Pascal Vallicioni

Pascal Vallicioni
.... hier sah ich Leichenberge, die bis zu den Häuserdächern reichten...

 

Pascal Vallicioni. Foto: Sarah Mayr. All rights reserved.

 

Herr Vallicioni, wann wurden Sie geboren?

Ich wurde am 19. Dezember 1926 in Toulon in Frankreich geboren. Einen großen Teil meiner Kindheit habe ich in Toulon, einem Stadtteil von Marseille, verbracht. Nach einiger Zeit, es war in den Osterferien 1943, entschieden sich meine Eltern, dass wir das Ende des Krieges in den Hautes-Alpes abwarten sollten. In einem Dorf namens La Bâtie-Montsaléon. Wir kannten diesen Ort schon lange, da wir unsere Sommerferien oft dort verbracht hatten. Als wir dort ankamen, waren viele junge Menschen nicht mehr da. Ich fragte einen der Bauern, den ich kannte, was passiert war. Er sagte nur: „Ich weiß es nicht“.

Jedes Mal, wenn ich ihn wiedersah, stellte ich ihm die gleiche Frage. Er antwortete immer das Gleiche. Aber eines Tages hat er mir dann doch die Wahrheit gesagt: „Diese jungen Leute haben ihre Familien verlassen, um in einem Maquis[1] Schutz zu finden und nicht nach Deutschland zu müssen.“ Von da an begann mein Widerstand.
Erst war ich nur ein einfacher Verbindungsmann und brachte ihnen abends Verpflegung. Für den Weg zu den Maquisards brauchte ich etwa ein oder zwei Stunden. Oft habe ich auch bei ihnen geschlafen. Meiner Mutter machte es Sorgen, wenn ich am Morgen immer noch nicht zu Hause war. Am Tage fuhr ich mit dem Fahrrad auf ein Plateau, um auf der Nationalstraße von Marseille bis Gap nach den deutschen Lastwagen Ausschau zu halten. Sie zu sehen, war das Zeichen, dass sie einen Maquis überfallen würden. Sobald ich sie sah, ging ich los, um die anderen zu warnen.

Da man mich denunziert hatte, musste ich dann ganz in den Untergrund. Unsere Gruppe bestand nur aus zwölf Personen. Aus diesem Grund waren wir ein „fliegender Maquis“. Wenn wir einen Auftrag erhielten, erledigten wir diesen und kehrten nie wieder an denselben Ort zurück, damit sie uns nicht finden konnten. Unser Anführer war ein spanischer Republikaner, ein harter Mann, der schon im Krieg in Spanien gekämpft hatte. Einer der Maquis, ein geflohener Kriegsgefangener, wurde von uns nach Gap gesandt, um ein Waffenlager zu finden. Wir sagten ihm: „Wenn du in drei Tagen nicht wieder da bist, wirst du uns hier nicht mehr finden.“ Wir gingen davon aus, dass der Auftrag maximal drei Tage dauern würde, aber nach zweieinhalb Tagen war er immer noch nicht zurück.
Der Kamerad wurde erwischt und gefoltert. Sobald Verhaftete gefoltert wurden, wusste man nicht mehr, ob sie standhalten würden oder nicht. Er hielt nicht durch. Man hatte ihm mit einer in Alkohol getränkten Watte den Rücken tamponiert. Nach und nach zündeten sie den Alkohol entlang der Wirbelsäule an. So kam es, dass er die Deutschen zu uns brachte. Später ist er zur Gestapo übergelaufen.
Wir waren zu zwölft in unserem Versteck und wurden von 250 Deutschen angegriffen. Ich hatte meine letzte Wache bis vier Uhr morgens gehabt und schlief zu diesem Zeitpunkt. Um halb sieben griffen sie an, der Kampf dauerte bis elf Uhr morgens. Wir haben uns gewehrt, mit Pistolen und Handgranaten. Ein Kamerad nahm sich ein Maschinengewehr.
Am Ende wurde ich zusammen mit fünf anderen Kameraden gefangen genommen. Sie brachten uns in die Kaserne Demichelis. 48 Stunden blieben wir dort, ohne Essen und Trinken. Wir dachten, dass sie uns nun erschießen würden. Danach brachten sie uns in die Kommandantur der Gestapo. Ich war der Erste, der verhört wurde und zu meiner großen Verwunderung wurde ich von einem französischen Kollaborateur namens Grasset verhört. Ich war damals siebzehn Jahre alt. Zuerst stellte ich mich dumm: „Ich weiß über nichts Bescheid!“ Sie wussten, sie würden nichts aus mir rausbekommen, also zogen sie mir meine Schuhe aus und verbrannten meine Fußsohlen mit Zigaretten. Ich habe vor Schmerz geweint und geschrien. Ich schrie, so laut es ging, weil sie das nicht mochten. Und ich antwortete immer auf die gleiche Weise. Bei den Maquis hatten wir gelernt, wie wir uns bei Verhören verhalten sollten. Die Folter ging ungefähr eine Viertelstunde lang. Ich sagte immer das Gleiche, Unwichtiges. Schließlich hörten sie auf und teilten mir mit, dass ich zum Tode verurteilt sei. Das sagten sie auch meinen Freunden.

Wir wurden zum Bahnhof von Gap gebracht. Dort warteten wir auf den Zug. Es war ein normaler Zug des SNCF[2]. Dann ging es nach Marseille zum Hauptbahnhof. Es waren acht Tage vergangen, in denen wir uns nicht gewaschen hatten. Wir hatten Bärte bekommen, unsere Kleidung war zerrissen, wir waren dreckig und umringt von Militär mit Hunden. Alle Menschen am Bahnhof konnten uns in diesem Zustand sehen.
Dann wurden wir nach Baumettes, ein großes Gefängnis in Marseille, gebracht. Am 12. Juni brach dort ein großes Durcheinander aus, und wir wurden in den Zug geschickt. 80 Leute pro Abteil, Abfahrt Richtung Unbekannt. Diese Reise dauerte drei Tage und drei Nächte, ohne Trinken, mit nur einem Stückchen Brot. Es war Juni und somit war es sehr warm in den Waggons. Ich wusste, dass wir in Deutschland sein mussten, da ich durch die Spalten zwischen den Brettern die Aufschrift „Stuttgart“ lesen konnte. Auch sah ich die Hitlerjugend auf einem Bahnsteig stehen. Es war klar: Wir sind in Deutschland.

 

Wie sind Sie in Deutschland angekommen?

Am 1. September 1944 kamen wir in Neuengamme an. Wir sollten aus den Waggons springen. Die waren einen Meter und zehn hoch, und wir waren ganz steif und ungelenkig. Das Springen war also sehr schwer. Die SS kam sofort. Sie schlugen uns mit Knüppeln und schrien: „Schnell! Los! Schnell! Los!“. In Fünferreihen haben wir dieses bekannte Tor von Neuengamme passiert. Dort brachten sie uns direkt in ein Kellergeschoss und verteilten Suppe. Ich war so fassungslos, dass ich nichts essen konnte. „Was tue ich hier? Ich bin hier, aber warum?“
Wir wurden unter die Dusche geschickt und mussten dann ganz nackt wieder raus. Das war unsere erste Demütigung. Zu unserer Zeit zeigte man sich nicht nackt, das machte man damals nicht mal vor den Eltern. In einem Kellergeschoss mussten wir uns flach auf Tische legen und andere Deportierte rasierten uns vom Kopf bis zur Sohle. Anschließend behandelten sie die sensibelsten Stellen mit einem aggressiven Desinfektionsmittel, um Läusebefall zu verhindern.
Sie gaben uns Kleidung, danach eine Nummer, dann Holzschuhe und russische Socken. Diese russischen Socken waren große Vierecke aus Stoff, man stellte die Füße in die Mitte und faltet die Ecken zusammen. Damit begannen sie das Individuum zu entpersonalisieren. Jetzt warst du irgendjemand. Ich fühlte mich wirklich verloren, ich wusste nicht mehr, wie mir geschah. Ich könnte nicht einmal mehr sagen, wo ich schlief, was ich aß, was wir gemacht haben während der drei Tage, die wir in Neuengamme geblieben sind. Ich weiß nichts, wirklich überhaupt nichts mehr.
Dann mussten wir wieder fort. Wir sind die ganze Nacht gelaufen. Am Abend kamen wir dann in Wilhelmshaven an. Am nächsten Morgen haben wir gesehen, dass wir von Stacheldraht umringt waren. Der Zaun ging um das ganze Lager herum und wurde von Elektrikern, französischen Deportierten, unter Strom gesetzt.

Ein Arbeitstag im KZ Wilhelmshaven bedeutete: um vier Uhr morgens aufstehen und schnell in den Waschraum, dann ganz nackt das Gesicht waschen. Um uns abzutrocknen, hatten wir so ein schönes Handtuch von der Kriegsmarine. Dann gingen wir wieder zurück in unsere Zimmer, wir zogen uns schnell an und standen dann in der Schlange für den Kaffee. Das war eigentlich aufgewärmtes und eingefärbtes Wasser. Aber es war wichtig für uns, weil es warm war. Dann ging es zum Appell.
Wir wurden gezählt, es war immer die gleiche Prozedur. Es dauerte eine Stunde. Dann gingen wir in eine Fabrik, die etwa drei oder vier Kilometer vom Lager entfernt war. Dort wurden wir in Gruppen aufgeteilt. Ich fand mich beim Elektroschweißen wieder. Als ich eine Mittelohrentzündung bekam, konnte ich mir selber helfen. Ich kurierte sie mit den heißen Metallplatten aus. In meiner Box konnte ich vermeiden, dass mein Vorarbeiter mich dabei sah. Eines Morgens kam er zu mir und sagte: „Los, schnell, nimm!“ Er gab mir ein Brot mit Margarine. Zweimal tat er das. Auch anderen hat er hin und wieder etwas zugesteckt. Meine Kameraden haben mir davon erzählt. Dieser deutsche Vorarbeiter, ich habe ihn nie wieder gesehen, ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Das letzte Mal, als ich nach Deutschland kam, habe ich mich nach seiner Familie erkundigt. Ohne Resultat... Es tut mir wahnsinnig leid, nie etwas über seine Familie in Erfahrung gebracht zu haben.

 

Was wurde in dieser Fabrik hergestellt?

Die Deutschen stellten dort U-Boote her. In Wilhelmshaven war eine Basis für U-Boote der deutschen Marine. Wir arbeiteten für die Basis des Unterwassermilitärs von Wilhelmshaven. Wir wurden von der französischen SS beaufsichtigt, die bekannte Division Charlemagne, die durch ihr Auftreten an der russischen Front berühmt wurde. Man hat mir beigebracht, die Seilwinden der deutschen U-Boote zu löten. Diese waren zwischen sieben und neun Meter lang. Die Achse war rund, hatte vier Außenseiten. Wir löteten Kupferteile an die gesamte Länge an. Es gab zwei Gefangene, die bis zur Mitte hin arbeiteten, und zwei andere, die an den Enden der Achse arbeiteten. Sobald alle Arbeiten erledigt waren, wurden die Achsen geprüft. Waren die Lötstellen nicht perfekt, kamen sie zurück.
Als eines Tages eine der Achsen zurückkam, hatten wir ein Problem. Es war ein russischer Deportierter, der die fehlerhaften Stellen gelötet hatte. Der Kapo schlug ihn zu Tode. Es ist schlimm, das zu sagen, aber für uns war das nur ein Zwischenfall. Wir hatten schon so viel gesehen, dass uns dies nicht mehr berührte. Später war es nicht mehr die französische SS, die uns bewachte, es kam eine andere Brigade. Unsere Ernährung bestand aus einem Kaffee morgens - das war wieder nur schwarzes Wasser - , einer Suppe mit ein paar vereinzelten Kohlrübenstückchen mittags, und an manchen Abenden bekamen wir zwei Scheiben Brot mit einem Stückchen Margarine. Das war alles. Manchmal bekamen wir auch gar kein Essen. Das war schwer auszuhalten, nach all den unerwarteten Ereignissen und all den endlosen Appellen.
Die Appelle waren immer abends, denn tagsüber mussten wir ja arbeiten. Dieses Antreten dauerte drei bis dreieinhalb Stunden, egal zu welcher Uhrzeit. Wir mussten die Gefangenen liegenlassen, die zu Boden fielen. Wir durften sie nicht anfassen. Sie zählten uns und zählten uns noch einmal. Das war ihre Taktik. Sie sagten immer, es würde einer fehlen, aber das stimmte nicht. Es war eine Lüge, aber sie zählten weiter, die ganze Zeit. Am 5. April 1945 wurden wir von Wilhelmshaven abtransportiert. Daraufhin kamen wir am Bahnhof von Bremervörde an. Zu Fuß liefen wir bis zum Stalag X B.
Wir liefen in der Mitte einer großen Allee darauf zu. Vor uns konnten wir die Umrisse eines Hügels sehen, und erst als wir näher kamen, konnten wir erkennen, dass es ein Berg komplett aus Leichen war. Ich meine wirklich einen Berg. Er war sicher drei bis vier Meter hoch. Sie machten gerade die Dachlichter aus, es wurde dunkel, und wir fragten uns, wo wir hier gelandet waren. Einige Mithäftlinge, denen ich glaubte, erzählten mir, dass sie sahen, wie andere Deportierte die Leber und das Herz der Leichen rausgerissen hatten, um sie zu essen. In diesem Lager herrschte die totale Verzweiflung.
Es gab keine Betten, wir schliefen auf dem Holzfußboden. Irgendwann, ich war zu diesem Zeitpunkt in keiner guten Verfassung, gab es einen Aufstand. Wir hatten nichts mehr zu essen. Viele der gesunden Gefangenen überfielen die Küchen, um Nahrung zu suchen. Manche sind mit den Taschen voller Zucker zurückgekehrt. Mein Freund Lepajolec, der vor vier Jahren gestorben ist, hatte es geschafft und kam mit den Taschen voller Zucker zurück. Mein Freund Gourlin kam mit einem Stück Brot zurück.
Nach drei Tagen wurden wir wieder weggebracht. Unser Durchgangslager war im Verhältnis zu dem, was wir sonst gesehen hatten, besonders brutal. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Ich habe so viele Leichen gesehen. Sie lagen einfach so am Straßenrand. Ich hatte auch schon in Wilhelmshaven Leichen gesehen, aber hier sah ich Leichenberge, die bis zu den Häuserdächern reichten.

 

Karte des Todesmarschs von Pascal Vallicioni (und Raymond Gourlin) vom 5.04. bis 30.04 1945.
Foto: privat. All rights reserved.

 

Wann und wo sind Sie befreit worden?

Ich wurde von diesem berühmten Schiff[3] mit meinen Kameraden in Flensburg befreit. Es war Kriegsende. Drei Tage vor dem Waffenstillstand. Wir wurden auf einem Schiff wegtransportiert. Wir hatten Glück, dass das Schiff nicht gesunken ist. Viele Schiffe mit Deportierten an Bord sind gesunken.
Später gab es die berühmte Bombardierung, in der Bucht von Lübeck. Dort starben sehr viele Menschen, 8000 Deportierte, bombardiert von englischen Flugzeugen. Wir hatten Glück, dass wir nicht auf diesen Schiffen waren.
Eines schönen Morgens sind wir auf offenem Meer von einem Schiff auf ein anderes umgeladen worden. Am 11. Mai 1945 circa um 17 Uhr 30 sind wir in Schweden gelandet. Dort sind wir vom Roten Kreuz betreut worden, bis zum Ende unserer Reise.

 

Pascal Vallicioni (fünfter von der Ecke unten rechts) bei der Ankunft in Malmö am 11.05.1945. Foto: privat. All rights reserved.

 

Was haben Sie nach der Befreiung gemacht?

Danach begann die schlimmste Zeit, da es kaum möglich war über das Erlebte zu sprechen. Zuerst erzählten wir anderen Leuten noch von unseren Erfahrungen, aber sie glaubten uns nicht. Also haben wir über Jahre hinweg alles für uns behalten. Natürlich redeten wir miteinander darüber. Als ich wiederkam, war ich mit meinen achtzehn Jahren schon seelisch und moralisch zerstört. Was mich eigentlich die ganze Zeit am meisten bewegte war, dass ich so viele Kameraden verloren hatte. Auch wenn ich viele von ihnen nicht gut kannte, waren wir alle wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Wir haben solch furchtbare Dinge zusammen erlebt, dass dieses Band immer da sein wird.
Ich habe vier Jahre gebraucht, um mich einigermaßen zu erholen. In den vier Jahren sah ich die Kameraden ein oder zwei Mal. Dann hörte ich auf sie zu treffen. Ich wollte sie nicht wiedersehen, da ich alles vergessen wollte. Während dieser vier Jahre ging es mir sehr schlecht. Was dann passierte, kann ich nicht beschreiben. Irgendetwas hat mich wiederbelebt. Ich weiß nicht, was das war, ich fand es nie wirklich heraus. Ich begann zu arbeiten. Seitdem habe ich nicht mehr über die Deportation gesprochen. Für mich war das alles vergessen. Na ja, nicht vergessen, es war ein Teil von mir, aber für mich war es tief begraben.

Und dann holte mich die Vergangenheit doch wieder ein: Die Jahre vergehen, und dann triffst du zufällig auf einen Kameraden, den du seitdem nie wieder gesehen hast. Es ist immer das Gleiche, eines führt zum anderen. Du landest wieder in der Vergangenheit. Denn selbst wenn sie es nicht wollen, wenn sich zwei Deportierte treffen, landen sie zwangsläufig dort. „Erinnerst du dich noch?“ Irgendwann einmal habe ich dann auch aktiv an den Gruppentreffen von ehemaligen Deportierten teilgenommen. Ab diesem Zeitpunkt kam eins zum anderen und ich bot mein Wissen auch in den Universitäten an. Und das tue ich auch weiterhin. Solange ich aussagen kann, solange ich die Wahrheit weitergeben kann, werde ich das auch tun.

 

Haben Sie eine finanzielle Entschädigung aus Deutschland erhalten?

An das genaue Datum erinnere ich mich nicht mehr, aber es war in den 1960er Jahren. Ich erhielt 5000 alte Francs.

 

Was denken Sie heute über die Zeit im Lager?

(lange Ruhe) Was ich denke... Wir haben schrecklich gelitten – nicht nur ich, sondern alle Deportieren. Es schockierte mich, wozu die deutsche Regierung zu dieser Zeit imstande war... Uns so zu demütigen, uns zu erniedrigen wie Tiere. Nicht mehr denken zu können, nicht mehr Handeln zu können wie ein Mensch, war furchtbar. Manche von uns haben sich wirklich wie Tiere verhalten und haben anderen Gefangenen das Essen gestohlen. So etwas darf zwischen Gefangenen einfach nicht passieren. Jeder bekommt seine Ration, und diese Ration hat man zu respektieren. Das Verhalten unter den Deportierten beschäftigte mich am meisten. In meinen Augen haben einige ihre Würde verloren.

 

Was denken Sie heute über Deutschland?

Deutschland hat sich verändert, das ist klar. Im Vergleich zu damals ist es ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Es lässt sich wirklich nicht vergleichen. Als ich erstmals wieder Kontakt zu jungen Deutschen hatte, die nach St. Raphael zur Ausstellung kamen, war ich über diese Begegnung sehr schockiert.
Sie haben uns das Erlebte nicht geglaubt. Und ich habe mich gefragt, ob das alles vielleicht doch noch nicht vorbei ist. Aus diesem Grund war ich alles andere als gelassen, als ich das erste Mal nach Deutschland zurückkehrte. Das war kurz vor der Einweihung der Gedenkstätte in Neuengamme. Es fühlte sich an, als hätte ich Blei auf den Schultern. Ich fühlte mich nicht sicher. Vielleicht wurde es noch schwieriger, weil ich erst so spät wieder nach Deutschland zurückgekehrt bin. 50 Jahre später war das.

Ich hatte große Furcht, meinen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Ich fühlte mich sehr viel unsicherer als meine Kameraden. Sie kamen schon seit Jahren nach Deutschland und pflegten auch Kontakt zu Deutschen. Bei mir war das anders. Ich muss zugeben, dass ich gegenüber den Deutschen lange sehr kritisch war. Meine Mutter verlor zwei Brüder, meinen Vater und einen Sohn im Krieg 1914-18. Sie warnte mich ständig vor den Deutschen.

 

Möchten Sie der neuen Generation, die den Krieg nicht miterlebt hat, etwas sagen?

Ich wünsche dieser Generation, dass sie den Krieg nie erleben werden, da es absolut nichts Schlimmeres gibt. Ein solches Unverständnis zwischen Nationen sollte es nie wieder geben. Jede Nation hat ihre Eigenheiten, aber es sollte trotzdem möglich sein, ohne Waffen miteinander zu kommunizieren. Ich bin sehr froh, dass Frankreich und Deutschland sich wieder verstehen, obwohl sie nicht immer einer Meinung sind. Es war gut, dass De Gaulle und Adenauer beide Nationen miteinander versöhnt haben. Ich denke, dass die Jugend einen großen Teil dazu beigetragen hat. Ihr wurde klar, dass der Krieg nie etwas Gutes bringt. Heute ist es so, dass man, auch wenn man nicht immer einer Meinung ist, wenn es um ernste Themen geht, doch am gleichen Strang zieht.

Das Interview mit Pascal Vallicioni führte Sarah Mayr am 9. August 2014 in Cabris, gedolmetscht wurde es von Emma Juliard.

 

 


[1] Als Maquis werden die französischen Partisanen der Résistance bezeichnet.
[2] (SNCF) Société Nationale des Chemins de fer Français: staatliche Eisenbahngesellschaft Frankreichs.
[3] Die Glacamier, Raymond Gourlin erzählt in seinem Interview von den grauenhaften Zuständen auf dem Schiff.

 

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Pascal Vallicioni
.... hier sah ich Leichenberge, die bis zu den Häuserdächern reichten...

 

Pascal Vallicioni. Foto: Sarah Mayr. All rights reserved.

Pascal Vallicioni. Foto: Sarah Mayr. All rights reserved.

Herr Vallicioni, wann wurden Sie geboren?

Ich wurde am 19. Dezember 1926 in Toulon in Frankreich geboren. Einen großen Teil meiner Kindheit habe ich in Toulon, einem Stadtteil von Marseille, verbracht. Nach einiger Zeit, es war in den Osterferien 1943, entschieden sich meine Eltern, dass wir das Ende des Krieges in den Hautes-Alpes abwarten sollten. In einem Dorf namens La Bâtie-Montsaléon. Wir kannten diesen Ort schon lange, da wir unsere Sommerferien oft dort verbracht hatten. Als wir dort ankamen, waren viele junge Menschen nicht mehr da. Ich fragte einen der Bauern, den ich kannte, was passiert war. Er sagte nur: „Ich weiß es nicht“.

Jedes Mal, wenn ich ihn wiedersah, stellte ich ihm die gleiche Frage. Er antwortete immer das Gleiche. Aber eines Tages hat er mir dann doch die Wahrheit gesagt: „Diese jungen Leute haben ihre Familien verlassen, um in einem Maquis[1] Schutz zu finden und nicht nach Deutschland zu müssen.“ Von da an begann mein Widerstand.
Erst war ich nur ein einfacher Verbindungsmann und brachte ihnen abends Verpflegung. Für den Weg zu den Maquisards brauchte ich etwa ein oder zwei Stunden. Oft habe ich auch bei ihnen geschlafen. Meiner Mutter machte es Sorgen, wenn ich am Morgen immer noch nicht zu Hause war. Am Tage fuhr ich mit dem Fahrrad auf ein Plateau, um auf der Nationalstraße von Marseille bis Gap nach den deutschen Lastwagen Ausschau zu halten. Sie zu sehen, war das Zeichen, dass sie einen Maquis überfallen würden. Sobald ich sie sah, ging ich los, um die anderen zu warnen.

Da man mich denunziert hatte, musste ich dann ganz in den Untergrund. Unsere Gruppe bestand nur aus zwölf Personen. Aus diesem Grund waren wir ein „fliegender Maquis“. Wenn wir einen Auftrag erhielten, erledigten wir diesen und kehrten nie wieder an denselben Ort zurück, damit sie uns nicht finden konnten. Unser Anführer war ein spanischer Republikaner, ein harter Mann, der schon im Krieg in Spanien gekämpft hatte. Einer der Maquis, ein geflohener Kriegsgefangener, wurde von uns nach Gap gesandt, um ein Waffenlager zu finden. Wir sagten ihm: „Wenn du in drei Tagen nicht wieder da bist, wirst du uns hier nicht mehr finden.“ Wir gingen davon aus, dass der Auftrag maximal drei Tage dauern würde, aber nach zweieinhalb Tagen war er immer noch nicht zurück.
Der Kamerad wurde erwischt und gefoltert. Sobald Verhaftete gefoltert wurden, wusste man nicht mehr, ob sie standhalten würden oder nicht. Er hielt nicht durch. Man hatte ihm mit einer in Alkohol getränkten Watte den Rücken tamponiert. Nach und nach zündeten sie den Alkohol entlang der Wirbelsäule an. So kam es, dass er die Deutschen zu uns brachte. Später ist er zur Gestapo übergelaufen.
Wir waren zu zwölft in unserem Versteck und wurden von 250 Deutschen angegriffen. Ich hatte meine letzte Wache bis vier Uhr morgens gehabt und schlief zu diesem Zeitpunkt. Um halb sieben griffen sie an, der Kampf dauerte bis elf Uhr morgens. Wir haben uns gewehrt, mit Pistolen und Handgranaten. Ein Kamerad nahm sich ein Maschinengewehr.
Am Ende wurde ich zusammen mit fünf anderen Kameraden gefangen genommen. Sie brachten uns in die Kaserne Demichelis. 48 Stunden blieben wir dort, ohne Essen und Trinken. Wir dachten, dass sie uns nun erschießen würden. Danach brachten sie uns in die Kommandantur der Gestapo. Ich war der Erste, der verhört wurde und zu meiner großen Verwunderung wurde ich von einem französischen Kollaborateur namens Grasset verhört. Ich war damals siebzehn Jahre alt. Zuerst stellte ich mich dumm: „Ich weiß über nichts Bescheid!“ Sie wussten, sie würden nichts aus mir rausbekommen, also zogen sie mir meine Schuhe aus und verbrannten meine Fußsohlen mit Zigaretten. Ich habe vor Schmerz geweint und geschrien. Ich schrie, so laut es ging, weil sie das nicht mochten. Und ich antwortete immer auf die gleiche Weise. Bei den Maquis hatten wir gelernt, wie wir uns bei Verhören verhalten sollten. Die Folter ging ungefähr eine Viertelstunde lang. Ich sagte immer das Gleiche, Unwichtiges. Schließlich hörten sie auf und teilten mir mit, dass ich zum Tode verurteilt sei. Das sagten sie auch meinen Freunden.

Wir wurden zum Bahnhof von Gap gebracht. Dort warteten wir auf den Zug. Es war ein normaler Zug des SNCF[2]. Dann ging es nach Marseille zum Hauptbahnhof. Es waren acht Tage vergangen, in denen wir uns nicht gewaschen hatten. Wir hatten Bärte bekommen, unsere Kleidung war zerrissen, wir waren dreckig und umringt von Militär mit Hunden. Alle Menschen am Bahnhof konnten uns in diesem Zustand sehen.
Dann wurden wir nach Baumettes, ein großes Gefängnis in Marseille, gebracht. Am 12. Juni brach dort ein großes Durcheinander aus, und wir wurden in den Zug geschickt. 80 Leute pro Abteil, Abfahrt Richtung Unbekannt. Diese Reise dauerte drei Tage und drei Nächte, ohne Trinken, mit nur einem Stückchen Brot. Es war Juni und somit war es sehr warm in den Waggons. Ich wusste, dass wir in Deutschland sein mussten, da ich durch die Spalten zwischen den Brettern die Aufschrift „Stuttgart“ lesen konnte. Auch sah ich die Hitlerjugend auf einem Bahnsteig stehen. Es war klar: Wir sind in Deutschland.

Wie sind Sie in Deutschland angekommen?

Am 1. September 1944 kamen wir in Neuengamme an. Wir sollten aus den Waggons springen. Die waren einen Meter und zehn hoch, und wir waren ganz steif und ungelenkig. Das Springen war also sehr schwer. Die SS kam sofort. Sie schlugen uns mit Knüppeln und schrien: „Schnell! Los! Schnell! Los!“. In Fünferreihen haben wir dieses bekannte Tor von Neuengamme passiert. Dort brachten sie uns direkt in ein Kellergeschoss und verteilten Suppe. Ich war so fassungslos, dass ich nichts essen konnte. „Was tue ich hier? Ich bin hier, aber warum?“
Wir wurden unter die Dusche geschickt und mussten dann ganz nackt wieder raus. Das war unsere erste Demütigung. Zu unserer Zeit zeigte man sich nicht nackt, das machte man damals nicht mal vor den Eltern. In einem Kellergeschoss mussten wir uns flach auf Tische legen und andere Deportierte rasierten uns vom Kopf bis zur Sohle. Anschließend behandelten sie die sensibelsten Stellen mit einem aggressiven Desinfektionsmittel, um Läusebefall zu verhindern.
Sie gaben uns Kleidung, danach eine Nummer, dann Holzschuhe und russische Socken. Diese russischen Socken waren große Vierecke aus Stoff, man stellte die Füße in die Mitte und faltet die Ecken zusammen. Damit begannen sie das Individuum zu entpersonalisieren. Jetzt warst du irgendjemand. Ich fühlte mich wirklich verloren, ich wusste nicht mehr, wie mir geschah. Ich könnte nicht einmal mehr sagen, wo ich schlief, was ich aß, was wir gemacht haben während der drei Tage, die wir in Neuengamme geblieben sind. Ich weiß nichts, wirklich überhaupt nichts mehr.
Dann mussten wir wieder fort. Wir sind die ganze Nacht gelaufen. Am Abend kamen wir dann in Wilhelmshaven an. Am nächsten Morgen haben wir gesehen, dass wir von Stacheldraht umringt waren. Der Zaun ging um das ganze Lager herum und wurde von Elektrikern, französischen Deportierten, unter Strom gesetzt.

Ein Arbeitstag im KZ Wilhelmshaven bedeutete: um vier Uhr morgens aufstehen und schnell in den Waschraum, dann ganz nackt das Gesicht waschen. Um uns abzutrocknen, hatten wir so ein schönes Handtuch von der Kriegsmarine. Dann gingen wir wieder zurück in unsere Zimmer, wir zogen uns schnell an und standen dann in der Schlange für den Kaffee. Das war eigentlich aufgewärmtes und eingefärbtes Wasser. Aber es war wichtig für uns, weil es warm war. Dann ging es zum Appell.
Wir wurden gezählt, es war immer die gleiche Prozedur. Es dauerte eine Stunde. Dann gingen wir in eine Fabrik, die etwa drei oder vier Kilometer vom Lager entfernt war. Dort wurden wir in Gruppen aufgeteilt. Ich fand mich beim Elektroschweißen wieder. Als ich eine Mittelohrentzündung bekam, konnte ich mir selber helfen. Ich kurierte sie mit den heißen Metallplatten aus. In meiner Box konnte ich vermeiden, dass mein Vorarbeiter mich dabei sah. Eines Morgens kam er zu mir und sagte: „Los, schnell, nimm!“ Er gab mir ein Brot mit Margarine. Zweimal tat er das. Auch anderen hat er hin und wieder etwas zugesteckt. Meine Kameraden haben mir davon erzählt. Dieser deutsche Vorarbeiter, ich habe ihn nie wieder gesehen, ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Das letzte Mal, als ich nach Deutschland kam, habe ich mich nach seiner Familie erkundigt. Ohne Resultat... Es tut mir wahnsinnig leid, nie etwas über seine Familie in Erfahrung gebracht zu haben.

Was wurde in dieser Fabrik hergestellt?

Die Deutschen stellten dort U-Boote her. In Wilhelmshaven war eine Basis für U-Boote der deutschen Marine. Wir arbeiteten für die Basis des Unterwassermilitärs von Wilhelmshaven. Wir wurden von der französischen SS beaufsichtigt, die bekannte Division Charlemagne, die durch ihr Auftreten an der russischen Front berühmt wurde. Man hat mir beigebracht, die Seilwinden der deutschen U-Boote zu löten. Diese waren zwischen sieben und neun Meter lang. Die Achse war rund, hatte vier Außenseiten. Wir löteten Kupferteile an die gesamte Länge an. Es gab zwei Gefangene, die bis zur Mitte hin arbeiteten, und zwei andere, die an den Enden der Achse arbeiteten. Sobald alle Arbeiten erledigt waren, wurden die Achsen geprüft. Waren die Lötstellen nicht perfekt, kamen sie zurück.
Als eines Tages eine der Achsen zurückkam, hatten wir ein Problem. Es war ein russischer Deportierter, der die fehlerhaften Stellen gelötet hatte. Der Kapo schlug ihn zu Tode. Es ist schlimm, das zu sagen, aber für uns war das nur ein Zwischenfall. Wir hatten schon so viel gesehen, dass uns dies nicht mehr berührte. Später war es nicht mehr die französische SS, die uns bewachte, es kam eine andere Brigade. Unsere Ernährung bestand aus einem Kaffee morgens - das war wieder nur schwarzes Wasser - , einer Suppe mit ein paar vereinzelten Kohlrübenstückchen mittags, und an manchen Abenden bekamen wir zwei Scheiben Brot mit einem Stückchen Margarine. Das war alles. Manchmal bekamen wir auch gar kein Essen. Das war schwer auszuhalten, nach all den unerwarteten Ereignissen und all den endlosen Appellen.
Die Appelle waren immer abends, denn tagsüber mussten wir ja arbeiten. Dieses Antreten dauerte drei bis dreieinhalb Stunden, egal zu welcher Uhrzeit. Wir mussten die Gefangenen liegenlassen, die zu Boden fielen. Wir durften sie nicht anfassen. Sie zählten uns und zählten uns noch einmal. Das war ihre Taktik. Sie sagten immer, es würde einer fehlen, aber das stimmte nicht. Es war eine Lüge, aber sie zählten weiter, die ganze Zeit. Am 5. April 1945 wurden wir von Wilhelmshaven abtransportiert. Daraufhin kamen wir am Bahnhof von Bremervörde an. Zu Fuß liefen wir bis zum Stalag X B.
Wir liefen in der Mitte einer großen Allee darauf zu. Vor uns konnten wir die Umrisse eines Hügels sehen, und erst als wir näher kamen, konnten wir erkennen, dass es ein Berg komplett aus Leichen war. Ich meine wirklich einen Berg. Er war sicher drei bis vier Meter hoch. Sie machten gerade die Dachlichter aus, es wurde dunkel, und wir fragten uns, wo wir hier gelandet waren. Einige Mithäftlinge, denen ich glaubte, erzählten mir, dass sie sahen, wie andere Deportierte die Leber und das Herz der Leichen rausgerissen hatten, um sie zu essen. In diesem Lager herrschte die totale Verzweiflung.
Es gab keine Betten, wir schliefen auf dem Holzfußboden. Irgendwann, ich war zu diesem Zeitpunkt in keiner guten Verfassung, gab es einen Aufstand. Wir hatten nichts mehr zu essen. Viele der gesunden Gefangenen überfielen die Küchen, um Nahrung zu suchen. Manche sind mit den Taschen voller Zucker zurückgekehrt. Mein Freund Lepajolec, der vor vier Jahren gestorben ist, hatte es geschafft und kam mit den Taschen voller Zucker zurück. Mein Freund Gourlin kam mit einem Stück Brot zurück.
Nach drei Tagen wurden wir wieder weggebracht. Unser Durchgangslager war im Verhältnis zu dem, was wir sonst gesehen hatten, besonders brutal. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Ich habe so viele Leichen gesehen. Sie lagen einfach so am Straßenrand. Ich hatte auch schon in Wilhelmshaven Leichen gesehen, aber hier sah ich Leichenberge, die bis zu den Häuserdächern reichten.



Karte des Todesmarschs von Pascal Vallicioni (und Raymond Gourlin) vom 5.04. bis 30.04 1945. Foto: privat. All rights reserved.

Karte des Todesmarschs von Pascal Vallicioni (und Raymond Gourlin) vom 5.04. bis 30.04 1945.
Foto: privat. All rights reserved.

 

Wann und wo sind Sie befreit worden?

Ich wurde von diesem berühmten Schiff [3] mit meinen Kameraden in Flensburg befreit. Es war Kriegsende. Drei Tage vor dem Waffenstillstand. Wir wurden auf einem Schiff wegtransportiert. Wir hatten Glück, dass das Schiff nicht gesunken ist. Viele Schiffe mit Deportierten an Bord sind gesunken.
Später gab es die berühmte Bombardierung, in der Bucht von Lübeck. Dort starben sehr viele Menschen, 8000 Deportierte, bombardiert von englischen Flugzeugen. Wir hatten Glück, dass wir nicht auf diesen Schiffen waren.
Eines schönen Morgens sind wir auf offenem Meer von einem Schiff auf ein anderes umgeladen worden. Am 11. Mai 1945 circa um 17 Uhr 30 sind wir in Schweden gelandet. Dort sind wir vom Roten Kreuz betreut worden, bis zum Ende unserer Reise.

 

Pascal Vallicioni (fünfter von der Ecke unten rechts bei der Ankunft in Malmö am 11.05.1945)

Pascal Vallicioni (fünfter von der Ecke unten rechts) bei der Ankunft in Malmö am 11.05.1945.
Foto: privat. All rights reserved.

 

Was haben Sie nach der Befreiung gemacht?

Danach begann die schlimmste Zeit, da es kaum möglich war über das Erlebte zu sprechen. Zuerst erzählten wir anderen Leuten noch von unseren Erfahrungen, aber sie glaubten uns nicht. Also haben wir über Jahre hinweg alles für uns behalten. Natürlich redeten wir miteinander darüber. Als ich wiederkam, war ich mit meinen achtzehn Jahren schon seelisch und moralisch zerstört. Was mich eigentlich die ganze Zeit am meisten bewegte war, dass ich so viele Kameraden verloren hatte. Auch wenn ich viele von ihnen nicht gut kannte, waren wir alle wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Wir haben solch furchtbare Dinge zusammen erlebt, dass dieses Band immer da sein wird.
Ich habe vier Jahre gebraucht, um mich einigermaßen zu erholen. In den vier Jahren sah ich die Kameraden ein oder zwei Mal. Dann hörte ich auf sie zu treffen. Ich wollte sie nicht wiedersehen, da ich alles vergessen wollte. Während dieser vier Jahre ging es mir sehr schlecht. Was dann passierte, kann ich nicht beschreiben. Irgendetwas hat mich wiederbelebt. Ich weiß nicht, was das war, ich fand es nie wirklich heraus. Ich begann zu arbeiten. Seitdem habe ich nicht mehr über die Deportation gesprochen. Für mich war das alles vergessen. Na ja, nicht vergessen, es war ein Teil von mir, aber für mich war es tief begraben.

Und dann holte mich die Vergangenheit doch wieder ein: Die Jahre vergehen, und dann triffst du zufällig auf einen Kameraden, den du seitdem nie wieder gesehen hast. Es ist immer das Gleiche, eines führt zum anderen. Du landest wieder in der Vergangenheit. Denn selbst wenn sie es nicht wollen, wenn sich zwei Deportierte treffen, landen sie zwangsläufig dort. „Erinnerst du dich noch?“ Irgendwann einmal habe ich dann auch aktiv an den Gruppentreffen von ehemaligen Deportierten teilgenommen. Ab diesem Zeitpunkt kam eins zum anderen und ich bot mein Wissen auch in den Universitäten an. Und das tue ich auch weiterhin. Solange ich aussagen kann, solange ich die Wahrheit weitergeben kann, werde ich das auch tun.

Haben Sie eine finanzielle Entschädigung aus Deutschland erhalten?

An das genaue Datum erinnere ich mich nicht mehr, aber es war in den 1960er Jahren. Ich erhielt 5000 alte Francs.

Was denken Sie heute über die Zeit im Lager?

(lange Ruhe) Was ich denke... Wir haben schrecklich gelitten – nicht nur ich, sondern alle Deportieren. Es schockierte mich, wozu die deutsche Regierung zu dieser Zeit imstande war... Uns so zu demütigen, uns zu erniedrigen wie Tiere. Nicht mehr denken zu können, nicht mehr Handeln zu können wie ein Mensch, war furchtbar. Manche von uns haben sich wirklich wie Tiere verhalten und haben anderen Gefangenen das Essen gestohlen. So etwas darf zwischen Gefangenen einfach nicht passieren. Jeder bekommt seine Ration, und diese Ration hat man zu respektieren. Das Verhalten unter den Deportierten beschäftigte mich am meisten. In meinen Augen haben einige ihre Würde verloren.

Was denken Sie heute über Deutschland?

Deutschland hat sich verändert, das ist klar. Im Vergleich zu damals ist es ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Es lässt sich wirklich nicht vergleichen. Als ich erstmals wieder Kontakt zu jungen Deutschen hatte, die nach St. Raphael zur Ausstellung kamen, war ich über diese Begegnung sehr schockiert.
Sie haben uns das Erlebte nicht geglaubt. Und ich habe mich gefragt, ob das alles vielleicht doch noch nicht vorbei ist. Aus diesem Grund war ich alles andere als gelassen, als ich das erste Mal nach Deutschland zurückkehrte. Das war kurz vor der Einweihung der Gedenkstätte in Neuengamme. Es fühlte sich an, als hätte ich Blei auf den Schultern. Ich fühlte mich nicht sicher. Vielleicht wurde es noch schwieriger, weil ich erst so spät wieder nach Deutschland zurückgekehrt bin. 50 Jahre später war das.

Ich hatte große Furcht, meinen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Ich fühlte mich sehr viel unsicherer als meine Kameraden. Sie kamen schon seit Jahren nach Deutschland und pflegten auch Kontakt zu Deutschen. Bei mir war das anders. Ich muss zugeben, dass ich gegenüber den Deutschen lange sehr kritisch war. Meine Mutter verlor zwei Brüder, meinen Vater und einen Sohn im Krieg 1914-18. Sie warnte mich ständig vor den Deutschen.

Möchten Sie der neuen Generation, die den Krieg nicht miterlebt hat, etwas sagen?

Ich wünsche dieser Generation, dass sie den Krieg nie erleben werden, da es absolut nichts Schlimmeres gibt. Ein solches Unverständnis zwischen Nationen sollte es nie wieder geben. Jede Nation hat ihre Eigenheiten, aber es sollte trotzdem möglich sein, ohne Waffen miteinander zu kommunizieren. Ich bin sehr froh, dass Frankreich und Deutschland sich wieder verstehen, obwohl sie nicht immer einer Meinung sind. Es war gut, dass De Gaulle und Adenauer beide Nationen miteinander versöhnt haben. Ich denke, dass die Jugend einen großen Teil dazu beigetragen hat. Ihr wurde klar, dass der Krieg nie etwas Gutes bringt. Heute ist es so, dass man, auch wenn man nicht immer einer Meinung ist, wenn es um ernste Themen geht, doch am gleichen Strang zieht.

Das Interview mit Pascal Vallicioni führte Sarah Mayr am 9. August 2014 in Cabris, gedolmetscht wurde es von Emma Juliard.

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Als Maquis werden die französischen Partisanen der Résistance bezeichnet.
[2] (SNCF) Société Nationale des Chemins de fer Français: staatliche Eisenbahngesellschaft Frankreichs.
[3] Die Glacamier, Raymond Gourlin erzählt in seinem Interview von den grauenhaften Zuständen auf dem Schiff.

 

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Pascal Vallicioni

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* 1926 in Frankreich

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