Am 22. Oktober 2020 nahm Vladimir Putin an der 17. Tagung der Moskauer Denkfabrik Valdai Discussion Club teil, die sich mit der Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf die internationale Politik befasste. Der russische Präsident erklärte, dass Russland sich für einen Lockdown und weitere drastische Maßnahmen im Frühjahr 2020 entschieden habe, weil in seinem Land die Menschen, deren Leben und Gesundheit die oberste Priorität besitzen würden. Dadurch grenzte sich Putin implizit von seinem belarusischen Kollegen Aljaksandr Lukaschenka ab, der zwar die Gefahr des Coronavirus erkannt, jedoch – auf die Leistungskraft der belarusischen Wirtschaft bedacht – bewusst von einem Lockdown abgesehen habe: Im Gegensatz zu Russland verfüge Belarus weder über beachtliche Gold- und Währungsreserven noch über eine vielfältige Wirtschaftslandschaft. Trotzdem sei die Situation mit Covid-19 in Belarus nicht schlechter als in vielen anderen Ländern.[1]
Schätzte Putin Lukaschenkas Corona-Politik zutreffend ein? Stellt der „belarusische Sonderweg“ eine Erfolgsgeschichte dar oder handelt es sich dabei vielmehr um eine menschenverachtende Strategie eines machtgierigen Diktators, der das Ausmaß der Corona-Krise in berüchtigter (post)sowjetischen Manier vertuschte, um seinen sechsten „eleganten Wahlsieg“ bei der Präsidenschatwahl am 9. August nicht zu gefährden? Und war möglicherweise ausgerechnet Lukaschenkas Corona-Management ein wesentlicher Auslöser der Protestbewegung, welche die vermeintliche „Oase der Stabilität“ Belarus aufrüttelte und die Herrschaft des scheinbar unbezwingbaren Amtsinhabers ins Wanken brachte?
In diesem Essay werden zunächst die Entwicklung der Corona-Pandemie in Belarus und der „belarusische Sonderweg“ beleuchtet. Anschließend werden die Rezeption und Auswirkungen des „Sonderweges“ sowie dessen Einfluss auf die Protestbewegung gegen Lukaschenka untersucht. Die Analyse beruht in erster Linie auf offiziellen Mitteilungen des Gesundheitsministeriums der Republik Belarus, Pressepublikationen belarusischer und ausländischer Provenienz und veröffentlichten Zeitzeugenberichten, ebenso auf mündlichen und schriftlichen qualitativen Interviews, die der Verfasser mit insgesamt 24 Männern und Frauen unterschiedlichen Alters (22 bis 75 Jahren) und sozialen Hintergrundes (Studenten, Hochschuldozenten, Mediziner, Rentner etc.) aus Minsk und aus der Provinz im Oktober und November 2020 durchgeführt hat.
Das Lukaschenka-Regime und die Corona-Krise
Bereits am 23. Oktober bestätigte Lukaschenka, dass Putin seine Corona-Einsicht am Vortag wohl überschätzt habe: Während seiner Dienstreise in den Rayon Sluzk rühmte sich der Staatschef selbst, das aus seiner Sicht wichtigste Merkmal von Covid-19 dank seiner Intuition und Erfahrung früh erkannt zu haben: Das Coronavirus sei in erster Linie „eine Krankheit im Kopf“, gegen die etwa Käse helfen könne.[2] Mit dieser abstrusen Bemerkung knüpfte Lukaschenka an seine Rhetorik aus dem Frühjahr 2020 an und schlüpfte erneut in die beliebte Rolle des „weisen Vaters der Nation“, der sein „dummes Völkchen“ gerne über den „Sinn des Lebens“ aufkläre. Oberlehrerhaft und arrogant pries er damals Alkohol (Wodka), Sauna, Landarbeit (Traktor fahren) und Sport (Eishockey) als wirksame Heilmittel gegen das Coronavirus. Gleichzeitig schreckte er nicht von der offenen Verhöhnung von Corona-Todesopfern zurück, die die Selbstisolierungsempfehlungen des Präsidenten und des Gesundheitsministeriums missachtet haben sollen.[3] Lukaschenka, der sich gerne als begeisterter Sportler und Verfechter einer gesunden Lebensweise inszeniert, erklärte zudem fünf Tage vor der Präsidentschaftswahl, Covid-19 „auf den Beinen“ und symptomfrei überstanden zu haben.[4] Diese Darstellung, deren Nachweis der Autokrat schuldig blieb, sollte ihm zusätzliche Sympathien verschaffen und außerdem die vom Gesundheitsminister, dem promovierten Onkologen Uladzimir Karanik, suggerierte Vorstellung untermauern, Covid-19 sei lediglich für alte und chronisch kranke Menschen gefährlich; der Rest der Bevölkerung solle sich hingegen von der im Ausland verbreiteten „Corona-Psychose“ nicht irritieren lassen.[5] Diese Vorstellung gepaart mit Lukaschenkas Ausfällen prägte maßgeblich den Umgang mit der Corona-Krise in Belarus.
Nachdem das Gesundheitsministerium den ersten Corona-Fall offiziell am 28. Februar bestätigt hatte, wurde der erste Todesfall am 30. März gemeldet. In der zweiten Mailhälfte und in der ersten Junihälfte erreichte die erste Pandemiewelle ihren Höhepunkt: bis zum 11. Juni gab es in Belarus 51.816 Corona-Fälle und 293 Todesopfer.[6]
Im Hinblick auf die ohnehin desolate Wirtschaftslage und einen Zusammenbruch der Wirtschaft zum „ungünstigen“ Zeitpunkt befürchtend, schloss Lukaschenka einen Lockdown aus, ließ die Grenzen – im Gegensatz zu EU-Ländern und zu Russland – offen und gaukelte Normalität vor: Gotteshäuser, Kindergärten, Schulen und Hochschulen, Cafés, Restaurants und Diskotheken blieben offen. Große Veranstaltungen wurden nicht abgesagt. Im März und April war Belarus das einzige europäische Land, in dem der Spielbetrieb im Profifußball weiterlief, wobei Zuschauer*innen in Stadien erlaubt waren. Während Putin die prestigeträchtige Militärparade zum 75. Tag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland am 9. Mai verschieben musste, ließ Lukaschenka trotz Pandemie eine Siegesparade durchführen. Die von der Corona-Krise betroffenen Privatunternehmen erhielten de facto keine Unterstützung.
Die Umsetzung des „belarusischen Sonderweges“ wurde durch eine Propagandakampagne in den staatlich kontrollierten Medien begleitet, die Belarus und Schweden zu zwei „vernünftigen Ausnahmen“ im europäischen „Lockdown-Wahnsinn“ stilisierten, ohne jedoch den grundsätzlichen Unterschied zwischen der schwedischen Demokratie und der belarusischen Autokratie zu thematisieren: Die größtmögliche Informationstransparenz und lückenlose Aufklärung der Bevölkerung waren wesentliche Merkmale des ohnehin umstrittenen „schwedischen Sonderwegs“. In Belarus betrieb Karaniks Gesundheitsministerium hingegen eine intransparente Informationspolitik und verheimlichte die dramatischen Zustände in den medizinischen Einrichtungen des Landes. Während etliche Selbsthilfeorganisationen versuchten, den vom Staat im Stich gelassenen Kranken und den überforderten Mediziner*innen zu helfen, schwärmte die Staatspropaganda vom „außergewöhnlich erfolgreichen“ Corona-Krisenmanagement in Belarus: Die Sterberate in Belarus – eine der niedrigsten auf der Welt – zeige, dass das belarusische Gesundheitswesen der Herausforderung Covid-19 gewachsen sei.[7] In der Tat wurden vom Gesundheitsministerium bis zum 24. November insgesamt 126.953 Corona-Fälle registriert, von denen 1.112 mit dem Tode von Patienten und Patientinnen endeten.[8]
Lukaschenkas verbale Ausfälle und vor allem die niedrige Sterberate machten die internationale Öffentlichkeit auf den Fall Belarus aufmerksam. Das Rätsel des „belarusischen Sonderwegs“ ließ sich Anfang September 2020 auflösen, nachdem die unabhängige Online-Zeitung Nascha Niwa die in Belarus nicht veröffentlichten demografischen Daten aus dem zweiten Vierteljahr 2020 ausgewertet hatte, welche die staatliche Statistikbehörde Belstat unbedacht der UNO zur Verfügung gestellt hatte. Dabei kam heraus, dass in Belarus zwischen April und Juni 2020 etwa 5.500 Menschen mehr starben, als es in letzten fünf Jahren durchschnittlich der Fall war. Die Zeitung führte diesen schlagartigen Anstieg auf die Corona-Politik des Lukaschenka-Regimes zurück.[9] In einer weiteren statistischen Studie wird sogar vermutet, dass in Belarus im zweiten Vierteljahr 2020 etwa 6.700 Menschen an den Folgen des Covid-19 gestorben sind.[10]
Die zweite Welle und die Protestbewegung
Ausgewertete Pressepublikationen und durchgeführte Interviews zeigen, dass die Corona-Krise die belarusische Gesellschaft stark beeinflusst. Während sich etliche Anhänger*innen Lukaschenkas vom offiziellen Duktus überzeugen ließen, waren zahlreiche Belarus*innen in erster Linie von der menschenverachtenden Haltung und der Empathielosigkeit des Staatschefs erschüttert. Das Versagen des Staates, die Verbreitung von Lügen und Halbwahrheiten habe ihnen die akute Notwendigkeit von Veränderungen im Lande vor Augen geführt.
Die Corona-Krise begleitete den Wahlkampf 2020, obschon dieses Thema ihn nicht dominierte. Brutale Repressionen vor der Wahl und vor allem dramatische Gewaltausbrüche nach dem 9. August riefen eine breite demokratische Protestbewegung ins Leben, die sich in ihrem friedlichen Kampf gegen das Regime nicht von der im Land seit September 2020 grassierenden zweiten Corona-Welle entmutigen lässt. Lukaschenka wird dabei als das „belarusische Coronavirus“ wahrgenommen, das gefährlicher als Covid-19 sei und das es zu überwinden gelte. Seiner Corona-Strategie aus dem Frühjahr 2020 („einzig geeigneten auf der ganzen Welt“[11]) treu, versucht Lukaschenka hingegen die zweite Pandemiewelle politisch zu instrumentalisieren: Einerseits macht er die großen Protestkundgebungen für die Verbreitung des Virus im Lande verantwortlich, andererseits lässt er den umstrittenen russischen Corona-Impfstoff Sputnik V an der belarusischen Bevölkerung testen. Obschon der Staatschef die Maskenpflicht im November eher widerstrebend landesweit eingeführt hat, erscheinen Lukaschenka und seine Spitzenfunktionäre in der Öffentlichkeit in der Regel bewusst ohne Maske, die der Diktator abwertend als „Maulkorb“ bezeichnet.[12] Lukaschenka lehnt das Maskentragen bei offiziellen Treffen und Besprechungen kategorisch ab und lässt sich nicht einmal von einem Ende November bekannt gewordenen Corona-Ausbruch im Präsidialamt beeinflussen.[13] Er inszeniert sich gern als fachkundiger Mediziner und will zudem – als überzeugter Macho und Sexist – auf das „männliche“ Händeschütteln nicht verzichten.[14] Regimekritische Mediziner*innen werden schikaniert und festgenommen. Unabhängige Beobachter*innen werfen dem Regime vor, das Ausmaß der Pandemie und vor allem die tatsächliche Anzahl von Corona-Fällen und -Toten wiederholt absichtlich herunterzuspielen.[15]
Zusammenfassend lässt sich betonen, dass die Corona-Krise die Entstehung und Entwicklung der starken demokratischen Protestbewegung in Belarus begünstigte. Das miserable Krisenmanagement riss die belarusische Gesellschaft aus ihrem Dauerschlaf und zwang zahlreiche Belarus*innen, die wirtschaftliche und politische Situation in ihrem Land kritisch zu reflektieren und später den Kampf für die Freiheit und Demokratie gegen die verkrustete Diktatur aufzunehmen.
[1] Meeting of the Valdai Discussion Club, 22. Oktober. 2020.
[2] Aljaksandr Lukaschenka, 23. Oktober 2020; Aljaksandr Lukaschenka, 23. Oktober 2020.
[3] Aljaksandr Lukaschenka, 16. März 2020; Aljaksandr Lukaschenka, 28. März 2020.
[4] Aljaksandr Lukaschenka, 31. März 2020.
[5] Uladzimir Karanik, 13. März 2020.
[6] Gesundheitsministerium der Republik Belarus, 11. Juni 2020.
[7] Aleksandra Boguslawskaja: Osweschtschenie pandemii v Belarusi: o tschem umaltschiwajut gosSMI i wlasti. DW.com, 22. April 2020.
[8] Gesundheitsministerium der Republik Belarus, 24. November 2020.
[9] Belstat ne apublikawau statystyku smjarotnaszi, ale peradau jae u AAN. Jana schakue. Nascha Niwa, 6. September 2020.
[10] Sergey Mastitsky: Estimating COVID-19 excess deaths in the Republic of Belarus, 20. September 2020. Siehe auch Andrej Eliseew: Posledstwija koronawirusnoj epidemii i strategija otrizanija wlastej Belarusi, 3. Oktober. 2020.
[11] Aljaksandr Lukaschenka, 27. November 2020; Aljaksandr Lukaschenka, 4. Dezember 2020.
[12] Aljaksandr Lukaschenka, 4. Dezember 2020; Natallja Katschanawa, 4. Dezember 2020.
[13] Natallja Ejsmant, 23. November 2020.
[14] Aljaksandr Lukaschenka, 28. August 2020; Aljaksandr Lukaschenka, 23. Oktober 2020; Aljaksandr Lukaschenka, 20. November 2020, Aljaksandr Lukaschenka, 27. November 2020; Aljaksandr Lukaschenka, 4. Dezember 2020.
[15] Belye chalaty News, 22. November 2020.
Covid-19 in Belarus: „Eine Krankheit im Kopf“
Lukaschenka als „belarusisches Coronavirus“