Jugoslawien: Zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn

Feindbilder – Aufarbeitung – Versöhnung?

von
Annette Schuhmann

Die Beiträge dieses Dossiers wurden in den Jahren 2010 bis 2017 auf zeitgeschichteIonline veröffentlicht.

Im Frühsommer des Jahres 1991 begannen die jugoslawischen Kriege.

Die Folgen sind in den mittlerweile existierenden sieben Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien in allen gesellschaftlichen Bereichen spürbar.[1]
Die Gründe für die exzessive Gewalt während der Kriege, das Ausmaß und die Formen der Gräueltaten wurden in der Tagespresse der 1990er Jahre kaum analysiert. Hilflos und paralysiert zunächst, später verfangen im weltpolitischen Kompromisshandeln standen die westeuropäischen Eliten dem Krieg gegenüber. Zeithistorische Analysen des Geschehens gab es indessen von Seiten der Osteuropa-Historiker und Historikerinnen recht früh. Erinnert sei hier nur an die Arbeiten von Holm Sundhaussen oder Marie-Janine Calic.[2]
In ihren Publikationen zu den Ursachen und Konfliktstrukturen des Jugoslawien-Krieges hat Marie-Janine Calic betont, dass die „ethnischen Säuberungen“ im Verlauf des Bosnien-Krieges im Kontext der Geschichte Jugoslawiens seit dem 19. Jahrhundert erklärbar sind.[3] Der Staat Jugoslawien ging im 19. Jahrhundert aus einer Vielzahl rechtlich, kulturell und sozialökonomisch extrem disparater Regionen hervor. Die Gebiete, die den ersten jugoslawischen Staat bildeten, unterschieden sich jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer politischen, wirtschaftlichen und verwaltungsstrukturellen Verfassung – unklar war auch von Anbeginn, nach welchem Proporz die Völker des neuen Staatengebildes sich die Macht untereinander teilen sollten. Mit der Einführung einer zentralistischen Verfassung 1921 sicherten sich die serbischen Eliten eine Vorrangstellung innerhalb des Staates. Dies ermöglichte ihnen, so Holm Sundhaussen, eine „Dauermajorisierung“ der anderen Nationalitäten.[4] Die zentralisierte politische Struktur des Landes sollte Streitpunkt bleiben bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Erst der sich verschärfende Druck regionaler und nationaler Unabhängigkeitsbewegungen der Völker Jugoslawiens führte dazu, dass Partei und Staat eine Föderalisierung zuließen. In der Folge entwickelten sich regionale Machtzentren, die die Voraussetzung dafür boten, dass sich die Republiken wirtschaftlich und politisch immer weiter auseinanderentwickelten und schließlich 1989/90 den Staatsverband sprengten.
Alle Völker Jugoslawiens machten im Verlauf ihrer Geschichte in je unterschiedlicher Weise und Abfolge Erfahrungen als marginalisierte, deklassierte oder unterdrückte Ethnien im königlichen Jugoslawien oder als Opfer rassistischer Verfolgung und Vernichtung nach dem Überfall der Deutschen 1941. Vor allem diese Erfahrungen wurden in Vorbereitung und im Verlauf des Jugoslawien-Krieges zu Feindbildern ausgebaut, propagandistisch verstärkt und ausgenutzt. Diese Feindbilder waren schließlich Überzeichnungen von lang gepflegten Stereotypen. Die Vorstellung von der kulturellen und moralischen Überlegenheit des eigenen Volkes war unter allen drei Kriegsparteien verbreitet: So propagierten etwa die Serben den Mythos vom „auserwählten Volk“, suggerierte die von Alija Izetbegovic verfasste „Islamische Deklaration“ die Überlegenheit der islamischen Kultur gegenüber säkularen Ordnungsprinzipien, während die Kroaten sich selbst als die eigentlichen Repräsentanten mitteleuropäischer Kultur und Zivilisation stilisierten.[5] Zum Überlegenheitsgestus kam die Erzählung von Benachteiligung, Unterdrückung und Genozidbedrohung der einzelnen Gruppen hinzu – am stärksten verbreitet jedoch von den Serben.
Radovan Karadžic übertrug während seiner Amtszeit als Präsident der Republik Srpska das Feindbild der Osmanen auf die muslimischen Bosniaken und war neben Slobodan Miloševic einer der schärfsten Kriegstreiber der 1990er Jahre. Im Verlauf des Bosnien-Krieges wurden zwei Millionen Menschen vertrieben und ca. 250.000 getötet.

 

[2] Marie-Janine Calic, Der Krieg in Bosnien-Hercegowina. Ursachen, Konfliktstrukturen, Internationale Lösungsversuche, Frankfurt/Main 1995; Holm Sundhaussen, Nation und Nationalstaat auf dem Balkan. Konzepte und Konsequenzen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Der Balkan. Eine europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Jürgen Elvert, Stuttgart, 1997, S. 77-90.

[4] Holm Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens 1918–1980, Stuttgart 1982, S. 50.

[5] Calic, 1995, S. 50ff. und 216f.

 

„Wenn ein Deutscher eine serbische Geschichte schreibt…“[*]

von
Holm Sundhaussen

Fassen wir zusammen: Wer sich aus wissenschaftlicher Distanz mit der Geschichte südosteuropäischer Gesellschaften beschäftigt, rückt früher oder später ins Fadenkreuz nationaler Eiferer, die unermüdlich auf der Suche nach „Feinden“, „Verschwörungen“ und „Verrätern in den eigenen Reihen“ sind. "Viele meiner Landsleute waren wütend auf mich. Die Serben stellen sich immer gleich komplizierte Verschwörungen vor“, schreibt der in Belgrad geborene, seit 1953 in den USA lebende Charles Simic. „Für sie sind alle Ereignisse bloße Kulissen, hinter denen irgendwelche geheimen Absichten stecken. Dass meine Meinung, das Ergebnis schlafloser Nächte und zahlloser Gewissenqualen, von mir selber stammte, war undenkbar für sie. Es gab Andeutungen bezüglich meiner Familie, Hinweise, dass wir ihnen schon seit Jahren verdächtig waren, dass wir Fremde seien, denen es über Jahrhunderte hinweg gelungen sei, als Serben durchzugehen."[1]

Die serbischen Eiferer sind nicht allein. Sie haben Gesinnungsgenossen in Albanien, Bulgarien oder Griechenland ebenso wie in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien sowie außerhalb der Region.[2] Im Juni 2008 erhielt ich von einem 29jährigen Kroaten, der Geschichte, Geographie und Pädagogik im Lehramt studiert, eine Email. Darin hieß es: „Als Kroate, Historiker und an wissenschaftlichen Werken interessierter Mensch verfolge ich seit geraumer Zeit einiger Ihrer neuen und auch älteren Publikationen. Soeben habe ich mir Ihre Rezension über Josip Jurčevićs Werk durchgelesen.[3] Selbst als Nicht-Kroate muss man sich nach dem Durchlesen Ihrer Beiträge fragen: Woher stammt diese verbissene antikroatische Haltung und dieser, ja man [kann] ruhig offen sagen: Hass gegenüber dem ehemaligen kroatischen Staatsmann Franjo Tudjman? Wo lieg[en] die Wurzeln? Es ist für mich offensichtlich, dass ein Geschichtsprofessor (!), der das gesamte Gefüge des politischen Handelns eines Staatsmannes nicht begriffen hat, stattdessen aber einzelne Fehltritte, die es zweifelsohne gegeben hat, ins Unermessliche hochputscht, überfordert ist mit der Komplexität der neueren kroatischen Geschichte und deren Akteuren. (…) Man könnte etwa mit Maria Todorovas Werk ‚Die Erfindung des Balkans: Europas bequemes Vorurteil’ anfangen. Wir Kroaten haben es satt, von den westlichen Medien und Institutionen (zu einer von diesen gehören auch Sie und begründen Ihre Mitgliedschaft mit Ihren Publikationen immer wieder aufs Neue) und von den ‚jugoslawischen Kroaten’ in [den] politische[n], kulturelle[n] und geographische[n] Balkan gedrängt zu werden! Denn mit dem Versuch der Balkanisierung, somit dem Versuch der Verschmelzung Kroatiens mit den östlichen Nachbarn, hat das schlimmste Übel für die Kroaten im Wesentlichsten angefangen.“

Acht Monate später erreichte mich die Email eines deutschen Diplomingenieurs, der seit mehreren Jahren in Serbien lebt und mit einer Serbin verheiratet ist. Er schreibt: „Die Kritik über Ihr o.g. Buch [Geschichte Serbiens vom 19. bis 21. Jahrhundert] im serbischen Politmagazin NIN[4] hat mir im wahrsten Sinne erspart, es zu lesen. Aus der Kritik wird wieder einmal deutlich, dass Deutsche kein gutes Bild von Serben haben. Warum ist das so? Haben die Deutschen Angst vor den Serben oder vielleicht Sie persönlich? (…) Woher nun dieser ‚Serbenhass’, wobei die Aggression nur von deutscher Seite ausgeht? (Kein serbischer Soldat hat im 20. Jahrhundert einen Fuß auf deutsches Territorium gesetzt). Für mich ist das komplett unverständlich und irrational. Ich kann mich für die deutsche Sicht eigentlich nur schämen.“ Wenige Tage danach veröffentlichte ein gewisser Dragomir Andjelković in der Zeitschrift „Nova srpska politička misao“ nachstehenden Kommentar: „Darüber dass die Deutschen, zumindest im Bereich der geistigen Entlastung, zu den größten Profiteuren  der medialen Satanisierung der Serben gehören, erinnerte mich ein Buch. Es handelt sich um die ‚Geschichte Serbiens vom 19. bis 21. Jahrhundert’ des deutschen Historikers…Holm Sundhaussen. (…) Die Serben werden dargestellt als Leute, denen das Schicksal die Rolle von Parias zugewiesen hat, und die Deutschen können sich trösten, denn sie mussten das nur für kurze Zeit sein. Das von diesem Geist durchdrungene Buch, das in seiner Funktion als Propaganda und (wahrscheinlich auch aus Nichtwissen) voller materieller Fehler und Missbräuche der Vergangenheit steckt, wurde in die serbische Sprache übersetzt dank Unterstützung des deutschen und österreichischen Außenministeriums. Wahrscheinlich damit auch wir fühlen, wie den Deutschen zumute war, als sie zum Zweck der Indoktrination mit fremden und – Hand aufs Herz – ebenso bösartigen Deutungen ihrer Vergangenheit bombardiert wurden. Und außerdem damit auch unsere nationalen Masochisten eine kultisch-historische Lektüre bekommen. Damit sie sich selbst zusätzlich bestärken in der Überzeugung, dass ihr Volk das schlechteste auf der Welt ist, und damit sie diese Überzeugung, wo immer dies möglich ist, unter ihren Landsleuten verbreiten (wobei ihnen sicher verschiedene Stiftungen helfen werden).“[5]      

Das Buch, von dem hier die Rede ist, erschien Ende Januar 2009 in serbischer Übersetzung beim Clio-Verlag in Belgrad.[6] Es stellt den Versuch einer Synthese der Geschichte Serbiens von den beiden serbischen Aufständen gegen die osmanische Herrschaft bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts dar, behandelt also einen Zeitraum von zweihundert Jahren. Die Synthese beschränkt sich nicht auf die relativ gut erforschte Politikgeschichte, sondern bezieht die Gesellschaftsgeschichte, die Wirtschaftsgeschichte und Kulturgeschichte mit ein, wo jeweils noch viele Forschungslücken bestehen. Angesichts einer immer stärker ausdifferenzierten, spezialisierten und unübersichtlichen Forschung war es mein Ziel, die verschiedenen, häufig wechselseitig isolierten Stränge miteinander zu verknüpfen. Gesamtdarstellungen dieser Art gibt es bisher kaum, auch wenn ein Diskussionsteilnehmer in Belgrad behauptet hat, dass Ausländer bereits 2500 Geschichten der Serben geschrieben hätten![7] Mein Werk stützt sich sowohl auf eigene Forschungen während der letzten vier Jahrzehnte als auch zu wesentlichen Teilen auf das, was andere Kolleginnen und Kollegen in Studien zu einzelnen Zeitabschnitten oder einzelnen Themen erarbeitet haben. Bei einem Unternehmen dieser Art sind Fehler unvermeidbar, da man nicht alles, was bereits untersucht wurde, selber noch einmal überprüfen kann. Bei Fehlern sollte man jedoch unterscheiden zwischen Fehlern, die faktographische Details betreffen und keinerlei Auswirkungen auf die Argumentation haben,[8] und „Fehlern“, die die Komposition und Synthese insgesamt berühren. Bei letzteren lässt sich oft schwer oder gar nicht entscheiden, ob es sich um empirisch falsifizierbare Fehler oder um unterschiedliche Sichtweisen bzw. Interpretationen von Autor und Leser handelt. 

Ein Buch ist ein Text. Und wie jeder Text, kann auch dieses Buch aus unterschiedlichen Blickwinkeln gelesen werden. Je nach Perspektive des Lesers stellt sich der Inhalt etwas anders dar. Diejenigen, die sich über das Buch empören – unabhängig davon, ob sie es gelesen haben oder nicht – übersehen in der Regel einen Aspekt, der für mich zentral war. Ich spreche nie von „den“ Serben. Ich spreche von der serbischen Nation, denn das 19. und 20. Jahrhundert stand europa- und weltweit im Zeichen von Nationen und Nationalstaaten. Ich spreche von der Gesellschaft und ich spreche von einzelnen Akteuren – von Politikern, Intellektuellen u.a. - und von gesellschaftlichen Gruppierungen, - von ihren Zielsetzungen und Entscheidungen. Aber ich spreche nie von „den“ Serben. Wiederholt habe ich betont, dass das, was in Serbien im 19. und 20. Jahrhundert geschehen ist, in ähnlicher Form auch in anderen Teilen Europas und der Welt hätte geschehen können; und tatsächlich auch geschehen ist. Und da ich nicht von „den“ Serben spreche, weise ich ihnen auch keine kollektiven Eigenschaften (wie böse, gewalttätig, Parias der Geschichte o.ä.) zu. Keiner der Kommentatoren, die mir derartige Etikettierungen unterstellen, hat eine Textstelle als Beleg angeführt. Das wäre auch unmöglich. Wenn jemand dennoch bei dieser Unterstellung bleibt, ist dies ein eindeutiger Beleg dafür, dass er/sie das Buch nicht gelesen hat. Ich betrachte die Geschichte Serbiens als Beispiel, als eine der vielen Varianten europäischer Geschichte während der letzten beiden Jahrhunderte. Mein Ziel war es, die Geschichte zu entnationalisieren. Das ist schwierig für eine Periode, in der die Nation als Ein-und- Alles galt (und gilt). Und es mag als Widerspruch erscheinen, über das Zeitalter der Nationen zu schreiben und gleichzeitig die Geschichte entnationalisieren zu wollen. Aber das Eine (der Untersuchungsgegenstand) hat mit dem Anderen (der Herangehensweise) nichts zu tun.  

Obwohl bisher offenbar nur Wenige die serbische Übersetzung des Buches gelesen haben, hat das Werk eine Fülle von Kommentaren in den Medien und insbesondere im Internet ausgelöst. Die meisten der Kommentatoren im Internet, bei denen es sich in der Regel nicht um Historiker handelt, kennen das Buch nicht und erklären mitunter offen, dass sie es auch nicht kennen lernen wollen. Dennoch glauben sie zu wissen, was im Buch steht. Andere, darunter auch Historiker, haben das Werk anscheinend nur ausschnittsweise gelesen, da sie mir Behauptungen unterstellen, die meiner Argumentation regelrecht widersprechen. Oder weil sie angebliche Auslassungen kritisieren, welche sie vielleicht nicht an den Stellen gefunden haben, wo sie sie vermutet hätten, die aber in der Darstellung enthalten sind.[9] Einig sind sich viele Historiker und Nicht-Historiker darin, dass das Buch voller Vorurteile und Stereotypen stecke. Darauf komme ich gleich noch einmal zurück. Was mich im Augenblick mehr interessiert, sind einige Grundsatzfragen, die in den Diskussionsforen immer wieder auftauchen. Dabei handelt es sich meistens (aber nicht ausschließlich) um Argumente von Nicht-Historikern, von Leuten, die sich für Geschichte interessieren, sich aber nicht professionell mit ihr beschäftigen. Und da wir nicht nur für Kolleginnen und Kollegen, sondern auch für ein breiteres Publikum schreiben, muss man diese Argumente Ernst nehmen.

Ein auffallend häufig wiederkehrendes Argument lautet: Ein „Fremder“, ein Ausländer kennt „uns“ und „unsere“ Geschichte nicht und kann „uns“ nicht verstehen. Viele auswärtige Kolleginnen und Kollegen sind mit solchen Aussagen konfrontiert worden. „’You don’t know our history.’ I don’t know how many times I heard this remark“, schreibt der niederländische Anthropologe Mattiijs van de Port in seinem Aufsatz “’It Takes a Serb to Know a Serb’: Uncovering the roots of obstinate otherness in Serbia”.[10] “’You don’t know our history.’ (…) Sometimes it was whispered with fatigue, sometimes hurled at me in a querulous tone of voice. (…) ‘You don’t know our history’ was not an encouragement to intensify my studies. Quite the reverse. Underneath the polite applause that lauded my efforts to study the Serbs I often discerned resentment about my interest in Serbian language, culture, history. ‘You don’t know our history’ was, above all, a statement of fact. Don’t bother, is what the phrase seemed to imply, you’re not going to find it out…”

Aber warum nicht? Warum kann ein Amerikaner, ein Pole oder ein Franzose keine Geschichte der Deutschen oder ein Deutscher keine Geschichte der Griechen oder Serben schreiben und verstehen? Diese Frage wird nie gestellt. Und da sie nicht gestellt wird, muss sie auch nicht beantwortet werden. Aber die Frage ist wichtig und verdient eine Antwort. In anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist Internationalität längst eine Selbstverständlichkeit. Niemand käme auf die Idee zu sagen, ein chinesischer Herzspezialist kann das Herz eines Italieners nicht verstehen. Die große Ausnahme von der Regel ist die Geschichte. Und das ist ihr Hauptproblem. Geschichte gilt vielerorts nach wie vor als nationale Veranstaltung, die mehr einem Gottesdienst als einer Wissenschaft ähnelt. Im sozialistischen Jugoslawien wurde diese Auffassung zum wissenschaftspolitischen Dogma erhoben. Die historischen Institute in den verschiedenen Republiken sollten/durften sich nur mit der Geschichte der betreffenden Republik beschäftigen. Das Nicht-Verstehen-Können (oder: das Nicht-Verstehen-Wollen?) wurde zur  Norm erhoben.

Aber warum kann ein „Fremder“ „unsere“ Geschichte nicht verstehen? Sieht man von denjenigen ab, die aus dem vermeintlichen Nichtverstandenwerdenkönnen einen Kult machen und beschränkt sich auf die, die sich unverstanden fühlen, aber verstanden werden wollen, so bieten sich mehrere Antworten an. Erstens: Der Mangel an Informationen bzw. an Wissen. Viele der Internet-Kommentatoren, die mit dem Argument des Nicht-Verstehen-Könnens operieren, gehen von der Annahme aus, dass diejenigen, die in einem bestimmten Land aufgewachsen sind und dort leben, dieses Land, seine Menschen und seine Geschichte am besten kennen, - besser als dies ein „Fremder“ jemals könnte. Aber ist das so? Zahllose Umfragen in vielen Ländern der Welt belegen das Gelegenteil. Die Kenntnisse über das eigene Land, die eigene Gesellschaft oder die eigene Geschichte sind oft erschreckend gering. Die Tatsache, dass ich in einem bestimmten Land lebe, macht mich nicht automatisch zum Experten für dieses Land und seine Geschichte. Die Expertise muss in jedem Fall erarbeitet werden, egal ob es sich dabei um „unsere“ Leute oder um „Fremde“ handelt. Aber allgemein gilt: Wissenslücken lassen sich schließen und sind kein grundsätzliches Verständigungshindernis. Der zweite mögliche Grund für das Nicht-Verstehen ist die Nähe oder Distanz eines Autors zu „unserer“ Geschichte. Wer sich mit unserer Geschichte gänzlich oder weitgehend identifiziert, nimmt zwangsläufigerweise eine andere Perspektive ein als derjenige, der unsere Geschichte aus großer Distanz betrachtet. Im ersten Fall besteht die Gefahr, dass der Kontext, das Umfeld unserer Geschichte, aus dem Blickfeld gerät oder (sehr viel öfter) dass die Umwelt zwar wahrgenommen, aber nur auf uns zentriert wahrgenommen und damit zum bloßen Annex unserer Geschichte wird. Im zweiten Fall – bei größtmöglicher Distanz – besteht die Gefahr, dass unsere Geschichte weitgehend an den Rand gedrängt und zum bloßen Annex der Umwelt wird. Beide Varianten sind problematisch: Wer sich mit dem Gegenstand seiner Betrachtung völlig oder weitgehend identifiziert, kann keine wissenschaftliche Arbeit abliefern. Wer seinem Gegenstand völlig fern ist, kann es ebenfalls nicht. Mit anderen Worten: Es geht immer um eine Halbnähe oder Halbdistanz. Wie diese konkret aussehen kann oder soll, lässt sich in allgemeiner Form nicht beantworten, sondern hängt vom jeweiligen Thema und der jeweiligen Fragestellung ab. Die Frage nach Nähe oder Distanz stellt sich nicht nur in räumlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht. Viele Nicht-Historiker wie Historiker sind der Auffassung, dass eine bestimmte zeitliche Distanz zum Untersuchungsgegenstand gegeben sein muss. Das Für und Wider will ich jetzt nicht erörtern. Bemerkenswert aber ist, dass viele derjenigen, die für eine zeitliche Distanz plädieren und diese für unverzichtbar halten (z.B. wenn es um die postjugoslawischen Kriege der 1990er Jahre geht), eine räumliche Distanz (also die Distanz gegenüber uns und unserer Geschichte) als Problem empfinden. Im ersten Fall ist Distanz gut, im zweiten Fall ist sie schlecht. Noch problematischer wird die Angelegenheit, wenn zeitliche Distanz mit räumlicher Nähe gekoppelt ist. Kann ich die Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland, in der Weimarer Republik oder im nationalsozialistischen Deutschland besser verstehen, weil der zeitliche Abstand gegeben ist und ich eine deutsche Staatsbürgerschaft besitze oder deutscher Abstammung bin? Davon kann keine Rede sein. Die Deutschen im wilhelminischen Kaiserreich oder zur Zeit des Nationalsozialismus sind mir fremder als die Franzosen heute. Erst die Geschichtswissenschaft eröffnet mir eine Möglichkeit des Verstehens, wobei es belanglos ist, ob der Autor Amerikaner, Engländer oder Deutscher ist.

Der dritte Grund für das tatsächliche oder vermeintliche Nicht-Verstehen von „otherness“ sind unterschiedliche Erfahrungshorizonte. In Reflexion über seine Feldforschungen in Novi Sad schreibt der eben erwähnte van de Port: „Faced with the magnitude of suffering und cruelty that the Novosadjani have had to incorporate in their worldview – for the bitter irony is that victims and perpetrators of savagery are united in their knowledge of the dark side of humankind - the insistence on being other becomes more than the mere chauvinism of the nationalist. After Kiš and Tišma, after Vukovar, Sarajevo, Mostar and Krajina, the peevishness with which my interlocutors rejected the possibility of intercultural dialogue and understanding takes on another dimension. In it one may descry the voice of experiences untold, tragedies unaccounted for; a voice that marks a void, a missing page in history, a blind spot in the programme of civilization.”[11] Es ist unbestreitbar, dass das Leid, das andere Menschen erfahren haben, allenfalls näherungsweise nachempfunden werden kann. Das gilt für individuelles wie kollektives Leid; und es gilt für Menschen in der Wojwodina und den übrigen Gebieten des früheren Jugoslawien ebenso wie für Menschen in allen anderen Teilen der Welt. Die Binnenperspektive der Selbsterfahrung und die Außenperspektive des Beobachtens stoßen hart, oft (scheinbar) unversöhnlich aufeinander. Erlittenes und analysiertes Leid lassen sich nie ganz zur Deckung bringen. Das ist aber auch nicht erforderlich. Ein Historiker, ein Genocidforscher oder ein Psychotherapeut müssen nicht die Schrecken selbst erlebt haben, mit denen sie sich beschäftigen. Anderenfalls wäre das nicht nur das Ende mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen und das Ende jeden interkulturellen Dialogs, es wäre auch das Ende aller Versuche, über leidvolle Erfahrungen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen den Generationen zu kommunizieren. Das Ergebnis wäre die Bewahrung der „missing page in history“, die Konservierung einer Welt des Schweigens oder der Selbstdialoge, - einer Welt, die auch Kiš, Tišma und andere nicht durchbrechen könnten. Untersucht man dagegen die Evolution einer Binnenperspektive, so erschließt sich eine Vielzahl intersubjektiv kommunizierbarer Elemente, mit denen der vermeintliche Gegensatz zwischen Binnen- und Außenperspektive überwunden werden kann.  

Der vierte und wichtigste Grund für das Nicht-Verstehen ist weitgehend unabhängig von der Fülle bzw. dem Mangel an Informationen und Wissen. Vielmehr geht es um Deutungen, Emotionen, Erfahrungen und Vorannahmen („Vorurteile“), - um Vorannahmen darüber, was richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht, wahr oder unwahr ist. Bevor ich darauf näher eingehe, will ich in Erinnerung rufen, dass „Verstehen“ eine doppelte Bedeutung hat, die ihrerseits wieder mit Nähe und Distanz zu tun hat. „Verstehen“ kann einerseits bedeuten, dass man eine Erklärung dafür sucht, warum sich ein Mensch oder eine Gesellschaft so verhält, wie sie sich verhält, ohne dass man sich die Motive zu Eigen macht. Andererseits verbinden Viele mit „Verstehen“ die Erwartung, dass sich der „Andere“ mit „unseren“ Handlungsweisen und „unseren“ Motiven identifiziert. Und zumeist ist es dieses zweite Verständnis von „Verstehen“, das zu Missverständnissen führt.

Der Kern dieses Missverständnisses sind fast immer unterschiedliche Wertvorstellungen und Wertsysteme. Zwar gibt es Werte, die zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften geschätzt wurden, z.B. Verlässlichkeit und Ehrlichkeit. Auch Gerechtigkeit ist ein alter universaler Wert, der jedoch – anders als Verlässlichkeit und Ehrlichkeit – sehr unterschiedlich konkretisiert und interpretiert wird. Was in einer Gesellschaft als gerecht gilt, kann in einer anderen Gesellschaft als ungerecht gelten. Entscheidend sind jeweils die Prämissen und der soziokulturelle Kontext. Deshalb gehe ich von einem kultursoziologischen Wertbegriff aus, in dem Werte als „gesellschaftlich verbindliche Orientierungsmuster“ gesehen werden, als „verpflichtende Leitideen“, die den Verhaltensweisen und Zielsetzungen einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder Sinn geben sollen. Diese übergeordneten Wertorientierungen sind für die Schaffung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des Handelns in doppelter Hinsicht konstitutiv: Sie stiften Identität und bilden das Fundament gesellschaftlicher Kohäsion.

Werte stehen als organisierendes und Richtung weisendes Prinzip über Wünschen und zweckorientierten Präferenzen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch sich an sie binden lässt, ohne sich dabei unfrei zu fühlen. Erst durch diese Bindung erhält der Mensch seine Orientierung und kann in seinem sozialen Umfeld (und zwar in Übereinstimmung mit diesem Umfeld) zielgerichtet agieren. Damit rücken Werte in die Nähe von religiösen Überzeugungen. Es kommt eine stark affektive, an die Grundfesten unserer Identität rührende Dimension ins Spiel. Das bedeutet nicht, dass Werte irrational sind, aber sie leiten sich immer von historisch gewachsenen Vorannahmen oder Prämissen ab, die nicht richtig oder falsch, nicht beweisbar oder widerlegbar sind. Hier stößt das Verstehen tatsächlich an seine Grenzen. Aber außer dem Entweder-Oder (richtig oder falsch) gibt es noch eine dritte Variante. Werte können trotz Differenzierungen im Detail über den Rahmen der eigenen Gruppe hinaus anschlussfähig sein. Oder sie sind es nicht. Wenn z.B. über die Gemeinsamkeit „europäischer Werte“ diskutiert wird, - eine Gemeinsamkeit, die bislang nicht existiert, sondern im Entstehen ist – kann es sich logischerweise nur um Werte handeln, die über den Rahmen einer einzelnen Nation/Gesellschaft hinaus anschlussfähigsind. Sie müssen nicht identisch sein, aber die Unterschiede müssen kompatibel sein und es muss eine große Schnittmenge geben. Sonst gibt es keine gemeinsamen Werte. Ob wir eine offene oder geschlossene, eine homogene oder heterogene, eine religiöse oder säkularisierte Gesellschaft favorisieren, hängt von unseren Wertvorstellungen ab. Diese bilden das Fundament des Organisationsprinzips (des „frames“), mit dessen Hilfe wir Ereignisse auswählen, ordnen bzw. kategorisieren und interpretieren. Und dies hat auch Konsequenzen für die Geschichtsschreibung. Wer Nation und Staat, Volk und Vaterland  als oberste Werte versteht (etwa nach dem Motto „Recht oder Unrecht – mein Vaterland“), schreibt eine andere Geschichte der Nation als derjenige, der die Gesellschaft, die Menschen und die Menschenrechte in den Mittelpunkt rückt und die Nation als eine von vielen, dem historischen Wandel unterworfenen Formen sozialer Organisation versteht. Was für Nationen gut sein mag, muss nicht für die Menschen gut sein. Und was für Menschen gut ist, muss nicht für Nationen gut sein. In weiten Teilen Europas hat sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Verständnis der Nation als exklusive ethnische Gemeinschaft durchgesetzt. Millionen und Abermillionen Menschen haben diese Entscheidung mit Flucht, Vertreibung und Tod bezahlt. Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss die Frage erlaubt sein, ob dies der richtige Weg für Europa und seine Subregionen war. Ein junger Belgrader Kollege, Miloš Ković, hat mir in einem Interview vorgeworfen, dass meine „Geschichte Serbiens“ zu viele Werturteile enthalte.[12] Das mag sein. Zwar sagt Ković es nicht offen, aber er suggeriert mit seiner Kritik, dass seine eigenen Arbeiten weitgehend wertfrei oder wertneutral bzw. objektiv sind. Aber ist das so? Und gibt es das überhaupt? Viele Kognitionswissenschaftler und Soziologen bezweifeln dies, und zwar mit triftigen Argumenten.

Was Werte und Nationen gemeinsam haben, ist ihre starke emotionale Bindekraft. Gefühle bzw. Emotionen waren lange Zeit kein Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Dieses Feld blieb den Schriftstellern und Psychologen vorbehalten. Seit einiger Zeit hat sich dies geändert. Die Repräsentation des Nationalen in Ritualen, Symbolen und Mythen rückte den Zusammenhang von Nation und Emotion ins Blickfeld.[13] Dabei ging es um die Frage, wie in Ritualen, Kulten und Mythen nationale Emotionen erzeugt und ausgelebt, verstärkt, und ausgerichtet werden. Untersucht wurde, wie nationale Emotionen in den einzelnen Ländern kodiert, vorhandene Emotionsregeln sozial und kulturell umdefiniert und auf das politische Werte- und Herrschaftssystem ausgerichtet wurden. Und schließlich ging es darum zu zeigen, wie „Geschichte“ (oder sagen wir korrekter: wie Vergangenheit) in Gestalt von Mythen, Vergangenheitsbildern und Erinnerungen bei der Interpretation, Definition und Steuerung von Emotionen – etwa von Liebe, Schuld und Trauer – mitwirkte oder wie das Nationalgefühl funktioniert, jene komplexe Mischung aus kognitiven und emotionalen, kollektiven und individuellen, formellen und informellen Rollen und Erwartungen. Untersucht wurden Liebe und Hass, die auch im vormodernen und vornationalen Zeitalter kulturell und sozial geregelt waren, im Zuge der Nationsbildung bzw. im Zeitalter des Nationalismus aber eine andere Richtung, Intensität und Einfärbung erhielten. Und schließlich geht es um Emotionen oder emotionale Stile, die den Beteiligten als nationsspezifisch gelten, sich aber schwer oder nur indirekt mit den tatsächlichen oder vermeintlichen „Besonderheiten“ der Nation als politisch verfasster Gesellschaft erklären lassen. 

Damit bin ich schon bei einem nächsten Punkt, der für das (Nicht)Verstehen von Bedeutung ist: bei der Besonderheit von Nationen. Nationen – wie viele andere Gruppen – neigen dazu, sich mit einer Aura des Besonderen zu umgeben. Diese Aura dient der Abgrenzung nach Außen und der Integration nach Innen. Gruppen brauchen dies, um eine kollektive Identität entwickeln zu können. Dasselbe gilt für Individuen. Auch sie brauchen die Abgrenzung nach Außen, um eine eigene Identität aufbauen zu können. Das ist aber schon deshalb schwierig, weil sich alle Menschen zu 95% oder mehr gleich sind: Überall auf der Welt und zu allen Zeiten. Soweit wir es historisch rekonstruieren können, hat sich der Mensch in den letzten zweitausend Jahren (vermutlich aber sehr viel länger) nicht grundlegend in seinen Verhaltensweisen geändert. Er ist weder besser noch schlechter, weder klüger noch dümmer geworden. Was sich verändert hat, sind die Wissensbestände, d.h. der Korpus an Wissen, der sich heute erheblich vom Korpus des Wissens im 19. oder im 16. Jahrhundert unterscheidet. Wir wissen heute nicht unbedingt mehr, aber wir wissen Anderes. Während Wissen einem sehr dynamischen Wandel unterliegt, verändern sich Mentalitäten vergleichsweise langsam,  und auch die während eines Menschenlebens gesammelten Erfahrungen lassen sich nur in begrenztem Umfang von Generation zu Generation weitergegeben. Jede Generation durchläuft ihre eigenen Lernprozesse. Gleichwohl ist der Umgang mit grundlegenden Aktionen und Reaktionen des Menschen (wie Liebe, Hass usw.) kultur- oder zivilisationsabhängig bzw. wird soziokulturell vermittelt. Die anthropologischen Dispositionen werden dadurch nicht aufgehoben, lassen sich aber sozial und kulturell steuern, sofern allseits akzeptierte und fest verankerte Institutionen vorhanden sind, die den Steuerungsprozess lenken.

Wenn die Menschen sich zu 95 oder 98% gleich sind und sich im Laufe der Jahrhunderte nicht wesentlich verändert haben, dann kommt den „kleinen Unterschieden“ eine umso größere Bedeutung zu. Das gilt für Individuen ebenso wie für Gruppen (z.B. Nationen). Alle Menschen wie alle Nationen sind tatsächlich etwas Besonderes. Das Besondere besteht darin, dass sie alle gleich sind – mit geringen Unterschieden. Im Jahr 2001 erschien in Deutschland ein Sammelband, dessen Titel aufschlussreich ist. Er lautet „’Gottes auserwählte Völker’“.[14] Natürlich wurden dort nicht alle Völker behandelt, denn das hätte den Umfang des Bandes gesprengt. Alle Völker sind irgendwie „auserwählt“. Deshalb ist es richtig zu sagen, dass alle Menschen und alle Nationen einzigartig und besonders sind. Aber daraus ergibt sich ein neues Problem. Niemand möchte „exotisiert“ werden, aber etwas Besonderes wollen wir alle sein. Und ein gewisses Maß an Mystifizierung ist dabei auch im Spiel. Das ist zunächst noch kein Problem. Zum Problem wird es erst dann, wenn ein Individuum oder eine Gruppe behauptet, dass nur er bzw. sie einzigartig ist oder dass die anderen zwar vielleicht auch einzigartig sind, aber einzigartig böse, während „wir“ einzigartig gut sind.

Das Einzigartige oder das einzigartig Gute findet seinen Niederschlag in Mythen. Mythen sind holistische Erzählungen, die Sinn stiften sollen und stehen in enger Beziehung zu den Werten, von denen bereits die Rede war. Mythen sind kulturelle Artefakte. Und sie sind wunderbar. Die antiken griechischen Mythen sind ein Kulturgut, auf das niemand verzichten möchte. Allerdings sind sie keine nationalen Mythen. Und darin liegt ihre Bedeutung. Viele andere Mythen waren zunächst ebenfalls nicht national, wurden aber im Zuge der Nationsbildung „nationalisiert“. Ich wähle ein beliebiges Beispiel:

Vor genau 2000 Jahren, im Jahre 9 unserer Zeitrechnung, fand eine berühmte Schlacht statt. Es regnete angeblich, und die Sicht war schlecht. Wir wissen nicht viel über die Einzelheiten der Schlacht und erst recht nicht, ob es regnete oder nicht regnete. Wir wissen nicht einmal genau, wo sie stattfand. Aber wir wissen, dass sie stattfand; wir wissen zumindest näherungsweise, wo sie stattfand, und wir kennen das Ergebnis der Schlacht. Verlierer war der römische Feldherr Varus, Gewinner war Arminius (der später den historisch nicht belegten germanischen Namen „Hermann“ erhielt), „der Mann, der Deutschland erfand“ (wie eine Zeitung dieser Tage aus Anlass der zweitausendsten Wiederkehr des Ereignisses titelte). Der Historiker Theodor Mommsen sprach von einem „Wendepunkt europäischer Geschichte“, und der Leiter des Historischen Museums in Berlin nennt die Schlacht einen „Urknall“. Mit dem Sieg von Arminius bzw. „Hermann des Cheruskers“ kam die römische Expansion westlich des Rheins zum Erliegen, und die dort lebenden Germanenstämme kamen nicht unter römische „Fremdherrschaft“. War das gut oder schlecht? War die „Schlacht im Teutoburger Wald“ ein „germanischer“ (oder gar ein „deutscher“) „Volksaufstand“, ein „Befreiungskrieg“? Mitnichten. Der Sieg des Arminius war Resultat eines Zweckbündnisses zwischen den stets zerstrittenen germanischen Stämmen. „Hermann“ selber wurde später von seinen Verwandten ermordet. Vielleicht war sein militärischer Erfolg aber der Grund dafür, warum die Deutschen heute keine romanische, sondern eine germanische Sprache sprechen. Doch das ist reine Spekulation. Denn es gab auch Germanen unter römischer Herrschaft: in Köln, Mainz, Regensburg oder im heutigen Österreich, die dennoch keine Lateiner wurden. Andererseits war Latein auch im deutschsprachigen Raum weit über das Mittelalter hinaus die Sprache der Gelehrten, obwohl sich schließlich Deutsch als Volkssprache durchsetzte. Und last but not least: sind die heutigen Deutschen tatsächlich die Nachfahren Hermann des Cheruskers und seiner Gefolgsleute? Wir wissen es nicht. Und angesichts einer bewegten Migrationsgeschichte sind erhebliche Zweifel angemeldet. Aber ist das überhaupt wichtig? Für die Nationsbildner war es wichtig. Daher machten sie aus der „Schlacht im Teutoburger Wald“ einen nationalen Mythos. „Hermann“ war übrigens zunächst ein Gefolgsmann seines späteren Gegners Varus gewesen, dessen Kopf er abtrennen ließ, nachdem dieser sich in der Schlacht selbst getötet hatte. Arminius war verheiratet mit der sprichwörtlichen Thusnelda, die ihn gegen den Willen ihres römerfreundlichen Vaters geheiratet hatte. Thusnelda wurde später von ihrem Vater an die Römer verraten und als Geisel ausgeliefert. Das ist der tragische Stoff, aus dem Mythen gemacht sind.

Vergleicht man die Mythen der heutigen Nationen miteinander, so sind sie sich – bei allen Unterschieden im „dress up“ – verblüffend ähnlich. Auch die in den Mythen enthaltenen Botschaften von Ehre, Freiheit, Heldentum, Verrat usw. – ähneln sich oft bis aufs Haar. 1998 wurde im Deutschen Historischen Museum in Berlin eine Ausstellung gezeigt unter dem Titel: „Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama“.[15] Darin wurde wohl zum ersten Mal der Versuch unternommen, 18 Nationen gemeinsam zu betrachten. Es waren also nicht alle europäischen Nationen vertreten (auch die serbischen fehlte), aber doch eine beträchtliche Auswahl. Und beinahe alle Nationen legten sich im 19. Jahrhundert Begründungen für ihre Existenz zurecht, die überall und immer wieder mit großem Pathos zitiert werden, wie Freiheit, Glaube, Ursprung. Im Mittelpunkt der nationalen „Erinnerungen“ des 19. Jahrhunderts stehen ohne Zweifel Kriege. Die Beschreibung von glorreichen Siegen oder blutigen Niederlagen kennt kaum Grenzen. Die meisten Erzählungen, die oft über Generationen hinweg mündlich weitergegeben worden waren, bevor sie zu nationalen Mythen avancierten, haben einen historischen Kern, d.h. sie beziehen sich auf Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben. Aber die Art und Weise, wie diese erzählt werden, hat mit Geschichte wenig zu tun. Wie gesagt; Mythen sind ein wertvolles Kulturgut. Sie sind aber kein Ersatz für Geschichtswissenschaft. Und schließlich können Mythen politisch instrumentalisiert werden, was immer und immer wieder geschehen ist. An sich ist das kein Problem, denn Mythen können sowohl konstruktiv wie destruktiv gebraucht werden. Ihre Aussagen sind variabel und vielseitig einsetzbar. Deshalb sind nicht die Mythen per se problematisch – und das gilt auch für den serbischen Kosovo-Mythos -, sondern die Art und Weise, in der sie in bestimmten Situationen benutzt werden.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Frage der Einzigartigkeit, denn diese Frage ist für die Geschichtswissenschaft und für das Verstehen zentral. Geschichte ist lange Zeit begriffen worden als eine Kette von einzigartigen Ereignissen. Das bedeutet, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Jedes Ereignis ist neu und kehrt in dieser Form nie wieder. Umstritten war und ist, ob diese Kette von Ereignissen zielgerichtet ist oder nicht. Karl Marx und viele seiner Gegner gingen bekanntlich davon aus, dass die Geschichte ein Ziel hat. Andere bezweifeln das. Wiederum handelt es sich um eine Frage, die mit wissenschaftlichen Methoden nicht beantwortet werden kann. Es ist jedem freigestellt, an ein Ziel zu glauben oder nicht. Aber es geht nicht nur um eine Glaubensfrage, sondern es geht auch um die Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann. Wenn Geschichte eine Abfolge von Einzigartigkeiten ist, kann man daraus nichts lernen, jedenfalls nichts für Gegenwart oder Zukunft. Aber besteht die Geschichte tatsächlich nur aus Unwiederholbarem? Darüber ist lange gestritten worden. Und der Streit flammt immer wieder von neuem auf. Mir erscheint es realistisch zu unterscheiden zwischen einem konkreten Ereignis, das in der Tat einzigartig oder fast immer einzigartig ist, und den Gründen, Motiven, Handlungsweisen und Strukturen, die zu dem Ereignis geführt haben. Und wenn sich alle Menschen annähernd gleich sind und sich in den letzten Jahrtausenden nicht wesentlich verändert haben, dann sind die Hintergründe einzigartiger Ereignisse alles andere als einzigartig. Mit anderen Worten: Jedes Ereignis hat spezifische Aspekte, die aus der unterschiedlichen Mischung oder Kombination allgemeiner und/oder kontingenter Elemente bestehen und die in ihrer jeweiligen Mischung in der Regel einzigartig sind und sich nicht wiederholen. Was sich dagegen oft wiederholt, sind die menschlichen Aktions- und Reaktionsweisen, sofern sie nicht „zivilisiert“ wurden, und die daraus resultierenden Kräftekonstellationen und Allianzen. Und wenn dies richtig ist, dann kann man aus der Geschichte auch lernen. Aufgabe der Historiker ist es – sofern sie eine gesellschaftlich sinnvolle Aufgabe wahrnehmen wollen -, diesen Lernprozess zu fördern. 

Wählen wir auch hier ein beliebiges Beispiel. Die Geschichte der Menschheit ist voller Kriege und Gewalt. Das ist ein gewaltiges Thema für sich, das ich hier nur andeuten kann. Jede Form von Massengewalt – wie z.B. Völkermord – ist einzigartig. Aber die Täter oder Exekuteure von Massengewalt sind keineswegs einzigartig. Andersherum formuliert: Jeder Massenmord wie jedes andere von Menschen herbeigeführte Ereignis hat sowohl allgemeine wie spezifische Aspekte oder Elemente. Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel, der Holocaust, ist ereignisgeschichtlich ebenso einmalig wie er sozialpsychologisch und strukturell vergleichbar und wiederholbar ist. Akteure, Opfer, Zeit und Ort können sich ändern, auffallend aber ist, dass an allen Massenmorden in Vergangenheit und Gegenwart neben Fanatikern, pathologischen Persönlichkeiten und Kriminellen auch ganz „normale“ Menschen in großer Zahl beteiligt waren, - Menschen, die unauffällig sind und keine (zumindest keine erkennbaren) psychischen Defekte aufweisen, Menschen, die – wie ein Psychologe einmal formuliert hat – geradezu „abnormal normal“ sind.

Im Sommer 1993 erschien in einer großen deutschen Wochenzeitschrift ein Interview mit einem Massenmörder. „Ich hatte eine schöne Kindheit“, erzählt er. „Meine Freunde waren Muslime oder Christen, aber das war mir nicht bewusst, denn Religion spielte damals keine Rolle.“ Dann kam der Krieg. „Ich fühlte nur, dass meine Welt zu Bruch ging, dass etwas verloren war, was ich noch nicht genau benennen konnte. (…) Meine Welt war plötzlich eine andere, mit neuen Gesetzen, die mir Angst machten.“ Die erste Tötung eines Menschen war wie „ein böser Traum“, aber sie stellte sich bald als reine „Notwehr“ heraus: „…du hast ihn umgebracht, weil er dich umbringen wollte. Und das ist völlig okay. So fing es an.“ Doch „irgendwann wurde der Krieg zur Routine“, wurden Massaker und Vergewaltigungen zum Alltag. „Ich denke nicht mehr an die Toten“, erzählt der Ex-Krieger. „Nicht heute und nicht morgen und nicht übermorgen…Warum soll ich an die Toten denken? Die Toten sind tot…Die Toten kommen nicht zurück… Warum soll ich an jemand denken, der mich töten wollte… Heute denke ich daran, wie ich für die Mädchen attraktiv aussehe oder wie ich einen Job finde. Ich habe nichts Falsches gemacht. Ich habe alles richtig gemacht. Ich habe nichts falsch gemacht. Nur der Krieg war ein schlechter Witz.“[16]

Viele der hier Anwesenden ahnen, wo der Ex-Krieger zuhause war. Wir kennen zahlreiche ähnliche Berichte. Aber Sie irren sich. Es geht nicht um Bosnien, Sarajevo oder Banja Luka, sondern um den Libanon und Beirut. Es handelt sich um die Erzählung eines Teilnehmers am Bürgerkrieg im Libanon, der im Mai 1991 offiziell beendet worden war. Und es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Ex-Krieger vor Beginn des Krieges mit Hassgefühlen aufgewachsen oder psychisch defekt gewesen wäre. Aus einer Vielzahl von psychologischen und sozialpsychologischen Untersuchungen wissen wir mittlerweile, dass das Gros der Täter scheinbar unscheinbare Menschen sind, Menschen wie Sie und ich. Außerordentliche Verbrechen (wie Massenmord und Genozid) sind nicht (jedenfalls nicht allein) das Werk außerordentlicher (Übel)Täter. Außergewöhnlich sind ihre Taten, nicht die Täter selbst. Das ist das Beunruhigende. Denn es wäre relativ angenehm und bequem, wenn wir sagen könnten, große Verbrechen sind das Werk großer Psychopathen. Das ist nicht der Fall. Massenmörder, sofern es sich dabei um ganz „normale“ Menschen handelt, sind das Produkt ihrer sozialen und kulturellen Umgebung. Für die Verwandlung „normaler“ Menschen in Exekuteure von Massengewalt gibt es mittlerweile Erklärungsmodelle. Sie sind komplex und setzen sich aus anthropologischen, psychologischen, insbesondere sozialpsychologischen, aus historischen, soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschungsergebnissen zusammen. Erst ein derart interdisziplinärer Zugriff macht Verstehen möglich (Verstehen nicht im Sinn von Identifikation, sondern im Sinn von Erklärung). Eine Bemerkung will ich noch hinzufügen. Massengewalt wie im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda, im Libanon oder im nationalsozialistischen Deutschland bricht nicht einfach aus, sie „ereignet sich“ nicht. Ebenso wenig wie sich das „Volk ereignet“. Massengewalt fällt nicht vom Himmel. Sie wird vorbereitet (nicht nur organisatorisch, sondern auch und vor allem diskursiv), und sie wird inszeniert. Ist sie einmal in Gang gesetzt, gewinnt sie dank ihrer polarisierenden Wirkung eine enorme Eigendynamik und reißt viele Menschen mit, die zu Tätern, Opfern oder zu beidem werden. Dass sich alle nur „verteidigen“, dass sie nur tun, was angesichts der Bedrohung getan werden muss, versteht sich von selbst. Entscheidend ist daher immer, wer die Gewaltspirale in Gang gesetzt und wer das kulturelle Umfeld dafür geschaffen hat. Auch dieses kulturelle Umfeld entsteht nie von allein und spontan, sondern wird gemacht. Herauszufinden, wer das macht, gehört zu den Aufgaben der Wissenschaftler. Die Kritiker meines Buches sehen in einem derartigen Forschungsansatz nur „Vorurteile und Stereotypen“ am Werk. Für sie sind der Zerfall Jugoslawiens und die Gewalt der 1990er Jahre in erster Linie „externen Faktoren“ (nicht zuletzt der diplomatischen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland), gelegentlich auch der Machtgier Miloševićs und/oder dem Erbe des sozialistischen Regimes geschuldet („Tito ist zu spät gestorben“[17]). Die Rolle der Intellektuellen und die Art und Weise, wie Vergangenheit, Mythen und „Erinnerungen“ zur Aufhetzung der Massen missbraucht wurden, übergehen sie mit Stillschweigen.  

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Was kann und/oder soll eine moderne Geschichtsschreibung leisten? Auch hier muss ich mich auf Stichpunkte beschränken. Vorwegschicken möchte ich mein persönliches Verständnis von Geschichte. Geschichte als methodische, systematische und intersubjektiv nachvollziehbare Beschäftigung mit Vergangenheit ist für mich kein Selbstzweck. Ausgangspunkt sind die Menschen in ihren jeweiligen sich verändernden sozialen und kulturellen Kontexten. Nationen sind eine von vielen sozialen Organisationsformen des Menschen. Sie sind weder der Anfangspunkt noch der Endpunkt der Geschichte. Was mich interessiert, ist die Frage, warum eine Gesellschaft oder eine historische Persönlichkeit so ist bzw. war, wie sie ist, und nicht anders. Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Prozesse der Vergangenheit untersuchen. Jede Gesellschaft ist das Produkt von Erbschaften und Veränderungen bzw. Neuerungen. Das Mischungsverhältnis von Erbschaften und Neuerungen ist von Fall zu Fall und von Zeit zu Zeit unterschiedlich. Mal erlangen die Erbschaften die Oberhand, mal die Neuerungen. Es gibt kein vorgeformtes Schema und es gibt keinen historischen Determinismus. Und immer bestehen auch Alternativen zu dem, was tatsächlich geschieht oder geschehen ist. Deshalb ist es faszinierend zu fragen, warum diese oder jene Entscheidung getroffen wurde und nicht eine andere? Welche Personen und Gruppen haben die Entscheidung gefällt? Welche Konsequenzen hatte ihre Entscheidung für die Gesellschaft? Und wie geht die Gesellschaft heute und künftig mit den Entscheidungen aus der Vergangenheit um? Im Unterschied zu Psychologen können Historiker keine Experimente anstellen. Und das ist vielleicht gut so. Unser Labor ist die Vergangenheit, in der bestimmte Optionen ausprobiert wurden. Aus der Rückschau können wir dann fragen, ob die mit den gewählten Optionen verbundenen Ziele und Erwartungen erfüllt, ob sie partiell erfüllt oder gar nicht erfüllt wurden. Ich bewerte also nicht a priori die Ziele selbst (zumindest bemühe ich mich darum, was nicht immer gelingt), sondern den Zielerreichungsgrad sowie die Konsequenzen von Zielsetzungen. Erst von daher – also post factum - kann man die Ziele selbst hinterfragen und man kann - bis zu einem gewissen Grad - aus Erfolgen und Misserfolgen lernen. Das ist der eine Aspekt. Der zweite Aspekt, der mit dem ersten zusammenhängt, ist das, was im Deutschen als „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnet wird. Vergangenheitsbewältigung ist – ganz kurz gesagt – die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen, mit unserer Vergangenheit, - nicht die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der „Anderen“. Diese ist auch wichtig und kann aus der eigenen Vergangenheit nicht ausgeblendet werden. Was Vergangenheitsbewältigung aber von den meisten anderen Formen des Umgangs mit Vergangenheit unterscheidet, ist der Ausgangspunkt: die Bereitschaft, sich mit unserer eigenen Verantwortung und Schuld auseinanderzusetzen und daraus zu lernen, was nicht bedeutet, dass es nicht auch die Verantwortung der „Anderen“ gibt. Aber wer ausschließlich oder primär die Untaten eines Gegners „aufarbeitet“, betreibt das Gegenteil dessen, was hier gemeint ist. Die Geschichtsschreibung ist ein wichtiger Teil dieses komplizierten und in der Regel langwierigen Prozesses, – eine Geschichtsschreibung, die dem im antiken römischen Recht praktizierten und bis heute gültigen Prinzip verpflichtet ist: „audiatur et altera pars“ (man soll auch den anderen Teil hören).

Bevor ich mich damit weiter beschäftige, will ich kurz auf die Frage eingehen, ob man Vergangenheitsbewältigung überhaupt braucht. Denn Vergangenheitsbewältigung kann verdammt lästig sein. In allen Gesellschaften mit einer „problematischen“ Geschichte (und es gibt nur wenige Gesellschaften, die nicht in der einen oder anderen Form eine „problematische“, „unverständliche“ Vergangenheit haben) wird daher von Zeit zu Zeit die Forderung laut, man solle einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Das mag gut gemeint sein. Zum Einen mit Blick auf die vielen Mitläufer, die es in jeder (sowohl demokratisch wie diktatorisch verfassten) Gesellschaft gibt. Zum Anderen ist die Auseinandersetzung mit geschehenem Unrecht oft mit dem Bedürfnis nach Rache verknüpft, was zwar verständlich, aber alles andere als zukunftsweisend ist. Bei der Schlussstrich-Debatte geht es in der Regel um die jüngere Vergangenheit, die im „kommunikativen Gedächtnis“ der Erlebnisgeneration und ihrer unmittelbaren Nachkommen gespeichert ist. Sehr viel seltener geht es um die weiter zurückliegende Vergangenheit, die Eingang in das „kulturelle Gedächtnis“ - in den Langzeitspeicher - der Gesellschaft gefunden hat und die weitgehend dem entspricht, was Friedrich Nietzsche als „monumentalistische Historie“ bezeichnet hat. Hierzu gehören auch die historischen Mythen. Die Ungleichbehandlung der jüngeren und der älteren Vergangenheit ist mit Blick auf die Erlebnisgeneration psychologisch nachvollziehbar, obwohl sie von der Sache her nicht begründbar ist. Wer von „Rückkehr zur Normalität“ oder von „Schlussstrich“ spricht, meint in der Regel nicht das Ende eines Prozesses reflektierter Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit (und noch weniger mit der älteren Vergangenheit), sondern verwahrt sich gegen den Beginn eines derartigen Prozesses. Die Schlussstrich-Befürworter setzen sich vornehmlich aus vier unterschiedlichen Gruppen zusammen, die sich partiell überschneiden. Zur ersten Gruppe gehören diejenigen, die als Täter in Verbrechen der jüngeren Vergangenheit involviert waren und eine strafrechtliche Verfolgung befürchten. Zur zweiten Gruppe gehören große Teile der schweigenden Bevölkerung, die sich mit den Tätern solidarisieren. Die dritte Gruppe setzt sich aus Pragmatikern zusammen, die die Debatten über Vergangenheit als Hindernis bei der Bewältigung der Probleme in Gegenwart und Zukunft empfinden und davon überzeugt sind, dass die Beschäftigung ( die „Obsession“) mit Vergangenheit die bestehenden Gräben weiter vertieft oder kaum vernarbte Wunden wieder aufreißt.  Und die Vertreter des vierten Lagers wollen mit einem Schlussstrich die Versöhnung zwischen vormals verfeindeten Bevölkerungsgruppen innerhalb der eigenen Gesellschaft (z.B. zwischen Widerstandskämpfern auf der einen und „Verrätern“ oder „Kollaborateuren“ auf der anderen Seite) ermöglichen bzw. fördern.  

Kurzfristig mag eine solche Versöhnung erfolgreich sein, längerfristig ist sie es in der Regel nicht. Fast immer erweist sich der Schlussstrich als Illusion. Er ist illusorisch, weil Menschen ohne Vergangenheit nicht leben können, weil der Drang zu erfahren, woher man kommt und was einem passiert ist, unausrottbar ist. Ein Mensch ohne Vergangenheit und Erinnerungen ist wie ein Mensch ohne Schatten. Man kann eine spezifische Vergangenheit oder Teile einer ungeliebten, beunruhigenden Vergangenheit verdrängen, vergessen, verschweigen oder so deuten, dass man mit ihr leben kann. Menschen haben zu allen Zeiten und überall auf der Welt vieles vergessen. Vergessen ist überlebenswichtig und konstruktiv. Und die bislang wenig erforschte Geschichte des Vergessens ist ebenso spannend wie die Geschichte des Erinnerns. Aber Vergessen ist kein Willensakt. Man kann nicht etwas vergessen wollen, sondern man vergisst es, weil es nicht (mehr) kommuniziert wird, weil man einer erneuten Konfrontation mit dem Geschehenen aus dem Weg gehen will, weil man mit dem Vergessenen im Reinen ist, weil es Dinge gibt, die als wichtiger empfunden oder als wichtiger deklariert werden oder weil das Vergessene durch andere Erfahrungen oder Erinnerungen überschrieben wurde. Im Unterschied zum Vergessen kann man Schweigen (zumindest öffentliches Schweigen) verordnen. Und ein lang durchgehaltenes kollektives Schweigen mag zu einem geordneten/verordneten Vergessen führen. Doch sofern es sich um traumatische Erlebnisse handelt, die in den neuronalen Netzwerken tiefer verankert sind als weniger dramatische Erfahrungen, ist dies ziemlich unwahrscheinlich, - zumindest für die Betroffenen und zumindest in pluralistischen Gesellschaften, wo sich die Betroffenen öffentlich artikulieren können. Eher ist es möglich, dass etwas, was zeitweilig vergessen oder zumindest verschwiegen worden war, aus dem Vergessen zurückkehrt oder zurückgeholt wird. Und es ist möglich, dass eine Vergangenheit gar nicht vergangen ist. Eine nicht vergangene Vergangenheit beschweigen zu wollen, ist gleichbedeutend mit einem Schlussstrich unter die Gegenwart und die Zukunft. Denn irgendwann holt die verdrängte, „vergessene“ Vergangenheit die Gegenwart in höchst gefährlicher Weise wieder ein. Mitunter erst nach langer Zeit und unerwartet. Das ehemalige Jugoslawien und sein Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg liefern dafür überaus beeindruckendes und bedrückendes Anschauungsmaterial. Die meisten derjenigen, die vom Schlussstrich sprechen, meinen im Übrigen auch gar nicht den Schlussstrich unter die Vergangenheit, der sie nach wie vor herzlich verbunden bleiben, sondern den Schlussstrich unter die Geschichte, die sie – völlig zu Recht – als Bedrohung empfinden. Die Vergangenheit samt ihrer Bilder von Helden, Märtyrern und Opfern ist heilig; die Geschichte als Wissenschaft ist profan. Deshalb lehnen die Schlussstrich-Apologeten die Geschichte ab. Das klingt paradox, ist aber kein Widerspruch, denn Geschichte und Vergangenheit schließen einander aus, obwohl sie sich teilweise überlappen. Kurzum: Geschichte ist elementar für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft, für die Entwicklung einer Konfliktkultur, in der Konflikte nicht als „unnormal“ unterdrückt und/oder tabuisiert, sondern sozial ausgehandelt werden. Ohne Geschichte gibt es keine Zukunft, die diesen Namen verdient.

Geschichte bzw. Geschichtswissenschaft ist heute nicht mehr das, was sie im 19. und großen Teilen des 20. Jahrhunderts – im Zeitalter der Nationen – war. Geschichte ist nicht die Dienerin der Nation. Sie ist eine Wissenschaft, und Wissenschaft ist nicht statisch. Es haben sich nicht nur die Fragestellungen, Methoden und Theorien der Geschichtswissenschaft verändert. Verändert haben sich auch die Nachbardisziplinen, selbst wenn deren Ergebnisse oft erst mit großer Verzögerung von den Historikerinnen und Historikern rezipiert werden. Unter den Veränderungen zu erwähnen sind u.a. der  „cultural turn“ in der Geschichtswissenschaft, die Beschäftigung mit Symbolen, Ritualen usw., die „gender history“, die Erinnerungsforschung, Migrationsforschung oder die Komparatistik und Transferforschung. Wir wissen heute sehr viel mehr als früher über „Erinnerungen“, ihre soziale Gebundenheit und ihre stetigen Veränderungen. Wir wissen, dass „Erinnerungen“ zu dem Unsichersten gehören, was es gibt. Die moderne Hirnforschung hilft, Dinge zu verstehen, die wir vorher nicht verstanden haben. Wir wissen heute – dank der Fortschritte, die in der Psychologie, Sozialpsychologie und Kognitionswissenschaft während der letzten drei Jahrzehnte erzielt worden sind - auch sehr viel mehr als früher über Wahrnehmungsbarrieren, d.h. darüber, warum Menschen bestimmte Informationen, obwohl sie vorhanden und empirisch bewiesen sind, nicht weiter verarbeiten. Das ist keine Frage der Intelligenz, sondern der soziokulturellen Wahrnehmungsmuster. Wir wissen sehr viel mehr über kollektive Identitäten oder über die Entstehung von Gewalt und die Entstehung von Tätern. Das Verständnis und der Umgang mit Traumata, die lange in der Gesellschaft ignoriert und tabuisiert wurden, haben deutlich zugenommen. Kurzum: Die Geschichtswissenschaft befindet sich mitten in einem gewaltigen Umbruch. Sie ist nicht mehr Mittel zum Zweck der Nationsbildung oder zur Glorifizierung der Nation. Sie ist Mittel zum besseren Verständnis der Menschen und ihrer sozialen wie kulturellen Kontexte.

Die Geschichtswissenschaft ist somit ein unverzichtbarer Teil der „Zukunfts- werkstatt“ geworden.[18] Lassen Sie mich schließen mit der Hoffnung und dem Wunsch, dass mit dem Projekt der „Zukunftswerkstatt“ auch im ehem. Jugoslawien die Zukunft begonnen hat, - ein Zukunft, die nach Jahren der Katastrophen und Isolation nicht einfach ist, aber die den Menschen mehr zu bieten hat als die Vergangenheit. Die wichtigste Voraussetzung ist: man muss die Zukunft  wollen. Gewiss kann man sich ihr entgegenstemmen, kann ihren Beginn verzögern, kann die Vergangenheit verherrlichen. Aber man kann die Zukunft auch gestalten, ihr eine Richtung geben. Nur aufhalten kann man sie nicht. Das ist die wichtigste Lehre aus der Geschichte.

 


[*] Das Zitat stammt aus einem Kommentar von Miloslav Samardžić: Kad Nemac piše srpsku istoriju…, in: Internet Svedok (o.D.). Der nachfolgende Text ist eine modifizierte und stellenweise erweiterte Fassung des Vortrags, den ich am 3. April 2009 im Goethe-Institut in Belgrad und am 4. April in der Belgrader Kolarac-Universität gehalten habe. Die serbische Fassung des Vortrags ist nachlesbar unter: http://www.pescanik.net/content/view/3009/1107/. Entsprechend dem Vortragscharakter habe ich im Folgenden auf Anmerkungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – verzichtet, da diese den Umfang des Textes gesprengt hätten. Alle zitierten Internetseiten wurden zuletzt im April 2009 abgerufen.
Der Vortrag wurde erstmals am 14.7.2009 auf der Forschungsplattform Südosteuropa veröffentlicht.

[1] Charles Simic: Odrod, in: "Der andere nebenan". Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. Hg. Richard Swartz. Frankfurt/M. 2007, S. 200.

[2] Stellvertretend erwähnt seien die öffentliche Erregung in Bulgarien über das von Ulf Brunnbauer und Martina Baleva vorbereitete Ausstellungsprojekt „Batak als bulgarischer Erinnerungsort“ von 2007 oder die maßlosen Reaktionen auf die albanische Übersetzung von Oliver Schmitts Skenderbeg-Biographie während der letzten Monate. Die Liste von Beispielen ließe sich fast endlos fortsetzen.

[4] Es handelt sich um einen Artikel von Radoš Ljušić: Nova srpska istorija u očima nemačkog istoričara: Polemično i kontroverzno, - in: NIN vom 19.2.2009, S. 48-49.

[6] Istorija Srbije od 19. do 21. veka. Beograd 2009. Die Originalausgabe „Geschichte Serbiens. 19.-21. Jh.“ erschien 2007 in Wien.

[7] Miloslav Samardžić: Kad Nemac piše srpsku istoriju… (siehe Anm. 1). Samardžić beruft sich auf eine Äußerung, die anlässlich des Rundtischgesprächs über die serbische Geschichte und Historiografie aus Anlass meines Buches am 20. Februar 2009 in Belgrad stattfand. Vgl. dazu u.a. Andjelka Cvijić: Krupni plan. Kritičko sagledavanje, in: Politika vom 23.2.2009.

[8] So wurde z.B. in einem Interview bemängelt, dass ich Stefan Dušan als „Nachfolger“ König Milutins bezeichnet habe. Zwar war Dušan in der Tat ein Nachfolger Milutins, aber nicht unmittelbar. Zwischen dem Tod Milutins und dem Beginn der Alleinherrschaft Dušans lagen zehn Jahre, in denen Dušans Vater, Stefan Uroš III. (Dečanski) regierte. Dušan trug in dieser Zeit den Titel eines „iunior rex“. Für die Argumentation, in der es um die Anziehungskraft des byzantinischen Kaiserideals ging, hat dies jedoch keinerlei Bedeutung. In einem anderen Interview wurde mir vorgehalten, dass ich den Geburtsort von Vuk Karadžić falsch angegeben hätte. Tatsächlich habe ich den Geburtsort aber gar nicht erwähnt (was man kritisieren kann), sondern nur von der Herkunft seiner Familie gesprochen.  

[9] Miloš Ković von der historischen Abteilung der Belgrader Universität behauptet in einem Interview z.B., dass ich u.a. Vuk Karadžić für das verantwortlich gemacht hätte, was im Bürgerkrieg 1991 bis 1999 geschehen ist. Interview mit Miloš Ković in Politika vom 18.2.2009. Tatsächlich habe ich genau das Gegenteil gesagt und eine Kontinuität von Vuk Karadžić zu Radovan Karadžić ausdrücklich zurückgewiesen. Čedomir Antić, Mitarbeiter des Balkanologischen Instituts der Serbischen Akademie und Autor einer „Kratka istorija Srbije 1804-2004“ (Beograd 2004, 219 S.) – bei der es sich im Übrigen nicht um eine Gesamtdarstellung der Geschichte Serbiens, sondern um eine Sammlung von Essays handelt -, kritisiert, dass ich bei der Darstellung bestimmter Phänomene in Serbien (wie Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus etc.) nicht auf die mitteleuropäischen u.a. externe Einflüsse hingewiesen hätte. Das bezeugt, dass er – gleich Ković u.a. - große Teile des Buches nicht gelesen hat. An anderer Stelle kritisiert er, dass meine Vergleiche zwischen Deutschland und Serbien im 20. Jahrhundert ein „sehr großer Mangel des Buches“ seien! Dass ich im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg nicht auf die Rolle des „ausländischen Faktors“ eingegangen sei, ist schlicht falsch. Unwahr ist ferner, dass ich die Studentenunruhen von 1968 überhaupt nicht erwähnt hätte. Usw. Für Antić steht fest, dass das Buch einseitig ist und im Dienst der Politik steht. Interview mit Antić in Internet svedok (o.D.). Miloslav Samardžić, ein von wissenschaftlicher Methodik „unverdorbener“ Apologet des Tschetnikführers Draža Mihailović, behauptet in seinem bereits erwähnten Kommentar (siehe Anm. 1), dass ich zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Jugoslawien keinerlei Archivstudien betrieben und weder das Militärhistorische Archiv in Freiburg noch das Archiv des Militärhistorischen Instituts in Belgrad aufgesucht hätte. Bei etwas mehr Sorgfalt hätte er sich leicht vom Gegenteil überzeugen können. „Alles in allem“, fasst Samardžić zusammen, „wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, hat es Sundhaussen nicht geschafft, wenigstens zwei korrekte Sätze zu schreiben.“

[10] In: Critique of Anthropology 19 (1999) 1, S. 14.

[11] Ebda., S. 17.

[12] Vgl. Anm. 9.

[13] Zum Folgenden vgl. die Einführung zum Sammelband Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im vergleich: 19. und 20. Jahrhundert. Hg. Etienne François, Hannes Siegrist und Jakob Vogel. Göttingen 1995.

[14] „Gottes auserwählte Völker“. Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte. Hg. Alois Mosser. Frankfurt/M. [u.a.] 2001.

[15] Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama. Hg. Monika Flacke. Berlin 1998. Im Jahr 2004/05 schloss sich eine Folgeausstellung an: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Hg. Monika Flacke. 2 Bde. Berlin 2004.

[16] ZEIT vom 6.8.1993: Töten musst du. Bereits am 18.6.1993 war in der ZEIT ein ähnlicher Bericht erschienen. Nur die Orte und Namen der Akteure unterschieden sich.

[18] Die internationale „Zukunftswerkstatt 2008-2010“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, der Abteilung für Geschichte der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb sowie der Goethe-Institute in Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina. Die „Zukunftswerkstatt“ bietet jungen Forschenden aus dem früheren Jugoslawien und Deutschland ein Forum zur Präsentation und Diskussion ihrer Forschungsvorhaben. Der vorliegende Vortrag bildete den Auftakt der zweiten Konferenz, die vom 3.–5.4.2009 in Belgrad stattfand.

 

Kriegsverbrechen und deren Aufarbeitung im ehemaligen Jugoslawien

von
Monika Magić Kovač

Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 markierte den Beginn einer neuen Epoche europäischer Geschichte. In der Mehrheit der osteuropäischen Staaten wurde das kommunistische Einparteiensystem sukzessive durch ein demokratisches Mehrparteiensystem ersetzt. Von dieser Veränderung war auch das ehemalige Jugoslawien betroffen. Im Oktober 1991 brach das kroatische Parlament seine Verbindungen zu Jugoslawien ab. Zu diesem Zeitpunkt waren die Angriffe der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) und der serbischen Paramilitärs auf Vukovar bereits in vollem Gang. Dem militärischen Einsatz gingen zahlreiche serbische Versammlungen, sogenannte Meetings, voraus. Im April 1991 fanden diese Meetings u.a. in Borovo Selo, Jagodnjak und Baranja statt. Hintergrund der Meetings war es, den nationalistischen Hardlinern aus Serbien, vor allem den Politikern und Militärs Stanko Cvijan, Miroslav Paroški und Vojislav Šešelj, eine Stimme zu geben, wobei offen über die Pläne zur Gründung eines Großserbischen Staates diskutiert wurde. Die Versammlungen waren zudem ein Aufruf zum Widerstand gegen die neu entstandene kroatische Regierung. Die aggressive Rhetorik der Meetings mündete schließlich in Krieg: Als am 2. Mai 1991 kroatische Polizisten in Borovo Selo die jugoslawische Flagge gegen die kroatische austauschen wollten, kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen in deren Folge 12 kroatische Polizisten und drei serbische Paramilitärs getötet wurden. Nach diesem Vorfall begann in Vukovar sowie im ganzen kroatischen Gebiet die Mobilmachung.

In der kroatischen Grenzstadt Vukovar, die am rechten Donauufer liegt, lebten im Jahr 1991 neben andere Ethnien 47.2% Kroaten und 32.3% Serben. Durch die Einnahme Vukovars sowie durch die Eroberung ganz Ost-Slawoniens wollte die Jugoslawische Volksarmee (JVA) die Grundlage für den weiteren Durchbruch nach Zagreb und Varaždin schaffen.[1] Vukovar war insgesamt 87 Tage durch die Truppen der JVA besetzt. Während dieser dreimonatigen Belagerung wurden etwa 700 000 Granaten und Flugzeugbomben abgeworfen - im Durchschnitt waren das 7000 Bomben pro Tag. Kaum ein Gebäude blieb von den Angriffen verschont, es wurde weder Rücksicht auf das örtliche Krankenhaus, noch auf religiöse, kulturelle oder historische Denkmäler genommen. Die kroatischen Soldaten erhielten nicht den nötigen Waffennachschub und mussten gegen die viel größere und stärkere jugoslawische Armee kämpfen, die über eine wesentlich bessere Kriegsausrüstung verfügte.[2] Am 18. November 1991 wurde Vukovar erobert und dabei komplett zerstört. Mit dem Fall der Stadt begann eine neue Welle von Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung und Kriegsgefangene. So wurden am 20. November auf der Schweinefarm Ovčara 200 Personen getötet.[3] Bei den Ermordeten handelte es sich um verwundete kroatische Soldaten, Angestellte des Vukovarer Krankenhauses und andere Zivilisten, die nach dem Ende der Okkupation aus dem Krankenhaus entführt worden waren und wenig später von den Mitgliedern der Jugoslawischen Volksarmee erschossen wurden. Mindestens 1739 Menschen wurden im Laufe der dreimonatigen Okkupation der Stadt getötet, wobei weitere 22 000 vertrieben wurden.

Einige der Verantwortlichen für die damaligen Massaker wurden inzwischen vor dem „Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“ in Den Haag sowie vor dem „Sondergericht für Kriegsverbrechen“ in Belgrad wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für die Verletzung der Kriegskonventionen verurteilt. Unter den Verurteilten in Den Haag befanden sich die ehemaligen Offiziere der jugoslawischen Volksarmee Mile Mrkšić und Veselin Šljivančanin, die die Verantwortung für das Massaker von Ovčara trugen. In Belgrad wurden weitere Angeklagte für Kriegsverbrechen verurteilt, unter ihnen auch Miroljub Vujović, der damalige Kommandant der Territorialverteidigung.

Diese Strafverfahren spielen eine bedeutende Rolle in der Aufarbeitung der Kriegsgräuel im ehemaligen Jugoslawien, dennoch wird der Dialog zwischen Kroaten und Serben noch geraume Zeit in Anspruch nehmen bis es zu einer Versöhnung kommen kann. Es gibt noch immer Familien, die auf der Suche nach ihren Angehörigen sind. Nach offiziellen Meldungen aus dem Jahr 2006 sind beispielsweise 59 Personen, die aus dem Krankenhaus in Vukovar entführt wurden, bis heute nicht gefunden beziehungsweise identifiziert worden. Dennoch gibt es signifikante Verbesserungen auf politischer Ebene. So besuchte am 4. November 2010 der serbische Staatspräsident Boris Tadić die Stadt Vukovar, wo er sich mit dem kroatischen Präsidenten Ivo Josipović sowie mit der Premierministerin Jadranka Kosor traf. Im Verlauf der Gespräche entschuldigte sich Boris Tadić für die Kriegsverbrechen der Serben im Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre. Dies war nicht nur der erste Besuch eines Repräsentanten der serbischen Regierung in Vukovar – auch die offizielle Entschuldigung war ein Novum.

Bei der Kranzniederlegung in Ovčara sagte Tadić unter anderem folgendes:

“Ich bin heute hier, um mich vor den Opfern zu verbeugen und ich möchte ihnen Ehre erweisen. Ich bin hier, mich vor den Opfern verbeugend, um noch einmal die Worte der Entschuldigung auszusprechen, mein Bedauern auszudrücken und eine neue Möglichkeit für Serbien und Kroatien zu schaffen, eine neue Seite in der Geschichte aufzuschlagen.” [4]

Diese Worte bargen nicht nur eine enorme Symbolik, sondern sie gelten auch als Appell für eine Aussöhnung zwischen den betroffenen Völkern. Zugleich übermittelten beide Präsidenten die Botschaft, dass Versöhnung der ehemaligen Kriegsparteien in Ex-Jugoslawien möglich sei.

Der unabhängige Belgrader Sender B92 setzte sich bereits seit seinem Entstehungsjahr 1989 sehr kritisch mit dem Regime von Slobodan Milošević auseinander. Aufgrund seiner kompromisslosen Berichterstattungen entwickelte er sich schnell zum medialen Symbol des Widerstandes und war auch während der Oktober-Demonstrationen im Jahr 2000 ein entscheidender Faktor beim Sturz von Milošević.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bereits im Jahr 2006 im Rahmen des Projektes “Unabhängig für die Wahrheit” ein wichtiger Film veröffentlicht wurde. Der Film „Vukovar – The Final Cut“ ist eine Produktion des serbischen Radio- und Fernsehsenders B92. Produziert wurde der Dokumentarfilm vom Direktor des Senders B92 Veran Matić. An dem Projekt waren u.a. der kroatische Journalist Drago Hedl (Autor und Drehbuch) und der Belgrader Regisseur Janko Baljak beteiligt. Der Film erreichte ein enorm großes Publikum. Er wurde in zwei Fassungen gesendet, eine Version (103 Minuten) war für Kinos sowie für Filmfestivals bestimmt, hinzu kam eine dreiteilige Serie (je 40 Minuten) fürs Fernsehen. Das Besondere an dem Film ist die Zusammenarbeit von serbischen und kroatischen Journalisten und die Tatsache, dass Geschichte hier aus mehreren Perspektiven erzählt wird. Zahlreiche Zeitzeugen aus Kroatien und Serbien kommen zu Wort, die Aussagen der Opfer werden jenen der Täter gegenübergestellt. Jedoch findet man kaum Wut oder Hass, auf beiden Seiten herrscht Nachdenklichkeit und große Trauer. Sowohl das kroatische als auch das serbische Publikum erfuhr durch diesen Film Aspekte des Grauens, die bis dahin unbekannt waren. Für die kroatische Öffentlichkeit war es besonders wichtig zu sehen, wie sich die Spannungen zwischen Serben und Kroaten nach dem Scharmützel von Borovo Selo verstärkt hatten und wie, neben Kroaten auch Serben aus Vukovar verschwanden. Das heißt, dass es sowohl Opfer als auch Täter auf beiden Seiten gab, wenngleich die schlimmsten Kriegsverbrechen in Ovčara von der jugoslawischen Armee und den serbischen Paramilitärs begangen wurden. Auch die Zeugenaussagen von Tätern sind sehr wichtig, da man dadurch erfährt, wie die Belagerung der Stadt aus der gegnerischen Sicht wahrgenommen wurde. Schließlich sieht man Szenen, die unmittelbar nach dem Fall der Stadt gedreht wurden und in denen Reaktionen von serbischen Zivilisten gezeigt werden. Bestürzend sind besonders jene Momente in denen ortsansässige Serben ihre kroatischen Mitbürger denunzieren.

Der Film erzählt die Geschichte des Krieges, indem er sich jeglichen Kommentars enthält, nur unter Verwendung dokumentarischen Filmmaterials. Seine Botschaft wird dennoch deutlich: Aussöhnung und Zusammenarbeit zwischen den einst verfeindeten Seiten ist durchaus möglich. Ohne die Aufarbeitung der Kriegsereignisse und Anerkennung der Gräueltaten als Kriegsverbrechen wird es jedoch kaum möglich sein die schmerzhafte Vergangenheit bewältigen zu können.

 


[1] Dies bestätigte der ehemalige Bundessekretär für Volksverteidigung, der General der JVA Veljko Kadijević in seinem Buch: Vgl. Kadijević, Veljko: Moje viđenje raspada (Meine Ansicht des Zerfalls), Beograd 1993, S. 137. 

[2] Mehr dazu in: Marijan, Davor: Bitka za Vukovar (Die Schlacht um Vukovar), Zagreb/Slavonski Brod 2004, S. 214-223.

[3] Ovčara liegt fünf Kilometer südöstlich von Vukovar.

[4] Serbiens Präsident entschuldigt sich bei Kroaten, in: Die Presse (abgerufen am 11.11.2010).

 

„Vukovar – The Final Cut“

von
Monika Magić Kovač

Im Zusammenhang mit dem Besuch des serbischen Staatspräsidenten Boris Tadić in Vukovar wurde der Film „Vukovar – The Final Cut“ erneut in Serbien ausgestrahlt. Frau Monika Magić Kovač führte das Interview mit dem Produzenten des Films, Veran Matić, im November 2010.

Veran Matić ist serbischer Journalist, langjähriger Direktor und Chefredakteur des Radio- und Fernsehsenders B92. Zehn Jahre lang war er Vorsitzender der Vereinigung Unabhängiger Elektronischer Medien (ANEM). Er studierte Literatur an der Philologischen Fakultät der Universität in Belgrad. Seit 1984 ist er im journalistischen Bereich tätig. Im Mai 1989 gründete er den ersten unabhängigen Radiosender in Serbien, der trotz mehrerer Verbote die serbische Öffentlichkeit umfassend über die politischen Ereignisse informierte. Für seine Leistungen und für den Kampf um die Pressefreiheit wurde er mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem „Jahrespreis des New Yorker Komitees zum Schutz von Journalisten“.

ZOL: Herr Matić, über Vukovar sind inzwischen viele Filme gedreht worden, aber "Final-Cut" ist der erste Dokumentarfilm, der in serbisch-kroatischer Kooperation entstanden ist. Wie kam es zur Zusammenarbeit? Wer hat das ganze Projekt finanziert?

Matić: Der Film ist im Rahmen des Projektes „Unabhängig für die Wahrheit“ entstanden, welches ich nach den Veränderungen im Jahr 2000 in Gang setzte. Wir haben zwei internationale Konferenzen zu den Themen: "Wahrheit, Verantwortung und Versöhnung" und über den "Umgang mit Krieg und Kriegsverbrechen aus globaler Perspektive" veranstaltet. Der gemeinsame Nenner all dieser Erfahrungen ist die Einsicht in die Notwendigkeit, die Verbrechen aufzuklären, die Opfer zu identifizieren und die Täter zu verurteilen, um auf diese Weise Möglichkeiten für eine Versöhnung zu schaffen. Die komplette Zerstörung Vukovars und die Ermordung seiner Bewohner habe ich als Symbol für das Wesen des Krieges gedeutet. In den ersten Tagen des Krieges in Kroatien geschah in Vukovar all das, was sich auch später in Bosnien und im Kosovo ereignete. Das waren Kriege gegen Zivilisten, gegen alles Lebendige, das waren die Verwüstungen der Städte, die Zerstörungen von all dem was Menschen geschaffen haben, mit einem enormen Hass gegenüber allem was als feindlich erklärt wurde. Außerdem ist Vukovar sowohl ein kroatisches als auch ein serbisches Trauma: Ein kroatisches, weil unter den Bewohnern das Gefühl herrschte, die Stadt alleine verteidigen zu müssen, ohne Hilfe aus Zagreb, und ein serbisches, weil ein furchtbares Verbrechen begangen wurde. Als ich das Konzept für die Dreharbeiten verfasste, wollte ich, dass wir einen Film drehen, der in Kroatien wie auch in Serbien Glaubwürdigkeit genießen würde. Deshalb war es notwendig, das beste Journalisten-Team aus Serbien und Kroatien zu finden sowie einen guten Leiter des Teams. Wir haben den Weg zu dem Journalisten Drago Hedl gefunden, der ein Zeitzeuge der Ereignisse in Vukovar war, ein exzellenter Forscher und Analytiker. Zudem hatten wir einen sehr guten und stark motivierten Regisseur, Janko Baljak. Andere Journalisten wollten ebenfalls mit großem Eifer an dem Projekt teilnehmen. Das Geld haben wir von verschiedenen Organisationen gesammelt.

ZOL: Die Dokumentation ist aus dem Jahr 2006, das heißt genau 15 Jahre nach dem Fall von Vukovar. Hatte die historische Distanz von 15 Jahren eine besondere Bedeutung bei der Entstehung des Films?

Matić: In diesem Fall zeigte sich das als richtig; uns ist es gelungen einen Film zu drehen, nach dem es nicht mehr möglich ist, eine ideologisierte Version zu produzieren. Dieser Film wird es ermöglichen, ziemlich leicht eine Lüge, eine Unterstellung, eine Funktionalisierung etc. zu erkennen, weil er meiner Meinung nach umfassend informiert: Er spricht über die Ursachen und er verfolgt die Ereignisse mit Genauigkeit, dokumentarisch, ohne einzelne Elemente auszulassen.

ZOL: Den Menschen in der ganzen Region fällt es noch immer schwer sich mit der Kriegsvergangenheit auseinanderzusetzen. Welche Motive hatten Sie für das Drehen des Films? Welche Botschaften wollten Sie dadurch vermitteln?

Matić: Jeder Film, den wir über die Kriegsverbrechen gemacht haben, beinhaltet sowohl beunruhigende als auch versöhnende Elemente. Ich habe das Publikum in Zagreb und in Belgrad beobachtet; es gab viele Menschen, Kroaten und Serben, die die Hölle von Vukovar überlebt haben. Bei allen habe ich Beunruhigung gesehen, während sie noch einmal das Unheil, das sie erfahren hatten, durchlebten. Dennoch habe ich den Eindruck, dass danach  Erleichterung herrschte, die darauf  beruhte, dass es für diese Hölle, dieses Unheil nun eine Form gab, die das Vergessen unmöglich macht. Auch diejenigen, die davon nichts wussten wurden informiert. Wenn sie das Unheil selbst erleben, haben sie oft weder die Zeit noch den Raum sich zu distanzieren und die Ereignisse objektiv zu betrachten. Menschen neigen dazu ganz verschiedene Rechtfertigungen für Verbrechen zu finden; aber erst wenn sie die Maschine, die zu den Verbrechen geführt hatte, demontieren, wenn sie den Mechanismus dokumentieren, der das Unheil und den Hass produziert hatte, wenn sie die Lügen in den Medien, die Hetze und die Fälschungen enthüllt haben, dann kann dies eine überzeugende Lektion für alle Bürger sein, damit sie sich weigern bedingungslos an nationalistische, vielleicht charismatische Führer zu glauben, die Hass verbreiten und Institutionen missbrauchen, von den Medien bis hin zur Kirche. Ich glaube, dass uns das mit diesem Film gelungen ist. Ich empfinde Zufriedenheit darüber, dass fünf Jahre nach der Ausstrahlung des Films die Präsidenten von Kroatien und Serbien nach Ovčara und nach Paulin Dvor gekommen sind, dass ein Teil der Verbrecher für die Taten in Vukovar und in Ovčara in Den Haag und in Belgrad verurteilt wurde. Nicht zuletzt bin ich zufrieden, dass wir diese Filme haben, die in diesen Tagen wieder ausgestrahlt wurden, wodurch die Gesten der beiden Präsidenten einen tiefen und klaren Sinn erhielten.

ZOL: Der Film zeigt uns keine einseitige Geschichte. Es wurden beide Seiten einbezogen, sowohl die Opfer, als auch die Täter. Auf welche Schwierigkeiten sind Sie bei der Durchführung von Gesprächen mit den Zeitzeugen gestoßen?

Matić: Es war sehr schwer, die Beteiligten, Opfer, aber insbesondere die Täter zu überreden am Projekt teilzunehmen. Vor allem, wenn es sich um eine unabhängige Institution, wie B92 handelt, die auch während der Kriege ein klares Anti-Kriegs-Profil hatte und die mit ihrem Programm sehr stark den Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unterstützt. Das heißt, dass die Teilnehmer bereits im Vorfeld wussten, was auf sie zukommt. Es gab einige, die es abgelehnt haben, und auch einige, die sogar am Film teilnehmen wollten, als wir uns in der letzten Phase der Dreharbeiten befanden. Es gab diejenigen, die sich auf eigene Initiative bei uns meldeten, um uns die Dokumente zu überreichen. Am schwierigsten allerdings war es mit den Opfern, weil wir sie zwangen, noch einmal die Erinnerung an das Unheil zu durchlaufen. Andererseits war das für uns auch eine schwierige Situation, weil wir uns mit ihrem Leiden identifizierten und solidarisierten. Jedoch beschwerte sich keiner, niemand hatte am Ende Einwände gegen das, was wir produziert haben, sogar die Kritiken waren positiv. Das ist der beste Beweis, dass wir die Fallstricke der historischen Betrachtung erfolgreich bewältigt haben.

ZOL: Die Dokumentation wurde auf zahlreichen Filmfestivals ausgestrahlt, u.a. auf dem Dokumentarfilmfestival in Zagreb, auf dem Belgrader FEST und auf dem Filmfestival in Sarajevo, wo sie mit dem Menschenrechtspreis („Human Rights Award“) ausgezeichnet wurde. Wie waren die Reaktionen des kroatischen und serbischen Publikums?

Matić: Ich habe bereits erwähnt, dass die Reaktionen des Publikums überall ähnlich waren. Es wurden sehr viele Emotionen gezeigt, Tränen, Schockzustände, Sprachlosigkeit. Die Autoren bekamen Anerkennung für ihre Objektivität, ihre Zurückhaltung, ihre Professionalität und für die Einbindung aller Beteiligter. Für alle war unsere Absicht deutlich. Als wir den Film und die Serie auf unserem Sender TV B92 ausstrahlten, hatten wir sehr gute Einschaltquoten von einer Million dreihunderttausend Zuschauern (die Sendezeit hatten wir absichtlich nach den zwei Sendungen mit hohen Quoten „Big Brother“ und „Wer wird Millionär“ angesetzt). Die gleiche Situation konnten wir auch bei den Wiederholungen beobachten. Damals kamen auch viele negative Reaktionen, an erster Stelle von denen, die permanent ein Gleichgewicht suchen und erwarten, dass man gleichzeitig über die Verbrechen auf allen Seiten spricht. Allerdings gab es keine Person, die versucht hätte, Fakten zu verleugnen.

ZOL: Außer in Ex-Jugoslawien konnte den Film auch das Publikum im Ausland sehen, beispielsweise in München und Amsterdam. Wie wurde der Film dort aufgenommen?

Matić: Die Menschen neigen zum schnellen Vergessen, was auch daran liegt, dass sich nach Vukovar die Zahl der Kriegsverbrechen drastisch erhöhte. Die Wiederbelebung der Geschichte Vukovars erinnerte viele an etwas, was schon unterdrückt war, es gab sehr viele die Vukovar nicht erlebt hatten, für die diese Geschichte ganz neu war und das ist auch wichtig; je mehr glaubwürdige Dokumente dieses Typs vorhanden sind, desto eher kann dies den Nachgeborenen helfen zu verstehen.

ZOL: Wie schätzen Sie die Rolle der inländischen Medien ein, wenn es um die Frage von Kriegsverbrechen und Kriegsschuld geht? Was planen Sie als Sender in Bezug auf das Thema der Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit?

Matić: Die Medien können im gleichen Maße in dem sie die Bedingungen und die Atmosphäre geschaffen haben, dass sich brutale Verbrechen ereignen konnten, gerade mit solchen Projekten eine große Rolle bei der Versöhnung spielen. Wir haben mehr als zwanzig Filme und ein paar Serien über verschiedene Aspekte des Krieges gedreht. Einige Filme enthüllten Verbrechen und führten zu Verhaftungen und Verurteilungen von Tätern in Den Haag und in Belgrad. Das sind Themen mit denen unser ganzes Programm sensibel umgeht. Unsere Gesellschaft bezahlt nämlich noch heute einen hohen Preis, weil sie den Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht konsequent verfolgt hat und weil in unserem öffentlichen, wirtschaftlichen und kriminellen Leben noch immer Personen präsent sind, die Teil des Mechanismus waren, welcher in den 1990er Jahren Verbrechen ermöglichte.

ZOL: Wie sehen Sie die Chancen für eine zukünftige Verständigung zwischen Serben und Kroaten? Gibt es  gemeinsamen Projekte auf diesem Gebiet? Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die EU im Verständigungsprozess?

Matić: Es wäre sehr wichtig die Erfahrungen der Vergangenheitsbewältigung zwischen Deutschland und Frankreich zu nutzen. Es ist notwendig, institutionelle Voraussetzungen für die Kommunikation zu schaffen, den Austausch von Projekten aus den Bereichen der Kultur, des Jugendaustausches, der Bildung anzuregen. Wir stehen uns sehr nah als Völker, Kulturen, Gemeinschaften etc. und ich bin mir sicher, dass es nicht schwer ist, Formen der Kommunikation und der fruchtbaren Zusammenarbeit wiederherzustellen. Natürlich muss man dabei ständig diejenigen im Auge behalten, die diese Beziehungen schädigen, die Hass und Phobien verbreiten, da noch immer ein fruchtbarer Boden für solche Stimmungen vorhanden ist.

Zwanzig Jahre nach dem Kriegsbeginn in Bosnien

von
Holm Sundhaussen

Zwanzig Jahre nach Beginn des Krieges in Bosnien (April 1992) und siebzehn Jahre nach dessen Ende ist die Aufarbeitung des Krieges in der Bevölkerung kaum vorangekommen. Zwanzig Jahre sind im Leben einer Gesellschaft allerdings kein langer Zeitraum. Und die Erwartungen/Hoffnungen (vornehmlich) ausländischer Beobachter, dass dem Kriegsende eine baldige kritische  Auseinandersetzung mit den Ursachen folgen würde, waren wirklichkeitsfremd. In Deutschland setzte die „Vergangenheitsbewältigung“ erst gut zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein - gegen nach wie vor massive Widerstände in Teilen der Gesellschaft. Und dies, obwohl die Rahmenbedingungen in Deutschland günstiger waren als in Bosnien-Herzegowina. In beiden Fällen standen die Transformation von Politik, Recht, Wirtschaft und Kultur auf der einen und die „Vergangenheitsbewältigung“ auf der anderen Seite zeitgleich auf der Agenda und sollten sich wechselseitig stützen. Aber während der Transformationsprozess im Westen Deutschlands durch das wenige Jahre nach Kriegsende einsetzende „Wirtschaftswunder“ materiell unterfüttert wurde, kann davon in Bosnien-Herzegowina noch immer keine Rede sein. Das ist jedoch nicht der einzige und nicht der wichtigste Unterschied.   

Für die Aufarbeitung eines Krieges und seiner Folgen sind die Deutung des Krieges und die Ursachenanalyse entscheidend. Die Auseinandersetzung mit einem zwischenstaatlichen Krieg verlangt andere Strategien der Kriegsbewältigung als die Auseinandersetzung mit einem Bürgerkrieg. Und es macht einen Unterschied, ob es sich um einen politisch-ideologischen, einen religiösen oder einen ethnonationalen Bürgerkrieg handelt. Der Bosnienkrieg sowie die anderen postjugoslawischen Kriege waren ethnische oder ethnoreligiöse Kriege, die sowohl Elemente von zwischenstaatlichen Kriegen (dank der Einmischungen Restjugoslawiens und Kroatiens) als auch v.a. Elemente von Bürgerkriegen beinhalteten.[1] Verbindendes Element war jeweils die ethnische Ausrichtung. Warum ist das so wichtig? Politik und Ideologie sowie die daraus eventuell resultierenden Feindschaften sind wandelbar; auch die Religionszugehörigkeit kann man wechseln. Eine Gesellschaft oder Teile einer Gesellschaft können durch eine „falsche“ Ideologie „verführt“ worden sein.  Oder sie können – sei es unter Zwang, sei es aus „Opportunismus“ – einen „falschen“ Glauben (eventuell auch eine „falsche“ Sprache) angenommen und damit das Erbe ihrer Vorfahren „verraten“ haben. Das ist schlimm genug. Aber es ist korrigierbar, sofern die Nachfahren der „Verräter“ einsichtig sind. Dagegen ist eine  ethnonational verstandene Feindschaft grundsätzlicher Art. Zumindest in den Fällen, in denen Ethnien und Nationen essentialistisch gedeutet werden: als weit in die Vergangenheit zurückprojizierte, unwandelbare biologische Abstammungsgemeinschaften. Denn im Unterschied zu einer politischen Einstellung oder zur Religionszugehörigkeit kann man seine Abstammung nicht verändern. Man kann sie verheimlichen, fälschen - aber verändern kann man sie nicht. Serbe bleibt Serbe, Kroate bleibt Kroate usw. Bosnische Muslime können zwar eine Glaubensgemeinschaft, doch keine Bosniaken im Sinn von Nation sein, da sie „eigentlich“ islamisierte Serben oder islamisierte Kroaten sind, die weder die Möglichkeit noch das Recht haben, aus ihrer Abstammungsgemeinschaft auszutreten. Biljana Plavšić, Professorin für Biologie und Nachfolgerin von Radovan Karadžić als Präsidentin der (bosnischen) Republika Srpska, übrigens die einzige Frau, die vom Haager Kriegsverbrechertribunal verurteilt wurde, brachte es auf den Punkt: Die Bosniaken, deren Vorfahren Serben gewesen seien, sind „genetisch defektes Material, das zum Islam konvertiert sei und das sich mit jeder weiteren Generation auf bösartige Weise vermehre“.[2]

Es geht hier nicht darum, dass Nationen – sowohl Staatsbürgernationen wie Ethnonationen - relativ junge Konstrukte sind, sondern es geht um die Selbst- und/oder Fremdwahrnehmung einer Nation, um Ursprungs- und Kontinuitätsfantasien. In weiten Teilen Europas (von Deutschland bis zum Balkan) werden Ethnien und die aus ihnen hervorgegangenen Nationen als Konstanten verstanden; ihr „biologischer Kern“ war immer da. Und in der Tat: Ethnische Merkmale (wie Verwandtschaft, Sprache, Religion, Territorium und Volksbezeichnungen) hat es stets gegeben. Nur die Träger dieser Merkmale zum Zeitpunkt x sind nicht zwangsläufig die Nachfahren der Träger zu einem früheren Zeitpunkt y. Als Folge von Migrationen (im Raum und zwischen den Kulturen) und infolge interethnischer Eheschließungen kann sich die personelle Zusammensetzung einer ethnischen Gruppe im Lauf der Zeit völlig verändern. Die biologische Abstammungsgemeinschaft ist daher eine Fiktion, zumal die  gemeinsame Abstammung einer Großgruppe (Nation) in der Regel weder verifizierbar noch falsifizierbar ist. Für viele Menschen ist dies – zumindest in „Normalzeiten“ - auch gar nicht wichtig. Doch während der postjugoslawischen Kriege erhielt die Ethnizität eine herausragende, oft existentielle Bedeutung. Deshalb wurden und werden diese Kriege als „ethnische Kriege“ gedeutet. Denn es war die Ethnizität, die bestimmte, wer Freund und Feind war.[3] Und da die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft das entscheidende ethnische Differenzierungsmerkmal in Bosnien-Herzegowina darstellt(e), konnte auch, wenngleich missverständlich, von einem „Religionskrieg“ gesprochen werden. Bosniaken, bosnische Serben und bosnische Kroaten sprechen dieselbe Sprache; sie alle sind Südslawen und sie leben alle auf demselben Territorium. Was sie unterscheidet, ist die Religionszugehörigkeit (Islam, Orthodoxie, Katholizismus). Mit anderen Worten: Die Religionszugehörigkeit ist das maßgebende Identitätsmerkmal, auch für diejenigen, die nicht religiös sind. Und ein Großteil der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina (ähnlich wie in Serbien, Montenegro, Makedonien und Kosovo) war nicht religiös. Im Krieg ging es daher nicht primär um die Religion (obwohl deren Bedeutung während des Krieges zunahm, v.a. bei Muslimen und Orthodoxen, während sie bei Katholiken bereits vorher stärker ausgeprägt war), sondern um die Nation. Samuel Huntingtons Paradigma vom „Clash of Civilizations“ trifft die Realität in Bosnien deshalb nur sehr bedingt.[4] 

Allerdings waren die postjugoslawischen Kriege keine ethnischen oder ethnoreligiösen Kriege im Sinne der Verursachung. Das heißt: Nicht ethnische Unterschiede – geschweige denn: ein „atavistischer ethnischer Hass“ – waren Ursache der Kriege, sondern der ethnische oder ethnoreligiöse Hass war Begleiterscheinung und Folge der Kriege.[5] Dass Ursache und Folge zunächst verwechselt wurden, hat viele Politiker und Analysten in eine falsche Richtung gelockt.[6] Sie übersahen, dass ein Krieg nicht nur Chaos und Zerstörung schafft - er stiftet auch eine neue, simple Ordnung und sorgt für scharfe Trennlinien, die es vorher in dieser Form nicht gegeben hat. Neu waren nicht die ethnischen Unterschiede – sie hatten auch vor dem Krieg bestanden, obwohl sie in vielen Fällen alles andere als eindeutig gewesen waren -, neu war die Bedeutung, die ihnen zugemessen wurde, ihre vermeintliche Eindeutigkeit und ihre Umsetzung in Gewalt. Für Bosnien-Herzegowina ist ein ethnischer Hass vor Kriegsbeginn nicht nachweisbar. Das bedeutet nicht, dass es keine Fanatiker und „Fundamentalisten“ gegeben hätte; die gibt es nahezu überall. Auch ethnisch konnotierte Verteilungskämpfe gab es; sie gehören in multiethnischen Gesellschaften zum Alltag. Aber alle Umfragen (bis in das Jahr 1990 hinein) deuten darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung keine grundsätzlichen Probleme mit interethnischen Beziehungen hatte.[7] Das änderte sich erst unmittelbar vor dem Krieg oder nach Kriegsbeginn, also innerhalb eines kurzen Zeitraums von weniger als zwei Jahren. 

Dieser abrupte Wechsel erklärt sich v.a. aus drei Umständen: Erstens aus der unverarbeiteten Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, als die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas nicht nur entlang politisch-ideologischer, sondern auch entlang ethnischer Trennlinien in feindliche Lager gespalten worden war.[8] Die in der öffentlichen Erinnerungskultur jahrzehntelang tabuisierte ethnische Qualität des Krieges wurde nun von den „Deutungseliten“ aus dem Vergessen geholt, während die bisher ausschließlich betonte politisch-ideologische Komponente (Faschisten vs. Antifaschisten oder Kollaborateure vs. Verräter, jenseits ethnisch-nationaler Grenzen) in den Hintergrund rückte. Alte, mittlerweile verblasste Feindbilder wurden neu belebt.[9] „Nehmen und verknüpfen, was da ist“, hat Claude Lévy-Strauss diese Methode der Verknüpfung (bricolage) von unmittelbar zur Verfügung stehenden Zeichen oder Ereignissen zu neuen Strukturen genannt.[10] Der Wechsel erklärt sich zweitens aus der Tatsache, dass dem Ende Jugoslawiens ein Jahrzehnt geistig-mentaler Umkodierung vorausgegangen war, die zwar zunächst ein Elitenphänomen geblieben war, aber den öffentlichen Diskursen eine neue Richtung verliehen hatte.[11] Erst als Slobodan Milošević in Serbien ab 1987/88 den Schulterschluss mit den nationalistisch orientierten geistigen und geistlichen Eliten suchte und vorhandene soziale Unzufriedenheit (ethno)politisch kanalisierte, begann die „Mobilisierung der Straße“ und ein Prozess wechselseitiger ethnonationaler Abgrenzungen, an dessen Ende der Krieg stand.[12]
Drittens resultierte der abrupte Wechsel aus der Initiierung (nicht aus dem „Ausbruch“, sondern aus  der gezielten und bewussten Initiierung) von Gewalt, die große Teile der Bevölkerung unvorbereitet traf, deren Hintergründe unverständlich waren und die die Menschen zu Opfern ihrer „Deutungseliten“ machte. Diese „erklärten“ (unter Rückgriff auf die Vergangenheit), was warum geschehen war, und der „normale“ Bürger hatte keine Möglichkeit, diese „Erklärungen“ zu hinterfragen oder zu überprüfen. Doch der Druck sich zu entscheiden blieb: Entweder du gehörst zu „uns“ oder du gehörst zu den „anderen“. Ein Dazwischen gab es nicht mehr; auch kein Sowohl-als-Auch. Und auch die Angst blieb; sie wurde zum wichtigsten Instrument der politischen und militärischen Akteure.
[13] Ein kroatischer Ex-Krieger berichtete 1997 in einem Interview: „Keine Spur davon, dass mich jemand gehasst hat, weil ich Kroate bin oder dass ich jemanden gehasst habe, weil er Serbe oder irgendeine Nationalität ist. Ich erwähne das nur, weil der Krieg in diese Richtung sich entwickelte, oder auch in zwei […] Aber vielleicht gab es einige…, bei einigen, die eher in der Minderheit waren, war ein verdeckter, ein stark verdeckter Hass zu spüren.“ Und an anderer Stelle: „Ich bin freiwillig in den Krieg gezogen, aus dem ganz einfachen Grund, weil ich mit meinem Einsatz dazu beitragen wollte, diejenigen zu verteidigen, die hinter mir blieben, also meine Allerliebsten und alles, was ich besitze und so weiter. Da gibt es nicht viel Philosophie!“ „‚Töte ihn, bevor er dich tötet!’ – das ist der Anfang und das Ende der Philosophie!“[14] Mit anderen Worten: Ethnischer Hass oder extremer Nationalismus sind keine Konstanten, sondern Ressourcen, die aktiviert oder deaktiviert, genutzt oder nicht genutzt werden können. Allerdings ist die Aktivierung früherer Feindbilder und Feindschaften in Zeiten einer tiefen Krise und allgemeiner Verunsicherung (wie im ehem. Jugoslawien während der 1980er Jahre) bei der allfälligen Suche nach „Erklärungen“ und „Sündenböcken“ schneller zu bewerkstelligen als die Deaktivierung, v.a. wenn dieser eine konkrete und rezente Gewalterfahrung vorausgegangen ist, die nicht nur Menschen und Güter, lokale Gemeinschaften und Nachbarschaften, sondern auch soziales Vertrauen restlos zerstört hat. Zurück blieb eine ethnisch gespaltene, von wechselseitigem Misstrauen zerfressene Gesellschaft. Politisch-ideologische Gegensätze innerhalb der ethnoreligiösen Gemeinschaften wurden dagegen zugekleistert (denn wie gesagt: Fehler kann jeder einmal machen). Was zählte, war allein das nationale Imaginarium.

In ethnisch gespaltenen Bürgerkriegsgesellschaften erhält die „Vergangenheitsbewältigung“ eine zusätzlich erschwerende Komponente. Selbst in Gesellschaften, die „nur“ einen politisch-ideologischen Bürgerkrieg hinter sich haben, erweist sich die „Vergangenheitsbewältigung“ als schmerzhafter, langwieriger Prozess. In ethnisch gespaltenen Gesellschaften ähnelt sie der Quadratur des Kreises. Denn die ethnisch-essentialistische Emotionalisierung der Bevölkerung und die Gewalterfahrung stehen der „Vergangenheitsbewältigung“ wie erratische Blöcke im Wege.

Fast die gesamte Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas, die vor dem Krieg 4,4 Millionen betrug  (darunter knapp 44% Muslime, reichlich 31% Serben, 17% Kroaten, der Rest: Sonstige, namentlich „Jugoslawen“), wurde in der einen oder anderen Form Opfer der ethnischen bzw. ethnoreligiösen Wahnvorstellungen. Die Zahl der Kriegstoten wurde zunächst auf 200.000-250.000 geschätzt. Diese Zahl konnte empirisch nicht erhärtet werden. Das von Mirsad Tokača geleitete „Research and Documentation Center“ (RDC), einer 2004 gegründeten NGO  in Sarajevo, hat in jahrelanger  Kleinarbeit eine Datenbank der Kriegstoten (mit den jeweiligen Namen, den wichtigsten biographischen Angaben und den Todesumständen) zusammengestellt und 2007 der Öffentlichkeit präsentiert.[15] Mit dieser - in den Medien als „Bosnia’s Book of the Dead“  titulierten - Datenbank erhielt jeder Tote einen Namen. Ermittelt wurden insgesamt mehr als 97.000 Menschen, darunter knapp 40.000 Zivilisten, von denen über 80% Bosniaken waren. Die Liste war sicher nicht vollständig, und der eine oder andere Eintrag mag sich als falsch erwiesen haben, aber eine Zahl von 100.000-110.000 Kriegstoten dürfte in etwa der Realität entsprechen - ein Ergebnis, das auch von ausländischen Demographen bestätigt wird.[16] Die Angaben des RDC stießen sowohl auf bosniakischer wie bosnisch-serbischer Seite auf scharfe Kritik. Bosniaken kritisierten, dass die Gesamtzahl zu niedrig sei, Serben kritisierten, dass die Zahl der bosniakischen Kriegstoten (z.B. der Opfer des Völkermords von Srebrenica) zu hoch, die der serbischen Kriegstoten zu gering ausgefallen sei. Zwar nahmen die Auseinandersetzungen bislang nicht so bizarre Formen an wie der Streit, der seit etwa Mitte der 1980er Jahre über die jugoslawischen Weltkriegstoten ausgetragen wird, aber das kann sich noch ändern. Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen (innerhalb Bosniens und im Ausland) wurde von internationalen Organisationen auf etwa zwei Millionen geschätzt. Rechnet man die Kriegsinvaliden, die während des Krieges internierten Personen, die Witwen und Waisen, die unbekannte Zahl traumatisierter Menschen, die vergewaltigten Mädchen und Frauen sowie die aus Vergewaltigungen hervorgegangenen Kinder zu den Kriegsopfern hinzu und berücksichtigt man darüber hinaus die 400.000-500.000 Männer, die in den verschiedenen militärischen und paramilitärischen Einheiten gekämpft haben, so kommt man schnell auf eine Größenordnung, die der der Gesamtbevölkerung sehr nahe kommt.[17] Kaum eine Familie in Bosnien blieb vom Krieg und seinen Folgen verschont. Von der gezielten Zerstörung kultureller Güter ganz zu schweigen! Bei Kriegsende glich Bosnien-Herzegowina einem gigantischen Schutthaufen der Kultur.

Opfer ethnischer Säuberungen gab es auf allen Seiten. Da viele Personen in wechselnden Konstellationen sowohl Opfer wie Täter waren, ergibt sich ein kompliziertes Gemisch aus teils traumatisierten, teils heroisierten, teils viktimisierten Erfahrungen, jeweils eingebunden in unterschiedliche politische, nationale und lokale Kontexte. Es gab Opfer, die nur Opfer waren, solche, die aus Opfern zu Tätern, und andere, die aus Tätern zu Opfern wurden. Der serbische Ex-Krieger Stevan Kovačević erklärte 1997 in einem Interview: „Das ist übrigens das, was so schlimm daran ist: Es wird gekämpft und ich habe es später erst begriffen, dass nur gekämpft wird wegen des Krieges und damit irgendjemand davon profitieren kann. Ich meine, es gibt keinen anderen Grund dafür.“[18] Auch zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn ist es noch immer zu früh, eine Zwischenbilanz der divergierenden Kriegserinnerungen zu ziehen.[19] Auch die Erforschung der Kriegsfolgen steht noch ganz am Anfang. Diese umfassen ein breites Spektrum von unterschiedlichen Sachverhalten: den Verlust von Angehörigen, den Verlust der physischen und/oder psychischen Unversehrtheit, den Verlust von Eigentum, den Verlust der Heimat, den Verlust von Sicherheit und Vertrauen etc. Im Jahr 2007 hat Benjamin Bieber eine nahezu 700 Seiten starke Arbeit über die Kriegsfolgen in Bosnien-Herzegowina vorgelegt: über die Versorgung von Invaliden, die Selbstmorde von ehemaligen Soldaten, Veteranen und Witwen, Kriminalität, Alkoholismus und aggressives Verhalten nach den Kriegen, kriegsbedingte Probleme in Ehe und Familie usw.[20] Es enthält eine Fülle sehr wichtiger Beobachtungen, ist aber theoretisch, methodisch und empirisch so chaotisch angelegt, dass man aus ihm keine verallgemeinerbaren Aussagen herleiten kann (es sei denn ganz banaler Art).

Dass es Opfer und Täter auf allen Seiten gab, bedeutet freilich nicht, dass sich die Frage nach der Verantwortung in einer unverbindlichen „Alle-sind-Schuld“-These auflösen ließe. Auch Gewalt hat eine Chronologie. Ist sie einmal in Gang gesetzt, entwickelt sie bald eine Eigendynamik. Die Tatsache, dass Gewalt Gewalt gebiert, ist so alt wie die Menschheit selbst. Gewaltbereitschaft gibt es in allen Gesellschaften, überall auf der Welt und zu allen Zeiten. Psychopathische Sadisten, Kriminelle, Fanatiker sowie Personen, die vom Krieg zu profitieren hoffen, gibt es ebenfalls überall. Und sobald die Regelwerke eingerissen werden, die wir zum Schutz vor uns selbst ausgehandelt haben, steht der Gewalteskalation nichts mehr im Weg. Hier ist nicht der Platz, Anfänge und Verlauf des Bosnienkrieges darzustellen,[21] doch mit Blick auf die Anfänge der Gewalt bleibt ein Punkt festzuhalten:  Unzweifelhaft ist, dass die Funktionäre der „Serbischen Demokratischen Partei“ (SDS) schon bald nach den ersten freien Wahlen in Bosnien von Ende 1990 dazu übergingen, para-staatliche serbische Territorien zu schaffen, die sich der Zuständigkeit der Regierung in Sarajevo (an der auch die SDS beteiligt war) entzogen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Gemeinden (opštine) oder die sich selbst verwaltenden Ortsgemeinschaften (mesne zajednice) innerhalb der Gemeinden, wo die ethnische Segregation im Alltag auf Betreiben örtlicher Funktionäre und „Autoritäten“ vorangetrieben wurde. Kommunen mit serbischer Mehrheit oder einem bedeutenden serbischen Bevölkerungsanteil schlossen sich freiwillig oder unter massivem Druck örtlicher SDS-Funktionäre zu größeren Gemeinschaften zusammen, die in der Verfassung nicht vorgesehen waren. Nicht-Serben sahen sich permanenten Anfeindungen ausgesetzt; viele verließen die Gebiete. Die lokalen SDS-Führer verteilten Waffen an die serbische Bevölkerung. Diese stammten aus den Beständen der Jugoslawischen Volksarmee und der bosnischen Territorialverteidigung oder waren auf anderem Weg besorgt worden. Waffen gab es reichlich. Auf Parteiversammlungen und „Meetings“ wurde offen von einem bevorstehenden Krieg gesprochen. Und es wurden schon Listen mit Namen von Muslimen angelegt, die im Fall eines erwarteten Konflikts ausgeschaltet werden sollten. „Insbesondere in jenen Teilen des Landes, in denen die bosniakische Bevölkerung…die Mehrheit bildete, wurden bereits in dieser frühen Phase [sechs bis neun Monate vor Ausbruch der Kriegshandlungen] die ersten Vorbereitungen für eine Entmachtung und Eliminierung der Führungsstrukturen der Bosniaken und Kroaten getroffen. So wurde mit Hilfe ortskundiger Serben eine umfassende Identifikation der Oberschicht vorgenommen; alle Repräsentanten des öffentlichen Lebens, alle Politiker und Funktionäre, alle SDA-Mitglieder[22] und Aktivisten, die gesamte intellektuelle, wirtschaftliche und religiöse Lokalelite sowie all diejenigen Einzelpersonen, die auf andere Weise beachtlichen Einfluss auf die Lokalgemeinde ihrer Bevölkerungsgruppe ausübten, wurden auf Suchlisten gesetzt.“[23] Nach Kriegsbeginn betätigten sich dann die lokalen Akteure als Handlanger für das ortsfremde Militär und die paramilitärischen Banden.   

Die Kriegsvorbereitungen wurden damit begründet, dass die  Serben weiterhin zu Jugoslawien gehören wollten, obwohl das, was Jahrzehnte als „Jugoslawien“ bezeichnet wurde, nicht mehr existierte. (Die Verantwortung für sein Scheitern verteilte sich auf viele Schultern. Aber das ist ein eigenes Thema.) Sie wollten nicht als Minderheit in einem neuen Staat leben (schon gar nicht in einem „islamistischen“). Dieses Argument ging insofern an der Realität vorbei, als die Serben in Bosnien-Herzegowina nicht den Status einer Minderheit hatten, sondern eines der drei „staatstragenden“ Völker darstellten. Dass sie nicht zu einer Minderheit „degradiert“ werden wollten, ist nachvollziehbar (obwohl dies - anders als in Kroatien - in Bosnien nicht zur Debatte stand). Zu keiner Minderheit gehören zu wollen ist kein spezifisch serbisches Problem, auch wenn es von serbischen Nationalisten gern so dargestellt wird. Es betrifft auch Albaner, Kroaten, Bosniaken und viele andere im ehemaligen Jugoslawien. Die meisten Menschen wollen zu irgendeiner Mehrheit gehören, weil sie sich damit auf der „richtigen“ Seite wähnen. Die Furcht vor einem „Minderheitenstatus“ spornte die serbische Führung an, Nicht-Serben zu diskriminieren, sie zur Flucht zu animieren, zu vertreiben und schlimmstenfalls zu ermorden: Natürlich nur „präventiv“, damit nicht einträte, was Nationalisten ständig „prophezeiten“ und mit verbaler Gewalt vorbereiteten.

In einer ethnisch heterogenen Region lässt sich das Problem nationaler Mehr- und Minderheiten nur lösen, wenn das Konzept der Ethnonation durch das Konzept der Staatsbürgernation ersetzt wird. Zwar gibt es auch in Staatsbürgernationen Mehrheiten und Minderheiten (in politischen, sozialen oder anderen Fragen), auch eine ethnische Minderheit ist nicht ausgeschlossen (sofern es sich dabei um Personen handelt, die nicht die Staatsbürgerschaft besitzen). Aber eine Staatsbürgernation ist grundsätzlich ethnisch neutral, was Abweichungen in der Praxis gewiss nicht ausschließt. Der Weg von der Ethnonation zur Staatsbürgernation ist freilich lang. Auch dafür bietet das deutsche Beispiel reichliches Anschauungsmaterial.

In einem Punkt waren sich alle Kriegsparteien in Bosnien (wie in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien) einig:  Sie haben nur einen „Verteidigungskrieg“ geführt, haben nur getan, was jeder „anständige“ Mensch in einer solchen Situation tun würde und getan hätte.[24] Dass auch in einem Verteidigungskrieg nicht alles erlaubt ist, bleibt für viele Menschen fremd und unverständlich: Wer sich verteidigt, kann keine Verbrechen begehen. Unter derartigen Voraussetzungen kann eine „Vergangenheitsbewältigung“ nicht funktionieren. Was letztere von den meisten anderen Formen des Umgangs mit Vergangenheit unterscheidet, ist der Ausgangspunkt: das Eingeständnis eigener Verantwortung und Schuld. Wer ausschließlich oder primär die Verbrechen des vormaligen Feindes „aufarbeitet“ oder eigene Verbrechen gegen diese aufrechnet, betreibt das Gegenteil von dem, was hier gemeint ist. Kriegs- bzw. Vergangenheitsbewältigung mit der für Bürgerkriegsgesellschaften spezifischen Komponente der ethnischen (und/oder politischen Versöhnung) ist ein vielschichtiger Prozess, eine Herkules-Aufgabe, die auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Zeitrahmen in Angriff genommen werden muss und durch Kontroversen über Ursachen, Auslöser und Rahmenbedingen des Konflikts schwer belastet wird. In Bosnien-Herzegowina ist in dieser Hinsicht bislang wenig geschehen. Die juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen (unabhängig vom Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag) kam erst viele Jahre nach Kriegsende allmählich in Gang. In einem Bericht von „Human Rights Watch“ aus dem Jahr 2004 heißt es: “The monitoring indicates that, as a rule, the ordinary national courts of Bosnia and Herzegovina (particularly in Republika Srpska…)…are not currently equipped to hear war crimes cases – which are often politically and emotionally charged, as well as legally complex – in a fair manner. Key obstacles include: bias on the part of judges and prosecutors, poor case preparation by prosecutors, inadequate cooperation from the police in the conduct of investigations, poor cooperation between the states on judicial matters, and ineffective witness protection mechanisms.”[25] Beklagt wurden sowohl die fehlende Unterstützung durch die Regierung wie durch die Medien, der Mangel an entsprechend geschulten Richtern und Staatsanwälten sowie die Knappheit an materiellen Ressourcen. Und noch 2008 steht in einem Bericht über Bosnien-Herzegowina: „Simply put no…prosecutor’s office or court could – with its present resources – fairly, efficiently and effectively investigate, prosecute or adjudicate a substantial number of war crime cases.“[26]

Die Rechtsprechung des Haager Tribunals wird von der Bevölkerung in Bosnien (ebenso wie in Kroatien, Serbien und Kosovo) nach wie vor abgelehnt, sofern Angehörige der eigenen Nation verurteilt oder Mitglieder einer anderen Nation freigesprochen werden.[27] Eine „Lustration“ hat in Bosnien nicht stattgefunden.[28] An vielen Schaltstellen der Macht sitzen nach wie vor dieselben Leute, die während der sozialistischen Phase und im Bosnienkrieg eine zweifelhafte Rolle gespielt haben. Und die wiederholt geforderte Gründung einer  „Wahrheitsfindungskommission“ ist bislang stets gescheitert.[29] Auch die Politik gegenüber Flüchtlingen und Vertriebenen anderer Nationalität ist ein wichtiges Indiz dafür, wie Staaten und Gesellschaften mit ihrer jüngsten Vergangenheit umgehen. Die Pflicht zur Reintegration von „displaced persons“ findet sich in allen von der internationalen Gemeinschaft ausgehandelten Friedensvereinbarungen für das ehemalige Jugoslawien. Das Dayton-Abkommen für Bosnien-Herzegowina von 1995 war in dieser Hinsicht ein völkerrechtliches Novum, mit dem die „internationale Gemeinschaft“ eine Wende um 180 Grad vollzog.[30] Doch bald zeigte sich, dass die Rückkehr von Flüchtlingen und „displaced persons“ nach einer Phase extremer Gewalteskalation ein langfristiger Prozess mit offenem Ausgang ist, der von vielen Faktoren (darunter Sicherheit für das Leben der Rückkehrer, Regelung der Eigentumsverhältnisse, Aufarbeitung der Vergangenheit und Zukunftsperspektiven für die Bevölkerung vor Ort) abhängig ist. Bis Ende Mai 2004 waren insgesamt knapp eine Million Flüchtlinge und Vertriebene – weniger als die Hälfte aller Betroffenen - an ihre früheren Wohnorte in Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt. Danach ebbte die Rückkehrwelle ab. Und Viele werden nie zurückkehren.[31]

Überraschend sind diese Ergebnisse nicht, sofern man noch einmal an die „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland in den ersten zwanzig Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs denkt: ein ähnlich dumpfer Nationalismus, eine ähnliche Ignoranz, ähnliche Opferphantasien, eine ähnliche Unfähigkeit der Erlebnisgenerationen, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen, ähnliche Defizite bei der juristischen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen usw. Alles wie gehabt. Nur dass in Deutschland die Bürgerkriegskomponente fehlte. Aber Bosnien ist alles andere als ein Ausnahmefall. Der Umstand freilich, dass das in zwei „Entitäten“ (die bosniakisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska) geteilte Land auch politisch und wirtschaftlich nicht richtig vorankommt, dass das 1995 eingerichtete internationale Semi-Protektorat über Bosnien-Herzegowina weiterhin besteht, dass die internationale Politik ebenso unstet wie ineffizient ist, dass eine Mehrheit der Politiker nach wie vor nicht bereit ist, im Interesse der Gesamtgesellschaft tätig zu werden, dass serbische und kroatische „hardliner“ den Aufbau eines funktionierenden Gesamtstaats immer wieder blockieren, dass auch ein Teil der bosniakischen Politiker völlig unrealistische Ziele verfolgt, dass elementare Voraussetzungen für eine künftige Mitgliedschaft Bosniens in der EU nicht gegeben sind, dass die Korruption blüht und die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, bleibt deprimierend und schockierend.  In ihrem Bericht vom Herbst 2010 kam die EU-Kommission in Brüssel zu einer überaus ernüchternden Bilanz: „Bosnia and Herzegovina has made limited progress in addressing the political criteria. (…) Overall implementation of reforms was insufficient and the domestic political climate during the pre-electoral period was dominated by nationalistic rhetoric. The lack of a shared vision by political leaders on the direction of the country is blocking key EU-related reforms and impeding further progress towards the EU. (…) Regarding democracy and the rule of law, there has been little progress towards constitutional reform and towards creating functional and effective institutional structures. (…) Bosnia and Herzegovina has made limited progress in improving the judicial system. (…) Bosnia and Herzegovina has achieved limited progress in tackling corruption, which remains a serious problem and is prevalent in many areas. (…) There has been limited progress regarding human rights and protection of minorities.“ Usw.[32] 

Die geschundenen Menschen in Bosnien-Herzegowina haben siebzehn Jahre nach Kriegsende wahrlich etwas Besseres verdient. Die stets uneinige „internationale Gemeinschaft“ und die stets uneinigen Politiker vor Ort stehen in ihrer Schuld.

 


[1] Mit der Literatur zu den postjugoslawischen Kriegen – zu Vorgeschichte, Verlauf und Folgen - kann man mittlerweile eine umfangreiche Bibliographie füllen. Die vorliegende Skizze beschränkt sich auf eine kleine Auswahl von Belegen. Für eine ausführliche Darstellung (mit entsprechenden Quellen- und Literaturnachweisen) vgl. meine Monographie: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien u.a. 2012. 

[2] Vgl. Marek Kohn, The Race Gallery. The Return of Racial Science. London 1995, S. 232, hier zit. nach Christian Promitzer, Vermessene Körper: „Rassenkundliche“ Grenzziehungen im südöstlichen Europa, - in: Europa und die Grenzen im Kopf. Hg. Karl Kaser - Dagmar Gramshammer-Hohl - Robert Pichler. Klagenfurt 2003, S. 365-393, S. 365.

[3] Die Bezeichnung „ethnische Kriege“ hat insofern Verwirrung gestiftet, weil sie einerseits zur Beschreibung der gegnerischen Fronten während des Krieges, andererseits auch zur Beschreibung der Kriegsursachen verwendet wird. Letzteres traf nicht zu.   

[4] Huntington hat in seinem Aufsatz und gleichnamigen Buch „Clash of Civilizations“ von 1993 resp. 1996 u.a. Bosnien und Kosovo als Fallbeispiele für Kriege in kulturell gespaltenen Territorien/Staaten („cleft countries“) und für Kriege an den Bruchstellen unterschiedlicher (vornehmlich religiös geprägter) Zivilisationen/Kulturen („fault line wars“) herangezogen. Vgl. Samuel Huntington, The Clash of Civilizations?, - in: Foreign Affairs 72 (1993), 3, S. 21-49; Ders, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York 1996. Auf eine Debatte seiner Thesen muss hier verzichtet werden. Zur Kritik vgl. u.a. Florian Bieber, The Conflict in former Yugoslavia as a „Fault Line War“?, - in: Balkanologie 3 (1999), 1, S. 33-48. Zur viel beschworenen Re-Islamisierung Bosniens vgl. Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, S. 236 ff. und 506 ff.

[5] Vgl. Valère P. Gagnon, The Myth of Ethnic War. Serbia and Croatia in the 1990s. Ithaca/New York 2004.

[6] Besonders wirkmächtig erwies sich die Arbeit von Robert Kaplan, Balkan Ghosts. A Journey Through History. New York 1993, die namentlich die US-Politik in der ersten Phase des Bosnienkriegs beeinflusst hat. 

[7] Vgl. u.a. Yugoslav Survey 1990: Public Opinion Survey on the Federal Executive Council’s Social and Economic Reform, 31. Mai 1990. Beograd 1990; Ljiljana Baćević [u.a.], Jugoslavija na kriznoj prekretnici.Beograd 1991 , S. 236 u. passim; Laslo Sekelj, Yugoslavia: The process of disintegration. New York 1993, S. 277; Dejan Jović, Yugoslavia. A State that Withered Away. West Lafayette/Ind 2009, S. 354 ff.; Anthony Oberschall, From Ethnic Cooperation to Violence and War in Yugoslavia, - in: Daniel Chirot, Daniel – Martin E.P. Seligman (Hg.), Ethnopolitical Warfare. Causes, Consequences, and Possible Solutions. Wshington/D.C. 2001, S. 119-150.

[8] Vgl. u.a. Tomislav Dulić, Utopias of Nation. Local Mass Killing in Bosnia and Herzegovina, 1941-1942. Stockholm 2005.

[9] Zur jugoslawischen Erinnerungskultur und ihrer Umkodierung vgl. u.a. Wolfgang Höpken, Vergangenheitspolitik im sozialistischen Vielvölkerstaat: Jugoslawien 1944-1991, - in: Petra Bock – Edgar Wolfrum (Hg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerungen und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich. Göttingen 1999, S. 210-246; Ders., Der Zweite Weltkrieg in den jugoslawischen und postjugoslawischen Schulbüchern, - in: Ders. (Hg.), Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa. Hannover 1996, S. 159-178; Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten. Konstruktion, Dekonstruktion und Neukonstruktion von „Erinnerungen“ und Mythen, - in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Berlin 2005, Bd. 1, S. 373-426.

[10] Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken. 15. Nachdr. Frankfurt/M. 2010.

[11] Vgl. u.a. Jasna Dragović-Soso, „Saviours of the Nation“. Serbia`s Intellectual Opposition and the Revival of Nationalism. London 2002.

[12] Ausführlich dazu Florian Bieber, Nationalismus in Serbien vom Tode Titos bis zum Ende der Ära Milošević. Wien 2005.

[13] Geradezu paradigmatisch ist der Fall des bosnischen Serben Borislav Herak, der von einem Militärgericht im belagerten Sarajevo im März 1993 zum Tode verurteilt wurde. Vgl. Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, S. 343 f.

[14] Zit. nach Natalija Bašić, Krieg als Abenteuer. Feindbilder und Gewalt aus Perspektiven ex-jugoslawischer Soldaten 1991-1995, S. 213, 215, 225.

[15] Vgl. u.a. Dzenana Halimovic, Bosnian Researcher Counts War Dead, and Faces Threats for his Methods, in: Radio Free Europe/Radio Liberty, 21.11.2008; Nidzara Ahmetasevic, Justice Report: Bosnia's Book of the Dead, - in: Balkan Investigative Reporting Network (BIRN), 21.6.2007.

[16] Patrick Ball - Ewa Tabeau,- Philip Verwimp, The Bosnian Book of Dead: Assessment of the Database, - in: Households in Conflict Network Research Design Note 5, 2007.

[17] Vgl. u.a. Ed Vulliamy, The War is Dead, Long Live the War. Bosnia: the Reckoning. London 2012.

[18] Zit. nach Natalija Bašić, Krieg als Abenteuer, S. 48.

[19] Vgl. dazu Stevan S.Weine, When History Is a Nightmare. Lives and Memories of Ethnic Cleansing in Bosnia-Herzegovina. Brunswick/N.J., London 1999; Ders., Narrating the Traumas of Political Violence, Evenston/Ill. 2006; Swanee Hunt, This Was Not Our War. Bosnian women reclaiming peace. Durham/NC [u.a.] 2004.

[20] Benjamin Bieber, Die Hypothek des Krieges: eine soziologische Studie zu den sozialen Effekten von Kriegen und zur Reintegration von Veteranen, Kriegsinvaliden und Hinterbliebenen in Bosnien-Herzegowina. Hamburg 2007.

[21] Vgl. dazu u.a. Marie-Janine Calic, Der Krieg in Bosnien-Hercegovina. Ursachen, Konfliktstrukturen, internationale Lösungsversuche. Frankfurt/M. 1995; Branka Magaš – Ivo Žanić (Hg.), The War in Croatia and Bosnia-Herzegovina 1991-1995. London, Portland 1999; Isabelle Wesselingh – Arnaud Vaulerin, Raw Memory: Prijedor, an „Ethnic Cleansing Laboratory“. London 2005.

[22] SDA: Abkürzung für die führende Partei der Bosniaken, die Partei der Demokratischen Aktion.

[23] Dennis Gratz, Elitozid in Bosnien und Herzegowina 1992-1995. Baden-Baden 2007, S. 222.

[24] Zu dieser Argumentation (am Beispiel von NS-Tätern) vgl. Harald Welzer, Wer waren die Täter? Anmerkungen zur Täterforschung aus sozialpsychologischer Sicht, in: Gerhard Paul (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 237-254; Ders., Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt/M. 2005.

[26] United Nations Development Programme, Bosnia and Herzegovina: Solving War Crime Cases in Bosnia and Herzegovina, 13.8.2008.

[27] Einzelheiten bei Miklós Biro [u.a.], Attitudes Towards Justice and Social Reconciliation in Bosnia and Herzegovina and Croatia, - in: Stover, E. – H. Weinstein (Hg.): My Neighbor, My Enemy. Justice and Community in the Aftermath of Mass Atrocity. Cambridge 2005. Zur Bedeutung des Tribunals für den Demokratisierungsprozess in Bosnien vgl. Lara Nettlefielt, Courting Democracy in Bosnia and Herzegovina: The Hague Tribunal’s Impact in a Postwar State. New York 2010.   

[28] Vgl. Margaditisch Hatschikjan – Dušan Reljić – Nenad Šebek (Hg.), Disclosing hidden history: Lustration in the Western Balkans. A Project Documentation. Thessaloniki 2005.

[29] Vgl. u.a. Corene Rathgeber, Truth and Reconciliation in Bosnia and Herzegovina. Leuven o.D.; Branka Peuraca, Can faith-based NGOs advance interfaith reconciliation? The case of Bosnia and Herzegovina. Washington/DC. 2003. 

[30] Seit der unter den Auspizien des Völkerbunds ausgehandelten griechischen-türkischen Konvention von Lausanne aus dem Jahr 1923 galt ein zwangsweiser Bevölkerungsaustausch zwischen zwei Ländern als „ultima ratio“ zur „Lösung“ ethnischer Konflikte. Auf das „Lausanner Modell“ haben sich in der Folgezeit sehr unterschiedliche politische Akteure – Hitler ebenso wie Churchill – berufen. Mit dem Dayton-Abkommen wurde das „Modell“ ad acta gelegt.

[31] Ausführlich dazu Gerard Toal – Carl T. Dahlman, Bosnia Remade. Ethnic Cleansing and Its Reversal. Oxford, New York 2011.

[32] Conclusions on Bosnia and Herzegovina. Extract from the Communication from the Commission to the Council and the European Parliament „Enlargement Strategy and Main Challenges 2010-2012“, COM(20120)660 final).

 

zeitgeschichte|online interviewte Holm Sundhaussen

von
Annette Schuhmann

zeitgeschichte|online interviewte den Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen. Im Zentrum des Interviews standen Fragen nach dem Stand der zeithistorischen Jugoslawienforschung seit den späten 1990er Jahren sowohl in Deutschland als auch in den postjugoslawischen Ländern.

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30:15 min

 

Extending the hand of reconciliation?

von
Jelena Đureinović

According to Heike Karge, there are three main reasons why the state of “past perfect” has not been and will not be achieved in the close future for the families of the victims of the Srebrenica genocide. Besides the enormous forensic challenge of the primary and secondary gravesites, which is why not all the victims have been buried yet, and the issue of the juridical versus moral justice, she emphasizes the important issue of the recognition of the executions in July 1995 as genocide.[1]

 

The problem of recognition         

In the period between 11 and 19 July 1995, the forces of the Army of Republika Srpska (VRS) executed over 8000 Bosniak men and boys in the aftermath of the takeover of this town in Eastern Bosnia and Herzegovina, while the women, children, and elderly were loaded onto buses and sent to the Bosniak-held territories.[2] These executions have been recognized as genocide by two international courts. The first recognition came from the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) in the case against the VRS commander Radislav Krstić in 2004, determining that the genocide was committed in Srebrenica.[3] This stance was confirmed in the several cases related to Srebrenica which ensued,[4] concluding with the most recent completed trial of the former Bosnian Serb leader Radovan Karadžić, sentenced in March 2016. The ICTY process against general Ratko Mladić is still in process.          

In 2007, the International Court of Justice ruled in the case of Bosnia and Herzegovina versus Serbia and Montenegro, concluding that “the acts committed at Srebrenica were committed with the specific intent to destroy in part the group of the Muslims of Bosnia and Herzegovina as such; and accordingly that these were acts of genocide, committed by members of the VRS in and around Srebrenica from about 13 July 1995”.[5] The court ruled that Serbia was not directly responsible for the Srebrenica genocide, but that it was nevertheless responsible for failing to prevent the genocide and for not punishing the perpetrators of it, addressing particularly the cooperation with the ICTY and at that time unsuccesful search for Ratko Mladić.           

Naming it the denial syndrome, Sabrina Ramet argues that “a few Serbs are prepared to dwell on the suffering their nation caused to others, and dwell rather on their own suffering and the suffering of their heroes”.[6] Regardless of the international recognition, the Srebrenica genocide has not been acknowledged as such in Serbia and Republika Srpska. The Serbian parliament adopted the Declaration on Srebrenica in 2010, which condemned the crime committed in Srebrenica, apologizing to the victims' families for not doing everything to prevent the tragedy. Furthermore, the Declaration made a promise of the successful cooperation with the ICTY, especially in the case of finding and arresting Ratko Mladić, and invited all belligerent countries to work on the process of reconciliation. In the last Act, the parliament expressed the wish that other state institutions from the territory of former Yugoslavia would condemn the crimes against the Serbian population, as well as apologize and express sympathy to the victims' families.[7] A draft of a similar resolution was supposed to be adopted in Republika Srpska in May 2015 with the goal of acknowledging the genocide, but it failed. The President of Serbia Tomislav Nikolić publicly apologized to Bosnia and Herzegovina in 2013, but the apology did not include the acknowledgment of the genocide. At the same time, in both Bosnia and Herzegovina and Serbia there is no legislation on genocide denial, where in the case of Bosnia an attempt to adopt a law was obstructed by the Serbian representatives.

 

The Serbian policy of reconciliation        

The Prime Minister of Serbia Aleksandar Vučić attended the central commemoration in Potočari on 11 July 2015, which is unprecedented in Serbian politics and could be perceived as a step ahead. While attending the memorial ceremony, he was attacked with stones and bottles. Afterwards he spoke in a positive tone, stressing out that he would nevertheless continue his policy of reconciliation and ascribing the attack to some marginal groups. The highest officials of the international community greeted his visit to Potočari as well as his reaction and persistence to work on reconciliation. At the same time, the commemorative gathering of 7000 people in front of the National Assembly back in Belgrade was banned.          

Moreover, only a few days before the commemoration, Vučić celebrated the veto of the Russian Federation on the resolution on Srebrenica which was voted on in the United Nations Security Council on 8 July. Both he and Tomislav Nikolić, the President of Serbia, lobbied and spoke publicly against this resolution, representing it as depicting Serbian people as genocidal. Actually, the British draft resolution did not name the perpetrators of genocide at any point but it addressed the innocent victims “on all sides” very explicitly throughout the document. The last draft of the resolution had two general themes. First, it focused on the war in Bosnia, condemning the Srebrenica genocide and other massive human rights violations, expressing sympathy for all victims, and emphasizing acceptance of the events in Srebrenica as genocide as very important for reconciliation and inviting all political leaders to recognize it. Here, the document also discusses the cooperation with the ICTY and the process of reconciliation and conflict resolution in Bosnia and the region. Second, a large part of the resolution focuses generally on prevention of genocide and protection of civilian populations, recognizing the failure of the United Nations in preventing the Srebrenica genocide.[8]        

The resolution was nevertheless misrepresented in the dominant political discourses both in Serbia and Republika Srpska, where the political leaders led the campaign against it. The failure to adopt the resolution was openly celebrated as victory. For example, driving through Republika Srpska in late July 2015, one could notice the posters depicting Vladimir Putin with the message “Thank you, President” written in the Cyrillic script in each village or town along the road.

 

The end of the Radovan Karadžić trial          

It has to be noted that a significant part of the population of both Serbia and Republika Srpska still perceives Ratko Mladić and Radovan Karadžić as heroes and some of the political parties in power share this view. On 24 March 2016, Radovan Karadžić was sentenced to 40 years in prison for the series of crimes against humanity and violations of the laws or customs of war, including the genocide in Srebrenica.[9] The day of the last court proceeding overlapped with the anniversary of the beginning of the NATO bombing of Yugoslavia in 1999. As Karadžić's sentence was read in the afternoon, the registered protests about the NATO bombing by the Serbian Radical Party and far right organizations in Belgrade grew bigger. A few thousands of people went out to the streets, paralyzing the public transport. Among the Serbian flags and the Chetnik iconography, many people carried photographs of Radovan Karadžić and Ratko Mladić and the slogans depicting them as the Serbian heroes.        

The negative reaction of the Serbian political leadership proved that the reconciliation rhetoric is only for the foreign use. Although this was not the first ICTY sentence for Srebrenica, as mentioned above, the Prime Minister and President interpreted the court decision as jeopardizing the existence of Republika Srpska. Aleksandar Vučić, who had been to Srebrenica last time only a few months earlier promoting his policy of reconciliation, warned that Serbia would not let the sentence to Karadžić to be used against Republika Srpska and stated that Serbia would not allow that someone walked over Serbs just because they were Serbs.[10] He announced that he would stand together with his people. Similarly, President Nikolić invited all officials of Republika Srpska to fight together “for their Republika Srpska and their people, whose destiny might be in question because of the court ruling”.

 

One step forward, two steps back         

Although still present in the society, the narrative that the number of dead in Srebrenica was much lower than 8000 or that the victims were not civilians but combatants, is not predominant in Serbia at the same level as it was a few years ago (Republika Srpska is a different case in this concern). One could argue that the number politics and the complete denial of executions are at least no longer a part of the dominant political discourse. When the proposal for the resolution on Srebrenica was not adopted in Republika Srpska in 2015, Milorad Dodik, the President of Republika Srpska, said “No one denies that a crime happened in Srebrenica, but it was not a genocide”.[11] This statement summarizes the general attitude towards the Srebrenica genocide in Serbia as well, which has also been the official interpretation since the 2010 parliamentary Declaration on Srebrenica. The term “genocide” is avoided and substituted by a more acceptable term “crime”.         

Regardless of the visit of Aleksandar Vučić to Srebrenica twice last year and his rhetoric of taking the path of reconciliation and the official apology of Tomislav Nikolić in 2013, it seems that each time a step forward is made concerning dealing with the ethnic cleansing and genocide in Bosnia, it is followed by two steps back. Both Vučić and Nikolić, as well as many other political actors, keep offending the victims' families and preventing closure by their inconsistent outbursts about Srebrenica in public. The general tendency in the public responses whenever Srebrenica becomes a dominant topic is the narrative of Serbian people and Republika Srpska as endangered and under attack as well as shifting the focus to the Serbian victims of the wars of the Yugoslav succession.          

It has to be noted that both Vučić and Nikolić were members of the Serbian Radical Party of Vojislav Šešelj, endorsing the politics of ethnic cleansing of non-Serbian population in the 1990s and glorifying the war criminals afterwards. Moreover, while in the political opposition in 2007, Aleksandar Vučić led the initiative of putting posters with the inscription “Ratko Mladić Street” in Belgrade, as a part of the campaign by the Serbian Radical Party in support of Ratko Mladić. From the analysis of their public statements regarding the war in Bosnia and the lack of willingness to recognize the massive executions in Srebrenica as genocide, it can be also argued that they did not separate from their own problematic past. It remains to be seen what the Serbian officials will do on 11 July this year but, all in all, each initiative promoting the reconciliation has to be taken with precaution and observed through time and in the wider context.

 

Conclusion        

The investigative work of the ICTY and the International Commission on Missing Persons, the testimonies of the perpetrators themselves and the survivors in the court, as well as the exhumations of the mass graves have generated a vast amount of evidence about the events in July 1995 in Srebrenica. The facts discovered so far testify that the Bosniak men and boys who were executed by the Bosnian Serbs forces were civilians, the numbers have been established, and the gathered evidence about the course of events in July 1995 supports the argument that the Srebrenica genocide was a planned action. Moreover, the mass executions were officially recognized as genocide by two international courts. Going back to Karge's arguments from the beginning of this article, there is still a lot to be done in order to achieve some level of satisfaction and closure for the victims' families. In this sense, the official recognition coming from Serbia and Republika Srpska would represent a  large step forward.

 


[1] Heike Karge: Virulente Vergangenheit. 20 Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica, Religion und Gesellschaft in Ost und West, 9, 2015, p. 12-15.
[2] For the description of the events, see: The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia: Facts about Srebrenica.
[3] Appeals Judgement, Prosecutor v. Radislav Krstić, Case No.: IT-99-33, 19 April 2004.
[4] Zdravko Tolimir, Momir Nikolić, Dragan Jokić, Vidoje Blagojević, Dražen Erdemović, Dragan Obrenović.
[5] International Court of Justice: Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Judgement, 26 February 2007, p.108.
[6] Sabrina Ramet: The Denial Syndrom and its Consequences: Serbian Political Culture Since 2000, Communist and Post-Communist Studies 40, 2007, 41-58, p.53.  
[7] Deklaracija Narodne skupštine Republike Srbije o osudi zločina u Srebrenici.
[8] United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland: Draft Resolution.
[9] The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia: Trial Judgement Summary for Radovan Karadžić, 24 March 2016.
[10] Nikolić: Presuda ne sme da utiče na sudbinu naroda u RS (in: RS N1 vom 24.3.2016).
[11] "Our attitude is clear. No one denies that a crime happened in Srebrenica, but it was not a genocide, what Sarajevo keeps insisting on. We are sorry that the crime happened in that city and that many people died, although we have official information which speak about a much lower number of victims than those mentioned by the Bosniak politicians“. Dodik was sued for genocide denial, on the basis of its legal recognition by the two international courts. 

Alltagswogen einer Nachkriegsgesellschaft

von
Robert Lučić

Der Hausflur eines Mehrfamilienhauses, ein Reigen singender Kinder, vielleicht ein Geburtstag, Alltag. Doch leidvoll deplatziert. Gewehrsalven schlagen den Rhythmus zum Kinderlachen. Der Takt einer Stadt. Der Pulsschlag Sarajevos. Krieg.

Der Blick über die Schultern Rahimas. Lange Gänge eines Restaurants in den frühen Morgenstunden. Wieder Alltag. Mitten in der Nacht. Arbeitskollegen zetern und auch hier ein merkwürdiger Schrittmacher. Schüsse? Böller. Nur das nahende Silvestertosen.

 

Die Regisseurin Aida Begić wählt einen sehr individuellen Zugang zur Thematik ihres zweiten Spielfilms „Djeca – Children of Sarajevo“. Die dokumentarischen Aufnahmen zeigen Kinder in Bosnien und Herzegowina während des Krieges. Es sind Einblicke in die Belagerung Sarajevos und den Versuch seiner Bewohner, sich den Alltag nicht nehmen zu lassen. Das Lachen der Kinder ist es, dem sich die Wirklichkeit nicht zu entziehen vermag. Dabei verweisen die Aufnahmen auf Begićs persönliche Beziehung zur Stadt und dem Krieg. Geboren in Sarajevo, studierte sie dort an der Hochschule für Darstellende Kunst in der Fachklasse Regie und erlebte die Belagerung der Stadt am eigenen Leib. Den Alltag beschreibt sie als dasjenige, mit dem sich die Bürger Sarajevos den unwirklichen Geschehnissen widersetzten. „Die meisten Menschen wissen, wie Krieg in etwa aussieht: Das Fernsehen hat daraus eine alltägliche Darstellung gemacht. Aber der Krieg ruft bei jenen Menschen, die ihn wirklich erlebt haben, etwas ganz anderes hervor. In Kriegszeiten handeln Menschen, oder versuchen wenigstens so zu handeln, als befänden sie sich in einer normalen Situation. Während der Belagerung von Sarajevo machten wir viele Theaterstücke, Filme, Feste, feierten unsere Geburtstage. Die Kinder spielten wie alle andern Kinder dieser Erde.“ Bereits in ihrem Debüt „Snijeg – Snow“ 2008 beschäftigte sie sich mit der Nachkriegsgeschichte Bosnien und Herzegowinas und schilderte den Überlebenskampf einer Gruppe von Frauen, die ihre Männer bei einem Massaker in Ostbosnien verloren haben. Ausgezeichnet mit dem Grand Prix de la Semaine internationale de la Critique in Cannes, ist auch Djeca dem ‘Danach’ des Krieges gewidmet. Allerdings als ausgesprochener Leisetreter.

Die Blockade Sarajevos, die in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1992 begann, markierte den Anfang des Bürgerkrieges in Bosnien und Herzegowina. Mit der Einnahme des Flughafens durch die Truppen der Jugoslawischen Volksarmee zog sich die Schlinge um die Stadt zu. Das Leid der Stadtbevölkerung endete erst am 29. Februar 1996 und bildete mit 1425 Tagen den längsten Belagerungszustand im 20. Jahrhundert. Nach offiziellen Angaben fielen der Einkesselung insgesamt mehr als 11.000 Menschen zum Opfer, unter ihnen allein 1.600 Kinder. Der gesamte Bürgerkrieg, der in der ersten Hälfte der 1990er Jahre das ehemalige Jugoslawien erschütterte, forderte nach letzten Schätzungen 100.000 bis 110.000 Tote. Zusammen mit den ca. zwei Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, den vergewaltigten Frauen und Mädchen, den Kriegsinvaliden, -witwen und -waisen und der unbekannten Zahl an traumatisierten Menschen wird es kaum eine Familie geben, die vom Krieg und seinen Folgen verschont geblieben ist. Einen traurigen Höhepunkt dieses Krieges bildete das Massaker von Srebrenica, bei dem im Juli 1995 serbische Einheiten mehr als 8.000 Bosniaken töteten und in Massengräbern verscharrten.

Es ist das Bewusstsein um diesen Geno- und Urbizid, das das Hintergrundrauschen des Films erzeugt. Sparsam eingestreute Dokumentaraufnahmen vermitteln einen Einblick in die Lebensverhältnisse der Zeit. Bilder aus den Schützengräben, die die Bewohner Sarajevos nutzten, um sich in der Stadt zu bewegen, um Wasser und Nahrungsmittel zu besorgen, um Feuerholz in den umliegenden Parks zu schlagen, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Doch es sind Details dieser Aufnahmen, die den Zuschauer irritieren: Die spielenden Kinder im Schützengraben. Zwischen den geduckt laufenden Menschen. Sie backen Sandkuchen mit Joghurtbecherförmchen und wirken seltsam unbeeindruckt von der menschenfeindlichen Umgebung. Es ist Aida Begićs ausdrückliches Anliegen, das Alltagsleben auch als Ausdruck des Aufbegehrens zu begreifen: „Die Bilder des Alltags während der Belagerung drücken ein intimes und komplexes Gefühl der Erinnerung aus, das man nur sehr schwer in Worte fassen kann: die Erinnerung an den Krieg besteht aus Schreckensbildern, aber auch aus schönen Momenten. Es zeigt, dass der Widerstand nicht nur mit Waffen stattfindet. Den Widerstand findet man auch in der Kraft der Menschen, in ihrer Fähigkeit, in abnormalen Zeiten ein normales Leben zu führen.“

Der Film entwickelt sich dabei als ein soziales Drama. Die 23-jährige Rahima versucht, sich und ihren 14-jährigen Bruder Nedim als Küchenhilfe durchzubringen. Sie sind Kriegswaisen und Rahima übernimmt die mütterlichen Fürsorgepflichten für ihren Bruder. Erzählerisch lässt Begić die erlebte Katastrophe der Belagerung in den Hintergrund treten. In der geschilderten Nachkriegsnormalität ist sie, abgesehen von den seltenen dokumentarischen Einschüben, gleichsam unsichtbar. Es ist der Alltag, der im Fokus des Plots steht. Rahima hat ihren Bruder aus dem Waisenhaus zu sich geholt und versucht sich nun in ihrer neuen Mutterrolle zu arrangieren. Für ihr Bekenntnis zum muslimischen Glauben erntet sie allgemeines Unverständnis. Sie hat sich erst vor kurzem ‘verhüllt’. Etwas, das in ihrer Umgebung auffällt, nicht verstanden und vom Bruder zum Vorwurf formuliert wird. Es ist ihre Vergangenheit als Punk und Rebell, die den starken Kontrast zu ihrer neuen Gläubigkeit bildet. Nedim leidet unter der Religiösität seiner Schwester und gerät darüber mit dem Sohn eines Ministers aneinander. Man hänselt ihn in der Schule. Er prügelt sich. Doch alles entwickelt sich sensationell emotionslos. Die meisten Szenen sind ertränkt in einer Alltäglichkeit, die dem Zuschauer als quälende Langeweile entgegentritt und nicht mit dessen Erwartungshaltung an eine traumatisierte Nachkriegsgesellschaft zusammenpassen will. Das Böllerknallen als Silvestereinstimmung verweist den Zuschauer permanent auf die Schüsse der Belagerung. Doch die Charaktere des Films wirken demgegenüber gleichgültig, oft eindimensional. Entwickelte Spannungsbögen fallen in sich zusammen. Es ist die Gnadenlosigkeit des Alltags, die das Geschehen dominiert. Arbeit, Haus, Haus, Arbeit. Selbst der Tod einer Nachbarin scheint lediglich ein letzter Abgesang auf das Leben der kaum Leid erzeugt. Auch Verweise auf das politische System Bosnien und Herzegowinas, das mit dem Abkommen von Dayton 1995 geschaffen wurde, erfolgen nur selten und immer indirekt. Fernsehbilder im Hintergrund deuten auf den hochsubventionierten failed state: Neureiche, Wirtschaftskrise, Entlassungen, Politiker voller Gnaden.

Nur stellenweise brechen die Kriegserfahrungen aus Rahimas kontrolliertem Jetzt-Korsett. Sie droht dem Minister, der ihr ein ‘unmoralische Angebot’ unterbreitet, faucht ihre Chefin an, ohrfeigt ihren Bruder. Der berührendste Moment des Films ist Rahimas Abnehmen des Kopftuchs. Die voyeuristische Teilnahme im close-up kompensiert die verspürte emotionale Banalität des geschilderten Alltags. Der Kontrast zwischen zäher Kälte und gleichzeitig enthüllender Intimität bildet die Chiffre für das Verständnis des Films. Eine gelebte Normalität auch nach durchlebter Katastrophe, überwiegende Langeweile im Alltag mit all seinen sozialen Problemen und vor allem: stille Momente des höchst Persönlichen. Ein Leben jenseits der großen Showdowns. Hierin liegt das zutiefst Menschliche des Films. Pfannkuchen sind es, mit denen Rahima und Nedim zu guter Letzt die Silvesternacht besiegeln und sich für das kommende Jahr wappnen.

Children of Sarajevo (Djeca), Regie: Aida Begíc, Bosnien-Herzegowina 2012
Zur Website des Verleihs: http://www.trigon-film.org/de/movies/Djeca

 


 

„So ein Begräbnis müsste jedes Jahr sein“

von
Hannah Sprute

Für Jugoslawien war der Tod Josep Broz Titos am 4. Mai 1980 ein einschneidendes Ereignis. Der ethnisch und religiös sehr heterogene Staat überlebte Tito zwar noch um ein Jahrzehnt, ohne die integrative Kraft des charismatischen Führers konnte den Zentrifugalkräften jedoch nicht mehr lange Einhalt geboten werden.

Nachdem Titos Leichnam im präsidialen „Blauen Zug“ von Ljubljana über Zagreb nach Belgrad gebracht worden war, wurde er im Belgrader Parlamentsgebäude aufgebahrt. JugoslawInnen standen stundenlang an, um Tito die letzte Ehre zu erweisen. Zu den Beerdigungsfeierlichkeiten am 8. Mai strömte eine halbe Million Menschen zusammen, unter ihnen zahlreiche Staatsgäste aus aller Welt. Zugleich wurde der Trauerakt als nationales und internationales Medienereignis auch am Bildschirm verfolgt: „Die ganze Familie guckte sich drei Tage lang im Fernsehen die Beisetzung in Belgrad an und weinte“, schrieb Dubravka Ugrešić in ihrem Roman Das Ministerium der Schmerzen, der im Jahr 2005 auf Deutsch erschien.[1]

An der Beisetzung Titos in seiner Residenz, dem „Haus der Blumen“ in Belgrad, nahmen 209 Delegationen aus 127 Staaten teil. Damit war die Beerdigung des jugoslawischen Staatschefs die größte Trauerversammlung, die bis dahin weltweit stattgefunden hatte.[2] Mitten im Kalten Krieg, ja sogar in einer Phase besonderer Konfrontation nach dem NATO-Doppelbeschluss und der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Dezember 1979, kamen Staats- und Regierungschefs von beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ zusammen; so beispielsweise aus Großbritannien, Frankreich und Italien ebenso wie aus Ungarn, Polen, Bulgarien und Rumänien. Leonid Breschnew und der langjährige Außenminister Andrei Gromyko repräsentierten die Sowjetunion, US-Präsident Jimmy Carter ließ sich allerdings durch Vizepräsident Walter Mondale vertreten. Auch aus der „Dritten Welt“ jenseits der beiden Blöcke waren zahlreiche Gäste zugegen.

Eine Erklärung für die große internationale Anteilnahme lässt sich in der von Tito geprägten jugoslawischen Außenpolitik finden. Der ehemalige Marschall der kommunistischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg und jugoslawische Staatschef seit 1945 hatte sich schon früh Stalins Hegemonialansprüchen widersetzt und Jugoslawien von der Sowjetunion abgegrenzt.[3] Da Tito sein Land trotz zugesagter US-amerikanischer Unterstützung ebenso wenig zum Satelliten der USA werden lassen wollte, entwickelte die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) für das Land einen „dritten Weg“. Die zentralstaatlichen Leitungsfunktionen in der Wirtschaft wurden reduziert und ein Modell der Arbeiterselbstverwaltung umgesetzt. In der Außenpolitik suchte Tito nach neuen Verbündeten und wurde so, zunächst vor allem im Trio mit dem indischen Ministerpräsidenten Nehru und dem ägyptischen Staatspräsidenten Nasser, zum Initiator der Blockfreien-Bewegung.[4]

Durch seine Führungsposition in der Blockfreien-Bewegung gestärkt, stieg der vielreisende Tito – wohl auch dank seines Selbstbewusstseins, seines Charismas und seiner Geselligkeit – zum weltweit geachteten Staatsmann auf. Daher führte seine Beerdigung politische Führungspersönlichkeiten aus beinahe allen Ländern der Welt und unterschiedlichen, teils antagonistischen politischen Lagern zusammen.

 

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Spiegel-Titel vom 12. Mai 1980

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Aus zeitgenössischer deutsch-deutscher Sicht wird die Bedeutung von Titos Beerdigung als politisches Ereignis besonders deutlich: Am Rande der Trauerfeierlichkeiten kamen Erich Honecker und Helmut Schmidt erstmals seit der Konferenz von Helsinki im Jahr 1975 zu einem Meinungsaustausch zusammen. Dies war für den SPIEGEL Anlass, am 12. Mai 1980 ein Foto von Schmidt und Honecker mit dem Titel „Deutscher Gipfel in Belgrad: Zurück zur Entspannung?“ (s. Abb.) zu veröffentlichen. In dem recht langen Spiegel-Artikel wird ausführlich, zuweilen anekdotenhaft von der deutsch-deutschen Begegnung berichtet, die ungezwungen und fast familiär verlaufen sei:  
„Punkt 18 Uhr […] ging die Tür auf, herein kam Erich Honecker. ‚So, da sind Sie ja schon‘, rief Schmidt, ‚ich habe noch die Schuhe aus.‘ Darauf der SED-Chef, keineswegs pikiert: ‚Das macht doch nichts, das ist bequem.‘“
Aus dem Gespräch resultiere, so der Beitrag: „Bonn und Ost-Berlin hätten ein gemeinsames Interesse daran, eine weitere Zuspitzung der internationalen Lage zu verhindern. Die Weltkrise dürfe sich nicht verschärfen, der Dialog zwischen den Supermächten USA und UdSSR müsse wieder in Gang kommen. Europa sei unbedingt als Zentrum des Friedens zu erhalten.“[5]

Tatsächlich taten sich auf dem „Trauer-Gipfel am Grabe“ (so titelte die ZEIT vom 9. Mai 1980) vor allem EuropäerInnen und VertreterInnen der blockfreien Staaten als verhandlungsbereit und annäherungswillig hervor. Von der heimischen Presse erwartungsvoll verfolgt, führten beispielsweise Schmidt und Honecker zahlreiche Gespräche mit PolitikerInnen aus aller Welt. Der eigentliche Anlass der Zusammenkunft trat dabei in den Hintergrund, wie es SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann aus dem Hotel Intercontinental schildert, in dem ein Großteil der Staatsgäste untergebracht war:
„Man kennt sich, aber in so bunter und vollständiger Zusammensetzung – von Jassir Arafat bis Karl Carstens – begegnet man einander nicht einmal in der Uno. Die Beerdigung, wenn erwähnt, nennen die Angereisten ‚das Ereignis‘. Der Name Tito fällt kaum, höchstens vom ‚großen Staatsmann‘ sprechen die Gäste. Daß aus den Lautsprechern dezente Trauermusik in die Halle rieselt, wer bemerkt es schon? […] Die Hektik ist allgemein. ‚Working funeral‘ nannten die Amerikaner so etwas schon bei der Beisetzung Konrad Adenauers, ein ‚Arbeitsbegräbnis‘ ist auch das in Belgrad.“[6]

„So ein Begräbnis müßte jedes Jahr sein“, zitiert der SPIEGEL Helmut Schmidt, der sich in einer neuen Bonner Entspannungspolitik versuchte und eine baldige Reise nach Moskau plante.[7] Durch Carters Abwesenheit zeigt sich jedoch die kritische Distanz wenigstens der einen Supermacht zu den Annäherungsversuchen der kleineren Blockstaaten, weshalb die Bewertung der Gespräche in der zeitgenössischen Presse unterschiedlich euphorisch ausfiel.[8] Dennoch wird die Besonderheit der verschiedenen Treffen hervorgehoben, bei denen PolitikerInnen die Fronten des Systemkonflikts vorsichtig hinterfragten. Das Entstehen dieses Begegnungsorts am Rande der Trauerfeierlichkeiten für Tito zeigt, dass es trotz der scheinbaren Totalität der durch den Kalten Krieg entstandenen bipolaren Weltordnung Möglichkeiten für Annäherungsversuche sowie Orte der Begegnung und des Austausches gab. Dies betont auch die neuere Forschung zum Kalten Krieg, die auf die Durchlässigkeit und Flexibilität von Grenzen sowie auf die (grenzüberschreitenden) Handlungsspielräume einzelner Akteure hinweist.[9]

Tito war eine selbstbewusste und eigensinnige Persönlichkeit, deren Agieren die bipolare Logik der Blockbildung unterlief. Auf den Beerdigungsfeierlichkeiten erreichte seine integrative Rolle während des Kalten Krieges geradezu einen Höhepunkt.
Die Beerdigung Titos, obschon selbst für die zahlreichen Staatsgäste teilweise in den Hintergrund geratend, war somit ein posthumer Gipfel seines politischen Wirkens und als „working funeral“ ein Begegnungsort im Kalten Krieg.

 

[1] Aus Dubravka Ugrešićs Roman Das Ministerium der Schmerzen, zitiert nach: Herter, Gerald (Red.): Blumen für Tito (pdf-Dokument): Serbien und die Sehnsucht nach Jugoslawien. Radiobeitrag ­­­­­der Reihe Gesichter Europas, Deutschlandfunk, 17. September 2016, 11:05 Uhr.
[2] Vgl. Halder, Marc: Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien. München 2013, S. 230. Inzwischen wurde die Beerdigung Titos durch die Beerdigung von Papst Johannes Paul II übertroffen, an der am 8. April 2005 Delegationen aus 158 Staaten teilnahmen.
[3] Vgl. Pirjevec, Jože: Tito. Die Biografie. München 2016.
[4] Zur Blockfreien-Bewegung vgl. Mišković, Nataša u.a. (Hg.): The Non-Aligned Movement and the Cold War. Delhi - Bandung - Belgrade. London/New York 2014.
[5] o.V.: „So ein Begräbnis müßte jedes Jahr sein“. In: DER SPIEGEL, 12.05.1980.
[6] Leinemann, Jürgen: Nicht zu breit lächeln“. SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann in Belgrad. In: DER SPIEGEL, 12.05.1980.
[7] Vgl. „So ein Begräbnis müßte jedes Jahr sein“. In: DER SPIEGEL, 12.05.1980.
[8] Für diesen Text bildet die Analyse von ost- und westdeutschen Presseerzeugnissen den Hintergrund, v.a. Neues Deutschland, DER SPIEGEL und DIE ZEIT. Sehenswert und informativ ist darüber hinaus ein Youtube-Video mit Tagesschau-Ausschnitten rund um Titos Tod und Begräbnis.
[9] Vgl. Forschungsagenda des Berliner Kollegs Kalter Krieg.