Frank Bösch Teil 3): Wie politisch kann, soll und muss Geschichtsschreibung sein?

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatement von Frank Bösch bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil III

Wie politisch kann, soll und muss Geschichtsschreibung sein?
Diskussion am 26. Juni 2022 (online)

Eingangsstatement von Frank Bösch (ZZF Potsdam)

Von der Entpolitisierung zur Repolitisierung der Geschichtswissenschaft?

 

„Wie politisch kann, soll und muss Geschichtsschreibung sein?“ wurde uns als Leitfrage angetragen. Die Antwort darauf hängt davon ab, was mit „politisch“ gemeint ist und worauf sich dies bezieht. Wird „politisch“ auf Forschungsgegenstände bezogen, die politische Institutionen und Akteur*innen im engeren Sinne untersuchen, so ist die Geschichtswissenschaft im Zuge der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung eher unpolitisch geworden. Besonders in der sehr forschungsstarken Zeitgeschichte untersuchen nur wenige Studien die politische Arbeit von Parteien, Regierungen oder Parlamenten. Während Qualifikationsschriften zur Geschichte der Außenpolitik, militärischer Konflikte oder der Gesetzgebung vor Jahrzehnten den Weg zu Professuren ebneten, erscheinen diese seit den 2000er Jahren kaum als karriereträchtig. Stattdessen dominiert eine vom Selbstverständnis her durchaus politische Kulturgeschichte, die diskursive Machtverhältnisse oder Praktiken zur Erzeugung von Ungleichheit in anderen Feldern ausmacht – und damit das Politische im weiteren Sinne untersucht. Natürlich kann jeder Gegenstand politisch sein, aber gerade die ubiquitäre Ausweitung des Politischen in allen Winkeln der Gesellschaft macht das Politische weniger sichtbar und mindert die politische Relevanz vieler Forschungen.

In diesem Sinne spricht durchaus einiges dafür, dass die Geschichtswissenschaft politischer werden sollte. Denn für viele historisch und gesellschaftlich relevante Machtbereiche gibt es kaum historische Expertise, oft kaum Grundlagenforschung. Deshalb sind es meist Historiker*innen aus dem angelsächsischen Raum, die das deutsche Herrschaftssystem im Nationalsozialismus oder in Preußen erklären. Selbst zu zentralen Figuren wie Helmut Kohl oder Helmut Schmidt gibt es kaum Studien, während die angelsächsische Forschung dutzende fundierte Bücher zu Reagan oder Thatcher publizierte. Offensichtlich dominiert in Deutschland einerseits die Angst, sich für oder gegen politische Akteur*innen zu positionieren; andererseits gelten diese Themen als „langweilig“ oder wenig innovativ. Das scheint mir jedoch ein schwaches Argument: Ein reflektierter Zugang kann jedes Thema innovativ angehen.

Damit einher geht ein Verlust an Sichtbarkeit. Politisch akzentuierte Arbeiten, von Ulrich Herbert über Hans-Ulrich Wehler bis Heinrich August Winkler, erhielten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum, aber auch im Fach selbst. Noch heute wird dieser Typus des älteren Historikers bevorzugt gefragt, wenn es um Reden im Parlament, Politikberatung oder mediale Großdeutungen zur deutschen Geschichte geht. Seine Nachfolge haben einige wenige, meist auch männliche Köpfe zwischen 50 und 60 angetreten, die ebenfalls eher zu politischen Akteur*innen im engeren Sinne gearbeitet haben. Oft haben sie kulturgeschichtliche Ansätze aufgenommen.

Natürlich will niemand eine politisierte Forschung, die einseitig und undifferenziert Wissenschaft und Politik vermengt und damit grundlegende wissenschaftliche Standards unterläuft. Zu hinterfragen ist aber auch das Ideal des/der unpolitischen überparteilichen Expert*in, der/die ohne persönliche politische Positionierung lediglich eine historische Expertise in den politischen Kommunikationsraum einspeist. Dies imaginiert eine unpolitische, den Quellen und Fakten verpflichtete Wissenschaft, die mit einem rein privaten politischen Engagement als aktive/r Staatsbürger*in einhergeht. Tatsächlich sind diese zwei Ebenen kaum trennbar bei öffentlichen Äußerungen. Die Möglichkeiten, öffentlich zu sprechen, basieren auf der akademischen Position als Historiker*in und dem jeweiligen historischen Wissen. Dennoch sind Historiker*innen angesichts der normativen Anforderungen selten offen in Parteien oder in der Politikberatung aktiv, wie es bei der älteren Generation der in den 1930/40er Jahren geborenen Kollegen üblicher war oder auch in den Sozialwissenschaften heute. In früheren Zeiten erwies sich dieses oft konfliktgetragene Engagement oft als produktiv für die Schaffenskraft von Historikern. So unterschiedliche Fachvertreter wie Wehler und Wolfgang Benz, Thomas Nipperdey und Lothar Gall dürfte es angespornt haben.

Ob und wie politisch etwas ist, ist damit immer eine sich wandelnde Zuschreibung. Im Fach kursieren ja durchaus klare Annahmen, wo ein Buch oder dessen Autor*in politisch einzuordnen ist. Allerdings findet sich das Politische in der Geschichtswissenschaft meist eher implizit als offen ausgesprochen. Auf dieser eher impliziten Ebene erscheint mir die Geschichtswissenschaft durchaus politisch. Dies zeigt sich bereits bei der Auswahl der Themen, Quellen und Methoden. Links Positionierte wählen weiterhin häufiger eine Alltagsgeschichte „from below“, Konservative eher den Blick auf politische Eliten, auf beiden Seiten getragen von einer gewissen verständnisvollen Sympathie. Im Unterschied zu den 1970/80er Jahren ignorieren sich beide Seite eher, als dass sie in einen kritischen Austausch miteinander treten. Zu einem harten Konflikt um die „Neue Politikgeschichte“ kam es in den 2000er Jahren, weil Kulturhistoriker*innen nun beanspruchten, mit ihren Methoden die „harten“ politischen Themen der Politikgeschichte zu bearbeiten, und sich damit die beiden Sphären begegneten.

Die impliziten politischen Zuordnungen lassen sich auch in der geschichtswissenschaftlichen Organisationskultur ausmachen. Im Fach bestehen durchaus unausgesprochene, aber durch Vorannahmen konstruierte Zuschreibungen über und Grenzen zwischen politischen Lagern, sei es bei Tagungen, Gastvorträgen oder bei der Besetzung von Professuren. Das 2021 gegründete „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, dem viele Historiker*innen angehören, positionierte sich etwa in seinem Manifest als „Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit dem gemeinsamen Anliegen, die Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen zu verteidigen und zur Stärkung eines freiheitlichen Wissenschaftsklimas beizutragen.“ Aber gerade diese betont unpolitische Positionierung gegen die Politisierung (insbesondere gegen die Gleichstellungspolitik) erschien wiederum vielen als hochgradig politisch und als Projekt „konservativer Männer“. Was auf welche Weise als politisch oder ideologisch gilt – Frauenquoten oder deren Ablehnung – ist stets Ergebnis umkämpfter Zuschreibungen. Andere als „ideologisch“ oder „politisch“ zu bezeichnen, ist auch eine Strategie der Diskreditierung.

Bemerkenswert ist die Unentschiedenheit im Diskurs darüber, wie politisch das Fach sein soll. In den 2000er Jahren dominierte die Annahme einer Entpolitisierung des Faches und der Universitäten insgesamt. Viele beklagten nun, dass sich die Studierenden und Lehrenden kaum noch öffentlich engagieren. Im Westen Deutschlands verschwanden politisch aufgeladene Debatten, während in Ostdeutschland weiterhin geschichtspolitische Kämpfe über die Bewertung der DDR und der Transformationszeit gärten. Seit 2015 lässt sich eine Repolitisierung ausmachen, die mit Zunahme der Migration und dem Erstarken populistischer Parteien ab 2015 einherging. Einzelne Fachkollegen äußerten sich in der Presse und in Publikationen kritisch gegenüber Migration, andere wiederum betonten deren positive Seiten. Die nationalistische Instrumentalisierung von Geschichte, ob durch die AfD, Putin oder Ungarns Regierung, mobilisierte eine öffentliche Positionierung aus der Geschichtswissenschaft heraus. Durch die aktuellen Krisen ist der Handlungsdruck gewachsen, der auch Historiker*innen zu Stellungnahmen ermutigt. Dennoch ist die Geschichtswissenschaft politisch nicht derartig politisiert und polarisiert wie in den 1970/80er Jahren. Es herrscht zudem eine deutlich größere Bereitschaft zum persönlichen Austausch als früher, und der Ton ist glücklicherweise seltener verletzend scharf.

Die Antwort auf die Eingangsfrage hängt auch davon ab, was mit „politischer Geschichtsschreibung“ gemeint ist. Bezieht sie sich auf das akademische Buch und auf Fachartikel, oder gilt als „Geschichtsschreibung“ auch ein Essay, Zeitungsartikel oder kurzer Online-Text? Das Format prägt den Grad des Politischen und dessen Legitimität. Ein mit leichter Feder geschriebenes Essay-Sachbuch oder „Lektionsbücher“ (wie von Yuval Noah Harari, Timothy Snyder oder Magnus Brechtken) können eher im politischen Gewand auftreten, und ihr großer publizistischer Erfolg verrät viel über das große öffentliche Bedürfnis nach tagespolitischen Überlegungen von Historiker*innen. Politischer wurde die Geschichtswissenschaft vor allem durch den Wandel der Kommunikation seit den 2010er Jahren: Besonders auf Twitter, aber auch auf Facebook, positionieren sich viele Historiker*innen täglich politisch in der Öffentlichkeit. Dies lässt sich kaum von der Bewertung der Fachtexte trennen, die mitunter aus dem Kontext dieser Debatten entstehen.

Themen mit politischer Dimension erhöhen in der Regel die zugeschriebene Relevanz in der Öffentlichkeit und auch im Fach selbst. Dennoch ist die Geschichtswissenschaft bei Themen mit gegenwartsbezogener politischer Relevanz lange eher zurückhaltend geblieben. Zeithistorische Forschungen zur Migrationsgeschichte, sozialen Ungleichheit, zur Entwicklung der Radikalen Rechten oder zur postkolonialen Restitution blieben lange unbearbeitet. Oft waren es erst Förderformate des BMBF, die breitere Forschungen hierzu anstießen. Gerade an diesen Themen lässt sich ausmachen, dass sich die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren neu positioniert hat. Zu hoffen ist, dass hier nicht lediglich politisch normative Arbeiten entstehen, sondern differenzierte Studien, die bestehende politische Vorannahmen differenzieren oder auch einmal widerlegen.
 

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