Selten trafen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess Ost- und Westdeutsche so unmittelbar aufeinander wie in den brandenburgischen Gutsdörfern, wo nach 1990 zurückgekehrte Adelsfamilien ein Auskommen mit der sozialistisch geprägten Dorfbevölkerung finden mussten. Beide Gruppen sind durch eine geteilte Vergangenheit bis zur Enteignung 1945 miteinander verbunden, waren aber in den folgenden vierzig Jahren voneinander getrennt. Im früheren Gutsdorf wurden wie unter einem Brennglas spezifische Probleme und Dynamiken sichtbar, die in der Transformationszeit überall im Osten Deutschlands auftraten.
Für dieses Projekt wurden 21 Interviews mit adligen Rückkehrer*innen und Dorfbewohner*innen unterschiedlicher Generationen in drei ausgewählten Dörfern geführt.[1] Alle Personen- und Ortsnamen in dieser Studie wurden anonymisiert, um nach den Standards der Oral-History-Forschung die Persönlichkeitsrechte der Befragten zu wahren. Ergänzt wurden die mündlichen Erzählungen mit schriftlichen Überlieferungen aus brandenburgischen Kreisarchiven und dem Landesarchiv in Potsdam.
In den drei untersuchten Dörfern versuchten die westdeutschen Adelsfamilien, die nach dem Ende der DDR in das Gutsdorf ihrer Vorfahren zurückgekehrt waren, sich den Raum des früheren Gutes wieder anzueignen. Da die Enteignungen zwischen 1945 und 1989 von staatlicher Seite aus nicht rückgängig gemacht wurden, verhandelten nun Dorfbewohner und Adlige miteinander über den Verkauf, die Verpachtung und die weitere Nutzung der Immobilien des früheren Gutes. In den Erzählungen der befragten Interviewpartner*innen über die Umgestaltung der Schlösser, Gutshäuser, Kirchen, Friedhöfe, Felder und Wälder offenbarten sich die neuen sozialen Beziehungen nach dem Ende der DDR.
Konflikte und räumliche Veränderungen
Beide Seiten, Adlige und Dorfbewohner*innen, bezogen sich in den Interviews teilweise auf unterschiedliche Zeitschichten, wenn sie über die baulichen Gegebenheiten des früheren Gutes sprachen und daraus gegenwärtige Nutzungsbedürfnisse ableiteten. Daraus resultierte eine Ungleichzeitigkeit der Wahrnehmungen, was zu Konflikten führen konnte. Im Dorf Bandenow kam es zum Beispiel zu einem Konflikt um den Park, durch den in der DDR öffentliche Wege verliefen. Als die Familie von Hohenstein 2007 den bis dahin zugänglichen Park absperrte, um diesen als privaten Garten zu nutzen, kritisierten die Dorfbewohner*innen die Schließung mit dem Hinweis auf das Volkseigentum in der DDR und die nach 1990 anhaltende öffentliche Verfügbarkeit dieses Geländes. Die Adelsfamilie begründete die Absperrung mit dem Schutz ihrer vier kleinen Kinder. Damit entstand ein Zustand, der manche Dorfbewohner*innen an die Abgeschlossenheit des Gutsgeländes bis 1945 erinnerte.
Kooperationen und räumliche Veränderungen
In allen Auseinandersetzungen über die Gebäude und das Land des Gutes überlagerten sich die verschiedenen Deutungen von Vergangenheit und Gegenwart, auf die sich die jeweiligen Akteure bezogen, wenn sie ihre unterschiedlichen Interessen begründeten. Zu Kooperationen zwischen den Adelsfamilien und den Dorfbewohner*innen kam es immer dann, wenn sich beide Seiten auf eine gemeinsame Sichtweise verständigten. Während die Adligen sich in eine stilisierte familiäre Kontinuitätslinie und Zugehörigkeit einzufügen versuchen, wenn sie Schlösser, Gutshäuser oder Kirchen rekonstruieren, verbinden sich mit diesen zentralen Gebäuden des Gutes auch für die Dorfbewohner*innen Erwartungen an lokale Identifikation und Zugehörigkeit. Aus dieser Gemeinsamkeit entwickelten sich Projekte, bei der sich beide Seiten auf eine Wiederherstellung der früheren Gutsanlage einigen konnten.
Bei der konkreten Nutzung standen Adlige und Dorfbewohner*innen jedoch vor der Frage, ob sich die ständisch geprägte Distanz parallel zur baulichen Rekonstruktion erneuern würde. Beispielsweise wurde im Dorf Siebeneichen die zerstörte Patronatsloge nach der Sanierung wieder in die Kirche eingebaut. Allerdings sitzt dort nicht mehr die Adelsfamilie, sondern der Raum wird für Ausstellungen genutzt. In allen Dörfern wurde zwar der bauliche Zustand aus der Zeit der Gutsherrschaft wiederhergestellt, aber innerhalb des alten Rahmens gibt es heute neue Nutzungsformen. Diese rekonstruierende Objektgestaltung im früheren Gutsdorf ist vergleichbar mit nationalen Bauprojekten wie dem Stadtschloss in Berlin, dem Schloss und der Garnisonkirche in Potsdam oder der Frauenkirche in Dresden. Mit diesen Rekonstruktionsmaßnahmen wird die Sehnsucht der Öffentlichkeit nach einer vermeintlichen Authentizität bedient, die sich aus der Zeit vor dem Sozialismus – der preußischen Geschichte – speist. Dieses Spannungsverhältnis von Alt und Neu weisen alle diese nationalen und lokalen Bauprojekte auf, teilweise verbunden mit dem Anspruch, die Spur der Rekonstruktionsmaßnahmen offenzulegen. „Ceci n’est pas un chateau - Das ist kein Schloss“ steht beispielsweise auf die Außenfassade des Potsdamer Stadtschlosses geschrieben, in dem sich seit 2013 der Sitz des brandenburgischen Landtags befindet. In den untersuchten Dörfern wird in den meisten Fällen nur durch die Erzählungen der Interviewpartner*innen offengelegt, dass die Fassaden rekonstruiert sind, auch wenn sie so wie alte Gebäude aussehen.
1989/90: Auswirkungen und Voraussetzungen
Im Vereinigungsprozess in den drei früheren Gutsdörfern suchten alle beteiligten Akteure nach Arrangements, um ihre konkurrierenden Wahrnehmungen miteinander zu vereinbaren. Der dörfliche Raum im Transformationsland verlangte nach Entscheidungen, weil die bis zum Ende des Sozialismus existierenden Eigentumsverhältnisse aus dem Volkseigentum neu geordnet werden mussten. Während sich 20 Jahre nach dem Umbruch, zum Zeitpunkt der Interviews, die materiellen Gegebenheiten grundlegend erneuert haben, verändern sich die Erzählungen der Zeitgenoss*innen langsamer als die Gebäude um sie herum. Die Räume des früheren Gutes sind dabei Ausgangspunkte für angelagerte Erfahrungen und Erwartungen, die sich auf unterschiedliche Zeitschichten beziehen. Aus den Interviews ergaben sich Bezüge bis in die Zeit der Gutsherrschaft vor 1945, in die DDR und in die Bundesrepublik. Vom Transformationsprozess der Gegenwart ist nur die Spitze des Eisberges sichtbar, während die tieferen Schichten unter der Oberfläche verborgen liegen. Diese Analyse der mentalitätsgeschichtlichen Fundierung der Transformationsgesellschaft nimmt nicht nur 1989/90 als Ereignis, sondern auch die Bedeutung der vorherigen Erfahrungsaufschichtungen für das Handeln der Betroffenen in den Blick. Damit soll eine Orientierung angeboten werden, den Vereinigungsprozess mit seinen Voraussetzungen und in seinen Auswirkungen grundlegender zu verstehen, als das bisher durch die existierende, vor allem politikwissenschaftlich ausgerichtete Transformationsforschung möglich gewesen wäre.
[1] Forschungsbericht über ein 2018 abgeschlossenes Dissertationsprojekt an der Universität Hamburg, das von Prof. Dr. Dorothee Wierling betreut wurde.
Selten trafen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess Ost- und Westdeutsche so unmittelbar aufeinander wie in den brandenburgischen Gutsdörfern, wo nach 1990 zurückgekehrte Adelsfamilien ein Auskommen mit der sozialistisch geprägten Dorfbevölkerung finden mussten. Beide Gruppen sind durch eine geteilte Vergangenheit bis zur Enteignung 1945 miteinander verbunden, waren aber in den folgenden vierzig Jahren voneinander getrennt. Im früheren Gutsdorf wurden wie unter einem Brennglas spezifische Probleme und Dynamiken sichtbar, die in der Transformationszeit überall im Osten Deutschlands auftraten.
Für dieses Projekt wurden 21 Interviews mit adligen Rückkehrer*innen und Dorfbewohner*innen unterschiedlicher Generationen in drei ausgewählten Dörfern geführt.[1] Alle Personen- und Ortsnamen in dieser Studie wurden anonymisiert, um nach den Standards der Oral-History-Forschung die Persönlichkeitsrechte der Befragten zu wahren. Ergänzt wurden die mündlichen Erzählungen mit schriftlichen Überlieferungen aus brandenburgischen Kreisarchiven und dem Landesarchiv in Potsdam.
In den drei untersuchten Dörfern versuchten die westdeutschen Adelsfamilien, die nach dem Ende der DDR in das Gutsdorf ihrer Vorfahren zurückgekehrt waren, sich den Raum des früheren Gutes wieder anzueignen. Da die Enteignungen zwischen 1945 und 1989 von staatlicher Seite aus nicht rückgängig gemacht wurden, verhandelten nun Dorfbewohner und Adlige miteinander über den Verkauf, die Verpachtung und die weitere Nutzung der Immobilien des früheren Gutes. In den Erzählungen der befragten Interviewpartner*innen über die Umgestaltung der Schlösser, Gutshäuser, Kirchen, Friedhöfe, Felder und Wälder offenbarten sich die neuen sozialen Beziehungen nach dem Ende der DDR.
Konflikte und räumliche Veränderungen
Beide Seiten, Adlige und Dorfbewohner*innen, bezogen sich in den Interviews teilweise auf unterschiedliche Zeitschichten, wenn sie über die baulichen Gegebenheiten des früheren Gutes sprachen und daraus gegenwärtige Nutzungsbedürfnisse ableiteten. Daraus resultierte eine Ungleichzeitigkeit der Wahrnehmungen, was zu Konflikten führen konnte. Im Dorf Bandenow kam es zum Beispiel zu einem Konflikt um den Park, durch den in der DDR öffentliche Wege verliefen. Als die Familie von Hohenstein 2007 den bis dahin zugänglichen Park absperrte, um diesen als privaten Garten zu nutzen, kritisierten die Dorfbewohner*innen die Schließung mit dem Hinweis auf das Volkseigentum in der DDR und die nach 1990 anhaltende öffentliche Verfügbarkeit dieses Geländes. Die Adelsfamilie begründete die Absperrung mit dem Schutz ihrer vier kleinen Kinder. Damit entstand ein Zustand, der manche Dorfbewohner*innen an die Abgeschlossenheit des Gutsgeländes bis 1945 erinnerte.
Kooperationen und räumliche Veränderungen
In allen Auseinandersetzungen über die Gebäude und das Land des Gutes überlagerten sich die verschiedenen Deutungen von Vergangenheit und Gegenwart, auf die sich die jeweiligen Akteure bezogen, wenn sie ihre unterschiedlichen Interessen begründeten. Zu Kooperationen zwischen den Adelsfamilien und den Dorfbewohner*innen kam es immer dann, wenn sich beide Seiten auf eine gemeinsame Sichtweise verständigten. Während die Adligen sich in eine stilisierte familiäre Kontinuitätslinie und Zugehörigkeit einzufügen versuchen, wenn sie Schlösser, Gutshäuser oder Kirchen rekonstruieren, verbinden sich mit diesen zentralen Gebäuden des Gutes auch für die Dorfbewohner*innen Erwartungen an lokale Identifikation und Zugehörigkeit. Aus dieser Gemeinsamkeit entwickelten sich Projekte, bei der sich beide Seiten auf eine Wiederherstellung der früheren Gutsanlage einigen konnten.
Bei der konkreten Nutzung standen Adlige und Dorfbewohner*innen jedoch vor der Frage, ob sich die ständisch geprägte Distanz parallel zur baulichen Rekonstruktion erneuern würde. Beispielsweise wurde im Dorf Siebeneichen die zerstörte Patronatsloge nach der Sanierung wieder in die Kirche eingebaut. Allerdings sitzt dort nicht mehr die Adelsfamilie, sondern der Raum wird für Ausstellungen genutzt. In allen Dörfern wurde zwar der bauliche Zustand aus der Zeit der Gutsherrschaft wiederhergestellt, aber innerhalb des alten Rahmens gibt es heute neue Nutzungsformen. Diese rekonstruierende Objektgestaltung im früheren Gutsdorf ist vergleichbar mit nationalen Bauprojekten wie dem Stadtschloss in Berlin, dem Schloss und der Garnisonkirche in Potsdam oder der Frauenkirche in Dresden. Mit diesen Rekonstruktionsmaßnahmen wird die Sehnsucht der Öffentlichkeit nach einer vermeintlichen Authentizität bedient, die sich aus der Zeit vor dem Sozialismus – der preußischen Geschichte – speist. Dieses Spannungsverhältnis von Alt und Neu weisen alle diese nationalen und lokalen Bauprojekte auf, teilweise verbunden mit dem Anspruch, die Spur der Rekonstruktionsmaßnahmen offenzulegen. „Ceci n’est pas un chateau - Das ist kein Schloss“ steht beispielsweise auf die Außenfassade des Potsdamer Stadtschlosses geschrieben, in dem sich seit 2013 der Sitz des brandenburgischen Landtags befindet. In den untersuchten Dörfern wird in den meisten Fällen nur durch die Erzählungen der Interviewpartner*innen offengelegt, dass die Fassaden rekonstruiert sind, auch wenn sie so wie alte Gebäude aussehen.
1989/90: Auswirkungen und Voraussetzungen
Im Vereinigungsprozess in den drei früheren Gutsdörfern suchten alle beteiligten Akteure nach Arrangements, um ihre konkurrierenden Wahrnehmungen miteinander zu vereinbaren. Der dörfliche Raum im Transformationsland verlangte nach Entscheidungen, weil die bis zum Ende des Sozialismus existierenden Eigentumsverhältnisse aus dem Volkseigentum neu geordnet werden mussten. Während sich 20 Jahre nach dem Umbruch, zum Zeitpunkt der Interviews, die materiellen Gegebenheiten grundlegend erneuert haben, verändern sich die Erzählungen der Zeitgenoss*innen langsamer als die Gebäude um sie herum. Die Räume des früheren Gutes sind dabei Ausgangspunkte für angelagerte Erfahrungen und Erwartungen, die sich auf unterschiedliche Zeitschichten beziehen. Aus den Interviews ergaben sich Bezüge bis in die Zeit der Gutsherrschaft vor 1945, in die DDR und in die Bundesrepublik. Vom Transformationsprozess der Gegenwart ist nur die Spitze des Eisberges sichtbar, während die tieferen Schichten unter der Oberfläche verborgen liegen. Diese Analyse der mentalitätsgeschichtlichen Fundierung der Transformationsgesellschaft nimmt nicht nur 1989/90 als Ereignis, sondern auch die Bedeutung der vorherigen Erfahrungsaufschichtungen für das Handeln der Betroffenen in den Blick. Damit soll eine Orientierung angeboten werden, den Vereinigungsprozess mit seinen Voraussetzungen und in seinen Auswirkungen grundlegender zu verstehen, als das bisher durch die existierende, vor allem politikwissenschaftlich ausgerichtete Transformationsforschung möglich gewesen wäre.
[1] Forschungsbericht über ein 2018 abgeschlossenes Dissertationsprojekt an der Universität Hamburg, das von Prof. Dr. Dorothee Wierling betreut wurde.
Alter Adel – neues Land?
Die Erben der Gutsbesitzer und ihre umstrittene Rückkehr ins postsozialistische Brandenburg