebigen Homosexuellen Aktion Köln, der Paderborner Aktion Homosexualität, der Aktionsgruppe Homosexualität Osnabrück usw. Gemeinsam entdeckten diese Gruppen das Schicksal der Männer, die den Rosa Winkel in den KZs getragen hatten und dort Folter ertragen mussten. Und sie begannen das Schweigen zu begreifen, das den Opfern nach dem Krieg aufgezwungen wurde.

Für viele Aktivist*innen der 1970er Jahre verdeutlichte die Tatsache, dass die NS-Version des §175 das Regime überlebt hatte, die Kontinuitäten zwischen dem deutschen Faschismus und der BRD. Sie gründeten Lesezirkel und organisierten Veranstaltungen, in denen sie ihre Unterdrückung anprangerten. Sie fühlten sich auch persönlich mit den NS-Opfern verbunden. Eines der Bücher, die sie lasen, war Die Männer mit dem Rosa Winkel, die Memoiren eines Mannes namens Josef Kohout. Das Buch ist wie eine Autobiografie aufgebaut, basiert aber lediglich auf den Erinnerungen von Kohout, die er in zahlreichen Interviews mit Johann Neumann teilte, der das Buch schließlich selbst unter einem Pseudonym veröffentlichte: Heinz Heger. Die Wiederentdeckung der Verfolgungen und des Leids der NS-Zeit und die Erkenntnis, dass Queersein immer noch tabuisiert, kriminalisiert und gesellschaftlich abgelehnt wurde, veranlasste Gruppen wie die HAW, sich das mit dem Stigma und der Verfolgungsgeschichte verbundene Symbol anzueignen.[10]

Die Aktivist*innen verwendeten den Rosa Winkel auf ihren Flugblättern und auf Plakaten bei Demonstrationen. Das Symbol ermöglichte es ihnen, das Schicksal all der Männer sichtbar zu machen, die nach dem Krieg nicht als Opfer des Faschismus anerkannt worden waren, und das zu unterstreichen, was sie als eine historische Kontinuität wahrnahmen: die Fortführung eines unterdrückerischen Rechtssystems in der BRD.[11] So kämpften sie um Anerkennung außerhalb der eigenen sozialen Gruppe oder des imaginierten Kollektivs. Mit dem Rosa Winkel formulierten sie ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit und legitimierten ihren Kampf für Bürger- und Menschenrechte.

Gleichzeitig trugen diese Aktivist*innen den Rosa Winkel auch, um das zu vermeiden, was sie als ein Sich-Verbergen hinter heterosexuellen Fassaden wahrnahmen. Das Privileg mancher queeren Männer, die in der Mainstream-Gesellschaft als Heterosexuelle „durchgehen“ konnten, wollten sie keinesfalls in Anspruch nehmen. Stattdessen wollten sie das vermeintliche Stigma sichtbar tragen und sich ganz offen mit dem Rest der queeren Community solidarisieren. Das Zeigen des Rosa Winkels sollte als ein Impuls innerhalb der sozialen Gruppe verstanden werden, als ein Aufruf zur Solidarität, der die Geschichte nutzt, um ein Stigma in ein emanzipatorischeres Zeichen umzudeuten. In diesem Sinne könnte man den Rosa Winkel mit den vielen Schimpfwörtern vergleichen, die Aktivist*innen aufgriffen, um sie als positiv-gewendete Selbstbezeichnungen zu verwenden: schwul, queer, butch, usw. Einige Organisationen gingen semantisch noch ein wenig weiter, wie die Gruppe Rosa Winkel Wuppertal oder der militante Rosa Winkel Verlag.

 

Implikationen

Ab den 1970er Jahren räumte eine neue schwule, dann lesbische Presse der NS-Unterdrückung immer mehr Bedeutung ein. Diese (Wieder-)Entdeckung der queeren Vergangenheit war von zentraler Bedeutung für die Bildung eines kollektiven Imaginären, das die Community über politische Grenzen hinweg vereinen sollte. Neben dem anfänglichen Kampf für die Abschaffung der strafrechtlichen Diskriminierung stand bis 2002 die Forderung nach Wiedergutmachung für (hauptsächlich männliche) queere Opfer im Zentrum. Indem sie die Diskriminierung historisierten und so ihren Kampf gegen die gegenwärtige Unterdrückung legitimierten sowie den herrschenden Teil der Gesellschaft mit dem fortdauernden Unrecht und der Geschichte der Grausamkeiten konfrontierten, entwarfen queere Organisationen eine Genealogie des Queerseins. Indem sie sich als Erben der Männer mit dem Rosa Winkel in den KZs begriffen, nutzten queere westdeutsche Männer die Opferrolle, um einen intensiven Zusammenhalt zu stiften. Eine Kohäsion, die eng mit den Gräueltaten verbunden war, die als negativer Gründungsmythos der BRD die Grundlage der nationalen Identität bildete. Diese Sichtweise war alles andere als ein zynischer politischer Schachzug, denn viele der Aktivist*innen identifizierten sich mit den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgungen.[12] Der Aufbau eines kollektiven queeren Gedächtnisses an die NS-Diktatur – Erinnerungen, die durch außerfamiliäre Beziehungen in der queeren Community weitergegeben wurden, zum Beispiel durch queere Printmedien – rahmte die Bewegungen der 1970er Jahre mit einer Rhetorik des Überlebens.

Die queere Erinnerung an die NS-Zeit war nicht nur die Grundlage für ein queeres Zusammengehörigkeitsgefühl. Weil die queerfeindliche Gewalt des NS-Regimes – fälschlicherweise – als genozidal gerahmt wurde, ließ sie sich mit anderen Momenten der deutschen queeren Geschichte in Zusammenhang bringen. In den 1980er Jahren, am Anfang der HIV/AIDS-Epidemie, verglichen manche die drakonischen Vorschläge für prophylaktische Maßnahmen und das queerfeindliche gesellschaftliche Klima mit einem „neuen“ Völkermord, der in der Bundesrepublik vermeintlich kurz bevorstand.[13]

Diese Identitätsstiftung, die queere Politik eng mit der deutschen Gewaltvergangenheit verband, schloss bestimmte Teile des queeren Spektrums aus. Zum einen verstärkte der Fokus auf die NS-Verbrechen und den §175 die Konzentration auf die Männer mit dem Rosa Winkel. Queere Menschen, die nicht nach §175 verfolgt worden waren, konnten an diesem ‚Ursprungs-Mythos‘ nicht teilhaben. Deswegen blieben Lesben lange Zeit von dieser schwulen Erinnerungsgemeinschaft ausgeschlossen. Als Pionierinnen der lesbischen Geschichte wie Claudia Schoppmann das Schicksal queerer Frauen während des Nationalsozialismus untersuchten, führten ihre Einsichten nicht unmittelbar zu einem Umdenken und zur Solidarität mit lesbischen Formen des Gedenkens.[14] Stattdessen warfen queere Historiker und Aktivisten, genauer: schwule Cis-Männer, den Lesben vor, die Vergangenheit zu instrumentalisieren, um sich politische Vorteile in der Gegenwart zu verschaffen.

Dies ist insofern ironisch, als dieser Vorwurf eher auf queere und männliche Aktivisten in den 1970er Jahren zutrifft, die das Ausmaß der Verfolgung queerer Männer teilweise maßlos übertrieben und aufgeblähte Opfer-Zahlen von Millionen in Umlauf brachten, um die Verfolgung schwuler Männer als etwas „ebenso Schlimmes“ wie den Holocaust darzustellen.[15] Eine Zeit lang kursierte sogar der Begriff „Homocaust“. Was dabei so gut wie gar nicht zur Sprache kam, war das Schicksal queerer jüdischer Männer, die sozusagen am Schnittpunkt von NS-Queerfeindlichkeit und Antisemitismus besonders intensiver Verfolgung ausgesetzt waren, aber selten im Mittelpunkt erinnerungspolitischer Debatten standen. Inzwischen haben Wissenschaftler*innen in Deutschland die aufgebauschte Geschichte vom ‚Homocaust‘ akribisch widerlegt und seit ein paar Jahren gibt es auch eine queere Geschichte des Holocaust, die die Vielschichtigkeit des Themas ernst nimmt.[16] Nichtsdestotrotz motivierte das zentrale Narrativ der Vergangenheitsbewältigung und des Anspruchs queerer männlicher Opfer auf Gerechtigkeit auch lesbische Aktivistinnen dazu, ihre Anliegen in ähnlicher Weise mit der gewalttätigen NS-Vergangenheit zu verbinden. Einige von ihnen schlugen vor, den Schwarzen Winkel als Symbol für das lesbische Leiden während der NS-Zeit zu verwenden.

Ein weiterer unglücklicher Effekt der engen Verknüpfung zwischen queerer Politik und der Erinnerung an den Nationalsozialismus ist das sogenannte Whitewashing des deutschen Queerseins. Wissenschaftler*innen haben gezeigt, wie bereits in der Weimarer Zeit das queere Subjekt implizit oder explizit als weiß rassifiziert und definiert wurde.[17] Diese Verengung des Queeren auf das Weißsein haben Aktivist*innen in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren perpetuiert, indem sie den Kampf für die Rechte von Queers mit der Erinnerungspolitik an die NS-Verfolgung von einer imaginierte weiße Minderheit verknüpften und legitimierten, und so anders rassifizierte queere Erfahrungen – einschließlich jüdischer, Sinti, und Roma Erfahrungen – aus dem Kanon der queeren Erinnerung ausschlossen. Mit anderen Worten, weil man Kategorien wie ‚schwul‘ und ‚lesbisch‘ oft als weiß imaginierte, wurden rassifizierte Erfahrungen verdeckt, die der dominante, weiße Teil der meisten Lesben- und Schwulenorganisationen aufgrund eines Mangels an intersektionaler Analyse in den Hintergrund drängte. Queere Erinnerungspolitik wurde, ähnlich wie andere Aspekte der deutschen Vergangenheitsbewältigung, zu einer neuen Form des jus sanguinis.[18] Je zentraler die Vergangenheitsbewältigung für die deutsche nationale Identität und je ausschließlicher die von den Nazis zerstörte queere Szene als eine Angelegenheit von weißen Menschen imaginiert wurde, desto mehr gerieten anders rassifizierte queere Stimmen zu einer Art Anhängsel, zu einem erst kürzlich auf der Bildfläche erschienenen neuem Detail in einer ursprünglich ‚weißen‘ queeren Community.[19]

 

Das Potenzial von Debatten

In seiner berühmten Rede zum Tag der Befreiung am 8. Mai 1985 erwähnte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum ersten Mal homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus im offiziellen, sozusagen staatstragenden Diskurs. Damit war ein Anfang gemacht. Dank des unablässigen Drucks queerer Aktivist*innen kam es 2002 zur Anerkennung des NS-Unrechts und zu einer Entschuldigung bei den homosexuellen Opfern durch den Bundestag. Von diesem Zeitpunkt an stand das queere Gedenken auf der politischen Tagesordnung. Nach mehreren Anläufen wurde 2008 ein Denkmal zur Erinnerung an die homosexuellen Opfer im Berliner Tiergarten eingeweiht.[20] Dieser Erfolg löste erneut Debatten über ein gemeinsames Gedenken an alle von den Nazis verfolgten queeren Personen aus. Im Zentrum stand dabei die Frage, ob der Film im neuen Denkmal nur Männer oder auch Frauen zeigen sollte.[21] Der Forderung, auch die weiblichen und anderen queeren Opfer anzuerkennen, begegneten einige queere männliche Historiker mit unfairen und böswilligen Kampagnen. Diese Auseinandersetzung intensivierte die Debatten über die Unterdrückung queerer Frauen in der NS-Zeit, die kürzlich, 2022, in der Enthüllung einer Gedenkkugel für die lesbischen Häftlinge im KZ-Ravensbrück und Uckermark gipfelten.[22]

Dieser Erfolg eines inklusiveren Gedenkens, beruhte nicht unbedingt auf neuen Forschungsergebnissen. Seit den Studien von Claudia Schoppmann in den 1990er Jahren haben zahlreiche Arbeiten belegt, dass die NS-Verfolgung nicht nur männliche Homosexuelle betraf. Dennoch trugen die Debatten um queere Denkmäler im 21. Jahrhundert zu dem bei, was die Historikerin Insa Eschebach „Demokratisierung der Vergangenheitsbewältigung“ nennt. Wenn die Forschung und das Gedenken alle Aspekte des Queerseins einbeziehen will, müssen Historiker*innen jenseits der von den Täter*innen geschaffenen Kategorien neue Begriffsfelder zur Beschreibung der Opfer entwerfen.[23] So wie sich das Gedenken und die Erinnerungskultur in den 1980er und 1990er Jahren für Homosexuelle, Roma und Sinti und andere sogenannte vergessene Opfergruppen öffnete, so öffnet sich die Erinnerungskultur in den gegenwärtigen Debatten für alle queeren Opfer, nicht mehr festgelegt auf die nationalsozialistischen Rahmungen. In dieser Hinsicht klingen die eingangs zitierten Worte von Achim Zinkann wahrer denn je: Ohne diese Debatten, ohne einander, würden die verschiedenen Aspekte des Queerseins auseinanderfallen und das Gedenken an queerfeindliche Gewalt wäre nicht vollständig.

 

 


[1] Konzept des Denkmals in den Worten des Künstlers Achim Zinkann und wie abgedruckt im Juni 1995 in der schwulen Monatszeitschrift Box. Schwules Museum (Berlin). Box Nr. 199 Gedenk-Veranstaltungen Homosexuellen-Verfolgung Berlin-Sonstiges.
[2] Evans, Jennifer. Streiten, verstehen und zusammenstehen, Tagesspiegel, 14. April: 2021.
[3] Herzog, Dagmar. Sex after Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2005.
[4] Hájková, Anna, Birgit Bosold, im Gespräch mit, Ulrike Janz, Irmes Schwager, and Lisa Steininger. „Aktivistinnen des lesbischen Gedenkens.“ Invertito, no. 21 (2019): 74-97; Marhoefer, Laurie. „Lesbianism, Transvestitism, and the Nazi State. A Microhistory of a Gestapo Investigation, 1939-1943.“ The American Historical Review 121, no. 4 (2016): 1167-95; Huneke, Samuel Clowes. „Heterogeneous Persecution: Lesbianism and the Nazi State.“ Central European History 54 (2021): 297-325.
[5] Nunn, Zavier. „Trans Liminality and the Nazi State.” Past & Present gtac018 (2022), DOI: https://doi.org/10.1093/pastj/gtac018.
[6] Micheler, Stefan. „‘...Und Verbleibt weiter in Sicherungsverwahrung‘. Kontinuitäten der Verfolgung Männer begehrender Männer in Hamburg 1945-1949“. In Ohnmacht Und Aufbegehren, Andreas Pretzel and Volker Weiß (Hrsg.), 62-90. Hamburg: Männerschwarm Verlag, 2010.
[7] Schoeps, Hans-Joachim. „Überlegungen Zum Problem Der Homosexualität“. In Der Homosexuelle Nächste, Hermanus Blanchi (Hrsg.), 74-114. Hamburg: Furche, 1965.
[8] Griffiths, Craig. The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970s West Germany. Oxford: Oxford University Press, 2021.
[9] Ledwa, Lara. Mit schwulen Lesbengrüßen. Das lesbische Aktionszentrum Westberlin (LAZ). Gießen: Psychosozial-Verlag, 2019.
[10] Tremblay, Sébastien. „‘Ich Konnte Ihren Schmerz Körperlich Spüren‘. Die Historisierung der NS-Verfolgung und die Wiederaneignung des Rosa Winkels in der Westdeutschen Schwulenbewegung Der 1970er Jahre.“ Invertito, no. 21 (2019).
[11]  Beljan, Magdalena. Rosa Zeiten?. Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD. Bielefeld: Transcript, 2014.
[12] Tremblay, „Ich Konnte“, 2019.
[13] Tremblay, Sébastien. „Visual Collective Memories of National Socialism: Transatlantic HIV/AIDS Activism and Discourses of Persecutions”. German History 40, no 4 (2022): 536-582.
[14] Schoppmann, Claudia. Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im ‚Dritten Reich‘. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1993.
[15] Zinn, Alexander. „Der Hang zu Opfererzählungen. Über Dramatisierung und selektive Wahrnehmung in Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur zu Homosexuellen während der NS-Zeit.“ Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 53, no. 2 (2021): 331-46; Hàjkovà, Anna. Menschen ohne Geschichte sind Staub: Homophobie und Holocaust. Göttingen, Wallstein Verlag, 2021.
[16] Lautmann, Rüdiger. "Die Politik des Vergessens: Die Arbeit des Erinnerns." In Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt, Burkhard Jellonek und Rüdiger Lautmann (Hrsg.), 301-16. Paderborn: Schoeningh, 2002.
[17] Marhoefer, Laurie. „Was the Homosexual Made White? Race, Empire, and Analogy in Gay and Trans Thought in Twentieth-Century Germany”. Gender & History 31, no. 1 (2019): 91-114.
[18] El Hissy, Maha 2022, „Die Erinnerung an den Holocaust gehört nicht einer weißen, deutschen Mehrheit, Berliner Zeitung, 7. Mai: 12-13.
[19] El-Tayeb, Fatima. European Others: Queering Ethnicity in Postnational Europe. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 2011.
[20] Tomberger, Corinna. „Das Berliner Homosexuellen-Denkmal. Ein Denkmal für Schwule und Lesben?, In Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Insa Eschebach (Hrsg.). Berlin: Metropol, 2012: 187-207.
[21] Hier wäre es interessant und wichtig, auch die Fixierung auf cis-geschlechtliche Binaritäten in diesen Debatten in Betracht zu ziehen, insbesondere im Hinblick auf eine gewisse Verleugnung von Trans-Verfolgungen, die derzeit im Vordergrund einiger politischer Debatten stehen. Es wäre auch notwendig, nach Inter* und nicht-binären Stimmen im Archiv zu suchen und ihren Platz in diesen Debatten zu sehen. An dieser Stelle bin ich Ulrike Klöppel dankbar für den Hinweis auf diese Fragen.
[22] Eschebach, Insa. „Queere Gedächtnis. Zivilgesellschaftliches Engagement Und Erinnerungskonkurrenzen Im Kontext Der Gedenkstätte Ravensbrück.“ Invertito: Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 21 (2019): 49-73.
[23] Ibid.

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