Raymond Gourlin

Raymond Gourlin
Es war unvorstellbar... einfach unvorstellbar... undenkbar...

 

Raymond Gourlin. Foto: Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung). All rights reserved

 

Ich wurde am 24. Januar 1925 in Chaumont (Frankreich) in bescheidenen Familienverhältnissen geboren. Ich war kein sensationell guter Schüler, eher Durchschnitt. 1936 machte ich meinen Abschluss, 1939 kam die Kriegserklärung. Ich lernte Typograph. Dieses Wissen sollte mir später noch sehr nützlich sein.

 

Wie kamen Sie zum Widerstand?

Die Okkupation war für mich Einschränkung und Repression. Angefangen hat es damit, dass wir, wenn wir auf dem Gehweg gingen, die Deutschen vorbeilassen und auf die Straße ausweichen mussten. An den Fußgängerüberwegen stand immer ein Deutscher. Wir bekamen eine Strafe, wenn wir die Straße nicht genau am Fußgängerüberweg überquerten. Die französische Polizei, Hilfskraft der Deutschen, verfolgte uns, wenn wir zu zweit nebeneinander auf dem Rad fuhren, wir durften nur hintereinander fahren, niemals nebeneinander. Ab diesem Zeitpunkt bekam ich Probleme mit der französischen Polizei. Wir verstießen gegen deren Regeln. Wir fühlten uns schikaniert, es gab eine Ausgangssperre und Sperrstunden, wegen angeblicher Attentate. Die Ausgangssperre begann normalerweise um 22 Uhr, dann wurde sie aber immer länger.
Es gab kaum Kinos, keine Tanzveranstaltungen, dies waren erhebliche Freiheitsbeschränkungen. In mir regte sich Widerstand, ganz langsam.
Ich war damals Mitglied des Jugendherbergsvereins. Ich liebte es, Zelten zu gehen, Kanu zu fahren und zu schwimmen. In vielen der Jugendherbergen gab es Vervielfältigungsapparate, Roneo-Apparate, Maschinen, um Flugblätter zu drucken. Nur das Papier fehlte. Es gab immer guten Willen, aber kein Papier. Ich als Drucker hatte die Möglichkeit, Papier bei meinem Chef zu stehlen. Und wir druckten Flugblätter. Andere, ältere Jugendliche, verteilten sie. Der Widerstand begann in diesen Jugendherbergen. Wir gewöhnten uns daran, den Gesetzen der Besatzer und der Vichy Regierung etwas entgegenzusetzen, es war ein Widerstand ohne Netzwerk, ohne alles. Damals hießen wir noch nicht einmal Widerstand, wir hatten einfach Spaß dabei.

Ausweis von Raymond Gourlin. Foto: privat. All rights reserved

1943 wurde ich verpflichtet, nach Deutschland zu gehen, im Rahmen des STO[1]. Ich war gerade achtzehn geworden, ich nahm mein Fahrrad und mein Zelt und haute ab. Ich versuchte es mit mehreren Arbeitsstellen, wurde aber immer nach einigen Tagen entlassen. Da fuhr ich zu meinem Bruder und sagte: „Hör mal, ich kann nun nichts mehr tun, ich bin am Ende. Ich weiß nicht mehr wohin.“ Mein Bruder half mir, bei der Polizei von Vichy in Châlons anzufangen. Am 1. September 1943 wurde ich offiziell in den Polizeidienst von Chaumont aufgenommen. Die Krönung war, dass ich für die telefonische Vermittlungsstelle eingeteilt wurde - das bedeutete eigentlich für die Abhörstelle.
Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie, an diesem Morgen um halb elf kam mein Bruder zu mir und sagte: „Heute Abend gehen wir zu den Maquis[2].“  „Ah ja?“ „Ja, es stellt sich ein Maquis zusammen, in der Haute-Marne, 20 km entfernt von Chaumont, wir gehen da hin.“ Also gingen wir zu den Maquis, aber zuvor klaute ich alle Waffen und Munition, die im Revier von Chaumont gelagert waren. Ich nahm alles mit. Wir gingen zu viert, mein Bruder und ich, ein Verbindungsagent und ein anderer Polizist. Ich wusste gar nicht, dass er auch im Widerstand war.
Wir kamen zu diesen Maquis von Lefont in der Haute-Marne. Dort lernten wir, Waffen zu benutzen und mit Sprengstoff und Zeitzündern umzugehen. Wir lebten im Wald. Am 16. Juni 1944 warteten wir auf Trinkwasser, doch stattdessen kamen die Deutschen. Sie umringten mich. Aus Reflex ließ ich meine Pistole an meinem Oberschenkel entlang gleiten und stellte den Fuß darauf, sie sahen sie nicht. Was ich jedoch vergessen hatte, war der amerikanische Kommandodolch an meinem Gürtel, den sahen sie sofort, und ich bekam einen Schlag auf den Kopf und wurde festgenommen. Kurz danach nahmen sie mich mit.
Ich wurde zur Gendarmerie von Chaumont gebracht. Am nächsten Tag wurde ich von der Gestapo abgeholt. Dort wurde ich richtig verhört: Sie wollten wissen, wo ich herkam; ich erklärte ihnen, dass es geregnet hätte und ich Schnecken sammeln gewesen wäre. Sie glaubten mir nicht, und diese Geschichte kostete mich ein paar Zähne und Schläge auf den Kopf. Sie warfen mir eine Regenjacke über und brachten mich zum Auto. Ich landete im Gefängnis von Langres.
Am 27. August mussten alle raus auf den Hof und in einen Viehwaggon steigen.

 

Wer organisierte den Transport zwischen Frankreich und Deutschland?

Es war die Armee, die Wehrmacht gemeinsam mit der Feldgendarmerie.

 

Wie wurden Sie behandelt?

Wir sahen niemanden, wir waren immer eingesperrt. Es war nicht so eng. Keine 100 Personen zusammen, wie es bei vielen anderen Transporten war, wir konnten noch sitzen oder liegen. Wir hatten nichts zu essen und nur einmal, in Epinal, etwas zu trinken. Am 1. September 1944 früh morgens kamen wir in Neuengamme an. Dort war es voll mit SS und bellenden scharfen Hunden, Männern mit Schlagstöcken in der Hand und schwarzen Mützen auf. „Wo sind wir? Was tun wir hier?“ Wir wussten zwar, dass Konzentrationslager existierten, dachten aber, wir würden dort nur arbeiten müssen und es würde ein Ende geben und wir würden wie Kriegsgefangene behandelt werden. Aber nein, so war es ganz und gar nicht. Wir sammelten unsere Sachen, zu fünft gingen wir weiter, unter Schlägen. Das Gleis war nicht betoniert, wir stolperten und liefen die eineinhalb Kilometer. Als wir ankamen, schien eine schöne Sonne, die Sonne war so wunderbar, aber es war nicht warm an diesem Morgen.

Wir wurden zusammengepfercht, wir wussten nicht wirklich, wo wir waren. Ich sah Typen draußen, vor den Holzbaracken, alle Baracken waren eingezäunt. Ich sah diese Männer, manche trugen Lumpen, andere ein Hemd, manche trugen diese gestreiften Kleider, andere hatten Kreuze in Farbe auf dem Rücken und auf der Hose. Sie winkten, sie waren mager. Ich dachte, sie hätten Hunger, aber das war es nicht, was sie uns sagen wollten: „Wenn ihr Lebensmittel habt, esst sie jetzt! Sie werden euch alles wegnehmen.“ Ich hatte kein Essen dabei, aber meine Freunde, wir hatten es uns während des Transportes geteilt, am Ende wurde uns alles weggenommen.
Am Nachmittag mussten wir unsere Kleider ausziehen, in eine Tüte packen und unsere Namen angeben. Wir mussten komplett nackt zum Rasieren gehen. Vom Kopf bis zu den Füßen wurden wir rasiert, wie ein Schwein. Wenn ein Schwein getötet wird, wird es genauso rasiert. Danach kam die Dusche, sie wurde heiß, eiskalt, warm, heiß und wieder eiskalt. Es gab keine Seife und kein Handtuch. Es war aber das erste Mal, dass ich mich seit meiner Festnahme waschen konnte. Ich war wirklich dreckig. Danach mussten wir uns mit Cresyl[3] einpinseln, es piekte und brannte höllisch überall dort, wo ich rasiert worden war. Letztendlich gingen wir uns anziehen, ein Hemd, eine kurze Unterhose, zwei kleine Stücke Stoff, die als Socken dienen sollten, wir nannten sie russische Socken, eine gestreifte Hose und eine gestreifte Jacke. Wenn sie passte, Glück gehabt, wenn nicht, schade. Es kam nicht in Frage, die Jacken umtauschen zu wollen. Wenn sie nicht passten, bekam man 25 Knüppelschläge.

Die Kennnummer wurde auf die Jacke genäht, darunter das rote Dreieck und das "F" für die Nationalität, auch auf die Hose. Sie gaben uns eine schöne Kette, eine kleine Zinkplakette mit der Kennnummer darauf, wir sollten sie um den Hals tragen.

 

KZ Häftlingsmarke Raymond Gourlin, Foto: privat. All rights reserved.

 

 

Es ist das Einzige, was ich von dort mitnahm. Ich begann zu lachen, nicht laut, aber ich lachte, ich konnte nicht anders, ich fing an zu lachen, und mein Nachbar sagte: „Na, das findest du lustig? Was findest du denn so lustig?“ „Na guck mal, wir sehen alle wie nackte Ankleidepuppen aus!“ Ich musste lachen, uns so zu sehen... Ich war noch ein Kind, später lachte ich nicht mehr.

Danach wurden wir erfasst, wir waren ungefähr 800 Leute. Einer begrüßte uns: „Ihr seid Feinde des großen Reichs, ihr seid hier, um zu arbeiten, und ihr werdet hart arbeiten. Ihr seid durch das Tor reingekommen, ihr werdet durch den Schornstein rausgehen!“, dabei zeigte er auf den Kamin vom Krematorium. Wir bekamen eine Scheibe Brot, mit einem kleinen Stück trockener Wurst. Ich hatte seit der Abfahrt von Langres nichts mehr gegessen und biss in das Brot und dann in die Wurst. Da spürte ich etwas Hartes. Ich dachte, es wäre ein Knochen, aber mit einem Fingernagel? Es war bestimmt ein Daumennagel, so groß wie der war. Ich fragte mich immer, woraus diese Wurst wohl gemacht worden war. Nie bekam ich eine Antwort, bis ich später von einer Frau aus Ravensbrück las, der genau dasselbe passiert war. Sie hatte einen Fingernagel in ihrem Essen gefunden, was beweisen könnte, dass die Deutschen damals sehr mit dem Fleisch gespart haben.

Meine Nummer war die 43948. Ich hörte sie, ging nach vorne und wurde in einen Viehwaggon geschoben. Wir fuhren los, zu dem Arbeitskommando in Wilhelmshaven. Es war ein riesiger Komplex, in dem U-Boote gebaut wurden, vor allem die sehr kurze Version, mit 2 Torpedos. Jeden Morgen um halb fünf läutete eine Glocke. Man musste in den Kleidern schlafen, um zu verhindern, dass sie geklaut wurden. Ich kam in die Blechwarenherstellung.
Nachts hörten wir in der Ferne Bombenangriffe und mussten in die Bunker gehen. Wir wurden von der französischen SS, die gerade erst angekommen war, bewacht, sie war auch kein Stück besser als die deutsche SS, genauso boshaft.
Ab Dezember 1944 wurden wir dann von Wehrmachts- und Kriegsmarinesoldaten bewacht, die schon sehr alt waren.

Im Dezember 1944 stand eines Morgens eine ganze Reihe Gefangener vor Block Eins. Ich habe sie immer noch vor Augen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie noch genau. Es waren Männer, physisch noch gut in Form, in sauberer gestreifter Häftlingskleidung. Unsere war schon ganz dreckig, weil sie nie gewaschen wurde. Diese Männer waren ungarische Juden aus Neuengamme, vielleicht waren es 100 oder 200. Sie wurden an diesem Tag alle in der Feuerlöschwasserreserve ertränkt, abends sah man keinen mehr von ihnen. Selbst die Gemeinde von Wilhelmshaven fand nach dem Krieg nicht heraus, wie viele es waren, da alle SS-Archive verschwunden waren.
In der Fabrik gab es auch Erhängungen. Ein Russe war auf seinem Arbeitstisch eingeschlafen, und seine Bohrmaschine hatte dabei ein Loch in den Tisch gemacht, er wurde dafür wegen Sabotage verhaftet, in Neuengamme zum Tode verurteilt und in der Fabrik, vor den Augen aller, gehängt. Das Zivilpersonal der Fabrik wurde evakuiert, es blieben nur noch die SS und die Gefangenen. Der Russe stand auf einem Hocker, die Hände hinter dem Rücken gebunden und den Hals in der Schlinge. Ein deutscher Gefangener stieß den Hocker um. Ich stand vier oder fünf Reihen entfernt davon, ich habe alles mit angesehen... alles...

Es gab einen Italiener, der die ganze Nacht an seinen umgedrehten Armen aufgehängt wurde, er rief seine Mutter, damit sie kommen und den Strang abschneiden würde, er ist gestorben. Andere Russen und ein Franzose wurden dort auch erhängt.

 

Wie wurden die Kranken behandelt?

Es gab viele Kranke. Wenn man ins Krankenrevier kam, landete man meistens in der Leichenhalle, nebenan. An einem Sonntagnachmittag gingen wir zur Leichenhalle, die Tür war offen. Es gab unzählige nackte Leichen. Die Nummer der Häftlinge war auf die Brust gepinselt, mit Teer. Ich habe die Leiche des Bürgermeisters von Claireveaux wiedererkannt, mit ihm war ich im Gefängnis gewesen. Da es im Lager kein Krematorium gab, wurden die Toten in einem Sammelgrab auf dem Friedhof von Wilhelmshaven verscharrt. Es gibt heute noch nicht identifizierte Körper auf dem Friedhof von Wilhelmshaven.

 

Wer waren die Kapos?

Die Kapos waren Deutsche, es gab auch einen Polen. Die Kapos waren Vorabeiter, es waren deutsche gemeinrechtliche oder politische Gefangene. Sie waren die Vertretung der SS innerhalb des Lagers. Es gab die Küchenkapos, Blockführer, die sogenannten Blockältesten, und dann gab es den Stubendienst, der Stellvertreter des Blockältesten. Da war ein junger Franzose mit kaputten Schuhen. Er ging zum Krankenrevier, um zu fragen, ob er nicht von irgendeinem Toten die Schuhe wiederverwenden könnte. Ihm wurde gesagt, er solle am nächsten Tag wiederkommen, weil gerade keine Leichen da waren. Am nächsten Morgen ging er wieder hin und kam deshalb zu spät zum Appell. Als er abends von der Arbeit zurückkam, rief man ihn zum Appellplatz. Sein Kopf und beide Arme wurden in ein leeres Fass gesteckt, seine Beine wurden um das Fass gefesselt. Zwei Kapos gaben ihm dann 100 Schläge, anfangs schrie er noch, irgendwann hörte man ihn nicht mehr. Er war schon lange tot, aber die Kapos schlugen weiter, bis die 100 Schläge voll waren. Der arme Kerl, er hieß Delmas. Es passierte im März 1945. Es gab noch viele weitere Tote.

Am 3. April 1945, nach der Bombardierung des Arsenals, gab es einen ersten Abtransport mit Kranken und ein paar Gesunden, es waren um die 400 Leute. Aus unbekannten Gründen wurde dieser Konvoi von den Engländern in Lüneburg bombardiert. Es gab wenige Überlebende. Am 5. April früh morgens wurden wir zum Appellplatz gerufen. Es wurden Winterhosen verteilt, aber nicht für alle. Wir knoteten unsere Decken um die Schultern. Wir sind dann losmarschiert, 600 Leute entlang der Wegränder nach Bremen-Farge, dort gab es ein Kommando auf dem Bremer Unterwasserstützpunkt Valentin. Vom 8. bis zum 10. April blieben wir dort, danach wurden die Gefangenen getrennt und entweder nach Sandbostel, Neuengamme oder Lübeck gebracht. Wir sind 330 km zu Fuß bis nach Hamburg gelaufen, am 17. April kamen wir an. Auf dem Weg gab es ungefähr 80 Gefangene, die nicht mehr laufen konnten. Sie wurden einfach am Straßenrand erschossen und begraben, auch zwei meiner Freunde.

 

Karte des Todesmarschs von Raymond Gourlin (und Pascal Vallicioni) vom 5.04. bis 30.04 1945. Foto: privat. All rights reserved.

 

Bekamen Sie unterwegs etwas zu essen?

Es gab etwas zu essen, aber nichts zu trinken, auch keine Suppe. Wir tranken Wasser aus den Pfützen, und abends aßen wir ein wenig Brot. Von Hamburg fuhren wir in Zügen weiter, bis nach Sandbostel, dort kamen wir am 18. April früh morgens an. Dort gab es einen Tümpel voller Toter, ich habe es nicht gesehen, aber Jean Nevel hat es mir erzählt. Woran ich mich allerdings bei meiner Ankunft erinnern kann ist, dass entlang der Mauer, auf der linken Seite, ein Haufen nackter toter Leichen lag. Sie waren aufeinander gestapelt und fixierten uns mit starrem Blick und offenem Mund, als wollten sie uns etwas sagen. Als wir weitergingen, hatten wir das Gefühl, dass dieser Blick uns verfolgen würde.

Es gab Menschen, die stöhnten und Klagelaute von sich gaben, Menschen, die sich am Boden krümmten und zusammenrollten, um zu sterben. Andere versuchten, sich zum Sterben zu verstecken. Man sagt, dass Vögel so etwas tun, Menschen aber auch. Ich habe Menschen gesehen, die im Sand entlang des Blocks gegraben und gegraben und gegraben haben, um dort still sterben zu können...
Auf der anderen Seite waren die französischen Kriegsgefangenen, sie versuchten oft, uns Brot über den Zaun zu werfen, zum großen Missfallen der SS. Die waren gar nicht froh darüber, aber sie trauten sich nicht, auf die Kriegsgefangenen zu schießen. Ein herübergeworfener Brotkanten löste Schlägereien aus, denn sofort sprang eine Menschentraube zu Boden, jeder versuchte dieses Stückchen Brot für sich zu ergattern. Es wurde wild gekämpft, und man verletzte sich. Ich sah Menschen, die offensichtlich menschliche Fleischstücke in verrosteten Dosen kochten. Ja, in Sandbostel gab es Kannibalismus.
Aus der Küchenbaracke kamen Leute mit Brot geschlichen, und als es Nacht war, bin auch ich hineingegangen und habe mir einen Laib Brot genommen. Als ich rauslief, kam die SS und schoss in die Menge. Es gab viele Tote, ich schaffte es gerade noch durch die Tür zu fliehen. Wir mussten nach Bremervörde weiterlaufen, und irgendwann machten wir eine Pause. Sie gaben uns eine halbe Brotkugel und ein Stück Salami, ich hatte ja noch das geklaute Brot. Von dort wurden wir in Viehwaggons weiter nach Stade verfrachtet. Unterwegs beschoss uns die englische Luftwaffe. Die Lok wurde getroffen, der Zug stoppte. In unserem Waggon war ein SS-Mann, der verhindern sollte, dass wir fliehen, denn die Türen waren offen. Bei jeder Schusssalve der Flugzeuge zersprang das Wagendach, und irgendwann erwischte eine Kugel den SS-Mann. Wir nutzten die Gelegenheit sofort und flohen in Richtung eines nahen Tannenwaldes. Obwohl ich in der Dunkelheit nicht viel sehen konnte, hörte ich andauernd die Kugeln dicht hinter mir einschlagen. Meine Beine fühlten sich an, als ob sie platzen würden. Ich hatte Todesangst...
Als ich endlich den Wald erreichte, konnte ich durchatmen. Ich hatte noch das Brot bei mir und verschlang es schnell. Manche konnten entkommen, manche wurden erwischt, es gab viele Tote. Viele Deutsche und auch viele Gefangene starben. Zwei meiner Kameraden starben an den Kugeln.
Man sperrte uns in den Frachtraum eines Kohlefrachtkahns, er hieß Glacamier. Auf dem Kanal fuhren wir bis nach Kiel. Im hinteren Teil des Frachtraums roch es stark nach Verwesung. Ich war mir nicht sicher, ob vor uns auch schon andere Menschen dort drinnen gewesen waren. Wir waren insgesamt ca. 800 Personen, vier Tage ohne Essen und Trinken. Auch unsere Notdurft mussten wir dort verrichten, direkt auf den Körpern der toten Kameraden. Man stieg über die Leichen und versuchte dazwischen einen kleinen Platz zu finden. Es war unvorstellbar..., einfach unvorstellbar..., undenkbar...
Am 30. April kamen wir in Flensburg an. Man steckte uns in Viehwaggons, aber in der Nacht vom 2. zum 3. Mai gab es eine erneute Bombardierung. Ein Großteil der SS war schon geflohen und auch Kapos sahen wir keine mehr. Nur einen Blockführer gab es noch, und mein Freund Henry Paien und ich nutzten die Gelegenheit zu fliehen.

 

Was machten Sie nach Ihrer Flucht?

Ich habe mich ausgeruht... Es war schwierig, den Tod meines Bruders zu akzeptieren, er starb bei den Maquis. Nach langem Überlegen habe ich mich dafür entschieden wieder bei der Polizei zu arbeiten.

 

Bekamen Sie für die Zeit als Zwangsarbeiter eine finanzielle Entschädigung aus Deutschland?

Es gab tatsächlich eine Entschädigung für alle Deportierten, von Deutschland initiiert, noch lange vor der deutschen Wiedervereinigung. Deutschland gab dem Nationalen Büro für Kriegsveteranen und Kriegsopfer eine gewisse Summe, da bekamen wir ein bisschen Geld. Später gab es einen anderen Opferausgleich, der von Österreich organisiert wurde - für Leute, die in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten. Man musste einen Antrag stellen. Ich weigerte mich diesen Fragebogen auszufüllen. Ich wurde als Widerstandskämpfer der Résistance verhaftet. Ich sah daher nicht ein, wieso ich als Arbeiter und Angestellter betrachtet und vergütet werden sollte. Ich bin einfach stur, ich wollte dieses Geld nicht annehmen...

 

Was denken Sie heute über die Zeit in den Konzentrationslagern?

Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas hätte geben können. Man muss wirklich dort gewesen sein, um es glauben zu können. Ich habe es auch schon aufgeschrieben. Die, die nicht dort waren, können nicht verstehen, was in diesen Lagern geschehen ist. Eher habe ich Angst davor, dass es so etwas - und solche Menschen - an einem anderen Ort wieder geben könnte. Ich glaube, dass die heutige Generation sich das nicht mehr gefallen lassen würde. Aber momentan zweifle ich doch ein wenig, wenn ich mir die Lage in der Ukraine und Russland ansehe. Ich befürchte, dass etwas Schlimmes ausgelöst werden kann. Man darf sich nichts vormachen - in Russland hat es solche Menschen vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg gegeben, und es gibt sie heutzutage noch immer...

 

Was denken Sie heute über Deutschland?

Ich denke gut über Deutschland, ganz ehrlich. Ich denke Gutes. Ihr habt Leute, die sich ernsthaft darum kümmern. Unser großer Charles de Gaulle, den sie überall bei mir sehen, wurde damals hart kritisiert, als er sich Deutschland wieder annäherte. Ich kritisierte ihn nicht, war aber überrascht, da es schon ziemlich kurz nach dem Krieg geschah. Das brachte mich zum Nachdenken, und ich habe eingesehen, dass unser großer Charles einen wichtigen Grund oder Hintergedanken gehabt haben musste. Und was hat denn euer Kanzler (Adenauer) gemacht? Er war auch im Gefängnis, war gegen die Nazis, zumindest war er kein Nazi. Er war ein guter Mensch. Ich bin dann wieder nach Deutschland gegangen und habe gemerkt, dass wir dort nicht mehr wie Pestkranke betrachtet werden. Außerdem habe ich neue Freunde gewonnen... Völkerverständigung ist etwas Schönes.

 

Was sagen Sie zum heutigen Umgang mit dem KZ in Wilhelmshaven?

In Wilhelmshaven wurde früh mit der Aufarbeitung begonnen, schon 1985 brachte die Gemeinde dort eine Gedenktafel an, und junge Deutsche bereiteten das Gelände des Lagers auf. Sie fanden Teile der Sockel wieder, dort bauten sie ein Denkmal. Das Lager war riesig. Es wurde auch ein großer Stein angelegt, auf dem „Niemals Vergessen“ in mehreren Sprachen steht, und wir, ehemalige französische Deportierte wurden zur Einweihung der Gedenkstätte eingeladen. 1978 waren wir schon dort, damals lagen noch überall verrostete Metallhaufen und Stacheldraht, Unkraut hatte das Gelände übernommen. Die Stadt entschied, dass etwas mit dem Gelände passieren musste. Wilhelmshaven war für mich die Stadt in Deutschland, die am meisten für die Deportierten und deren Empfang getan hat.

 

Und was sagen Sie zu dem Umgang mit Sandbostel?

Sandbostel hat kaum etwas gemacht. Es dauerte lange, bis etwas für das Denkmal der Kriegsgefangenen in Gang kam. Nun tut sich etwas. Das ist sehr gut, weil die Kriegsgefangenen sehr gelitten haben. Was sehr gut gemacht wurde, ist der Friedhof, der wurde einwandfrei gemacht. Auf dem ehemaligen KZ-Lagergelände befindet sich jetzt ein Acker. Wahrscheinlich wächst es dort gut, dank dem Blut der Opfer. Das macht garantiert guten Dünger.
Zeitweise konnte man die Gebäude, die zu dem Bauernhof gehörten, noch sehen. Mittlerweile ist alles hinter hohen Hecken versteckt. Ich weiß nicht, ob es beabsichtigt war, aber Fakt ist, dass man den Standort des Lagers nicht mehr erkennen kann. Ich glaube, dort war die Küche. Es gibt einen Zaun, und Bäume sind am Wegrand gewachsen, so dass man nicht mal mehr den Acker sieht, auf dem sich das Lager befand... Es hätte schon früher etwas unternommen werden müssen. Dieser Ort war das Schrecklichste... Für mich war Sandbostel der schrecklichste Ort, Sandbostel und der alte Schiffsfrachter Glaciamer. Nein, Gedenkarbeit wurde dort nicht gemacht.

 

Die Gelbe Baracke mit dem Museum gibt es seit zwei Jahren...

Seit zwei Jahren?... Da hat sich erst sehr spät etwas getan. Aber es ist nie zu spät, um etwas gut zu machen. Ich finde, es wäre eine gute Initiative, die Sterbeanlage von Sandbostel zu dokumentieren, es ist aber auch schwierig, da es kaum Fotos gibt. Es ist schrecklich... schrecklich und unerklärlich. Ich kämpfe dafür, dass endlich eine Gedenktafel am Standort des Lagers angebracht wird. Vielleicht wird es dieses oder nächstes Jahr endlich klappen... Sonst fährt man vorbei und sieht nichts. Vielleicht werde ich es noch miterleben...(lacht) ...oder auch nicht...(lacht)!

 

Wollen Sie der Generation, die den Krieg nicht miterlebt hat, etwas sagen?

Folgendes sage ich jedes Mal, wenn mir die Gelegenheit gegeben wird, das Wort zu ergreifen. Die jungen Menschen können heute frei leben. Auch die jungen Deutschen, die indirekt unter den Folgen des Krieges gelitten haben. Ich wünsche mir, dass sie sich die Redefreiheit bewahren. Ich hoffe für die Leute, dass sie die reine Freiheit erhalten und sie nicht übermäßig beanspruchen. Denn die Freiheit will verdient sein.
Es ist wichtig, andere zu respektieren und vor allem sich nicht auf diktatorische Kämpfe einzulassen und nicht auf die Politik der Extremisten zu hören. Ich wünsche den jungen Deutschen, dass sie glücklich und erfolgreich sind und im guten Verhältnis zu allen Völkern leben. Hier in Frankreich will ich den jungen Menschen sagen, dass sie die Menschen, die gekämpft haben, nicht vergessen dürfen. Die, die ihr Leben verloren haben, damit heute alle frei leben dürfen. Es war so eine furchtbare Zeit. Bevor Menschen ihre Freiheit missbrauchen und falsche Entscheidungen treffen, sollten sie nachdenken. Auch wenn sie momentan unglücklich sind, dürfen sie sich deshalb nicht von den Extremisten überzeugen lassen.

 

Das Interview mit Raymond Gourlin führte Sarah Mayr am 13. August 2014 in Reims, gedolmetscht wurde es von Emma Juliard.

 

[1] STO („Pflichtarbeitsdienst“): Service du travail obligatoire, Organisation der Vichy Regierung zur Aushebung französischer Facharbeiter für die deutsche Kriegsindustrie, gegründet im Februar 1943.
[2] Als Maquis werden die französischen Partisanen der Résistance bezeichnet.
[3] Aggressives Desinfektionsmittel.

 

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Raymond Gourlin
Es war unvorstellbar... einfach unvorstellbar... undenkbar...

 

Raymond Gourlin. Foto: Sarah Mayr. All rights reserved

Raymond Gourlin. Foto: Sarah Mayr. All rights reserved

 

Ich wurde am 24. Januar 1925 in Chaumont (Frankreich) in bescheidenen Familienverhältnissen geboren. Ich war kein sensationell guter Schüler, eher Durchschnitt. 1936 machte ich meinen Abschluss, 1939 kam die Kriegserklärung. Ich lernte Typograph. Dieses Wissen sollte mir später noch sehr nützlich sein.

Wie kamen Sie zum Widerstand?

Die Okkupation war für mich Einschränkung und Repression. Angefangen hat es damit, dass wir, wenn wir auf dem Gehweg gingen, die Deutschen vorbeilassen und auf die Straße ausweichen mussten. An den Fußgängerüberwegen stand immer ein Deutscher. Wir bekamen eine Strafe, wenn wir die Straße nicht genau am Fußgängerüberweg überquerten. Die französische Polizei, Hilfskraft der Deutschen, verfolgte uns, wenn wir zu zweit nebeneinander auf dem Rad fuhren, wir durften nur hintereinander fahren, niemals nebeneinander. Ab diesem Zeitpunkt bekam ich Probleme mit der französischen Polizei. Wir verstießen gegen deren Regeln. Wir fühlten uns schikaniert, es gab eine Ausgangssperre und Sperrstunden, wegen angeblicher Attentate. Die Ausgangssperre begann normalerweise um 22 Uhr, dann wurde sie aber immer länger.
Es gab kaum Kinos, keine Tanzveranstaltungen, dies waren erhebliche Freiheitsbeschränkungen. In mir regte sich Widerstand, ganz langsam.
Ich war damals Mitglied des Jugendherbergsvereins. Ich liebte es, Zelten zu gehen, Kanu zu fahren und zu schwimmen. In vielen der Jugendherbergen gab es Vervielfältigungsapparate, Roneo-Apparate, Maschinen, um Flugblätter zu drucken. Nur das Papier fehlte. Es gab immer guten Willen, aber kein Papier. Ich als Drucker hatte die Möglichkeit, Papier bei meinem Chef zu stehlen. Und wir druckten Flugblätter. Andere, ältere Jugendliche, verteilten sie. Der Widerstand begann in diesen Jugendherbergen. Wir gewöhnten uns daran, den Gesetzen der Besatzer und der Vichy Regierung etwas entgegenzusetzen, es war ein Widerstand ohne Netzwerk, ohne alles. Damals hießen wir noch nicht einmal Widerstand, wir hatten einfach Spaß dabei.

 

Ausweis von Raymond Gourlin. Foto: privat. All rights reserved.

Ausweis von Raymond Gourlin. Foto: privat. All rights reserved.
 

1943 wurde ich verpflichtet, nach Deutschland zu gehen, im Rahmen des STO[1]. Ich war gerade achtzehn geworden, ich nahm mein Fahrrad und mein Zelt und haute ab. Ich versuchte es mit mehreren Arbeitsstellen, wurde aber immer nach einigen Tagen entlassen. Da fuhr ich zu meinem Bruder und sagte: „Hör mal, ich kann nun nichts mehr tun, ich bin am Ende. Ich weiß nicht mehr wohin.“ Mein Bruder half mir, bei der Polizei von Vichy in Châlons anzufangen. Am 1. September 1943 wurde ich offiziell in den Polizeidienst von Chaumont aufgenommen. Die Krönung war, dass ich für die telefonische Vermittlungsstelle eingeteilt wurde - das bedeutete eigentlich für die Abhörstelle.
Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie, an diesem Morgen um halb elf kam mein Bruder zu mir und sagte: „Heute Abend gehen wir zu den Maquis[2].“  „Ah ja?“ „Ja, es stellt sich ein Maquis zusammen, in der Haute-Marne, 20 km entfernt von Chaumont, wir gehen da hin.“ Also gingen wir zu den Maquis, aber zuvor klaute ich alle Waffen und Munition, die im Revier von Chaumont gelagert waren. Ich nahm alles mit. Wir gingen zu viert, mein Bruder und ich, ein Verbindungsagent und ein anderer Polizist. Ich wusste gar nicht, dass er auch im Widerstand war.
Wir kamen zu diesen Maquis von Lefont in der Haute-Marne. Dort lernten wir, Waffen zu benutzen und mit Sprengstoff und Zeitzündern umzugehen. Wir lebten im Wald. Am 16. Juni 1944 warteten wir auf Trinkwasser, doch stattdessen kamen die Deutschen. Sie umringten mich. Aus Reflex ließ ich meine Pistole an meinem Oberschenkel entlang gleiten und stellte den Fuß darauf, sie sahen sie nicht. Was ich jedoch vergessen hatte, war der amerikanische Kommandodolch an meinem Gürtel, den sahen sie sofort, und ich bekam einen Schlag auf den Kopf und wurde festgenommen. Kurz danach nahmen sie mich mit.
Ich wurde zur Gendarmerie von Chaumont gebracht. Am nächsten Tag wurde ich von der Gestapo abgeholt. Dort wurde ich richtig verhört: Sie wollten wissen, wo ich herkam; ich erklärte ihnen, dass es geregnet hätte und ich Schnecken sammeln gewesen wäre. Sie glaubten mir nicht, und diese Geschichte kostete mich ein paar Zähne und Schläge auf den Kopf. Sie warfen mir eine Regenjacke über und brachten mich zum Auto. Ich landete im Gefängnis von Langres.
Am 27. August mussten alle raus auf den Hof und in einen Viehwaggon steigen.

Wer organisierte den Transport zwischen Frankreich und Deutschland?

Es war die Armee, die Wehrmacht gemeinsam mit der Feldgendarmerie.

Wie wurden Sie behandelt?

Wir sahen niemanden, wir waren immer eingesperrt. Es war nicht so eng. Keine 100 Personen zusammen, wie es bei vielen anderen Transporten war, wir konnten noch sitzen oder liegen. Wir hatten nichts zu essen und nur einmal, in Epinal, etwas zu trinken. Am 1. September 1944 früh morgens kamen wir in Neuengamme an. Dort war es voll mit SS und bellenden scharfen Hunden, Männern mit Schlagstöcken in der Hand und schwarzen Mützen auf. „Wo sind wir? Was tun wir hier?“ Wir wussten zwar, dass Konzentrationslager existierten, dachten aber, wir würden dort nur arbeiten müssen und es würde ein Ende geben und wir würden wie Kriegsgefangene behandelt werden. Aber nein, so war es ganz und gar nicht. Wir sammelten unsere Sachen, zu fünft gingen wir weiter, unter Schlägen. Das Gleis war nicht betoniert, wir stolperten und liefen die eineinhalb Kilometer. Als wir ankamen, schien eine schöne Sonne, die Sonne war so wunderbar, aber es war nicht warm an diesem Morgen.

Wir wurden zusammengepfercht, wir wussten nicht wirklich, wo wir waren. Ich sah Typen draußen, vor den Holzbaracken, alle Baracken waren eingezäunt. Ich sah diese Männer, manche trugen Lumpen, andere ein Hemd, manche trugen diese gestreiften Kleider, andere hatten Kreuze in Farbe auf dem Rücken und auf der Hose. Sie winkten, sie waren mager. Ich dachte, sie hätten Hunger, aber das war es nicht, was sie uns sagen wollten: „Wenn ihr Lebensmittel habt, esst sie jetzt! Sie werden euch alles wegnehmen.“ Ich hatte kein Essen dabei, aber meine Freunde, wir hatten es uns während des Transportes geteilt, am Ende wurde uns alles weggenommen.
Am Nachmittag mussten wir unsere Kleider ausziehen, in eine Tüte packen und unsere Namen angeben. Wir mussten komplett nackt zum Rasieren gehen. Vom Kopf bis zu den Füßen wurden wir rasiert, wie ein Schwein. Wenn ein Schwein getötet wird, wird es genauso rasiert. Danach kam die Dusche, sie wurde heiß, eiskalt, warm, heiß und wieder eiskalt. Es gab keine Seife und kein Handtuch. Es war aber das erste Mal, dass ich mich seit meiner Festnahme waschen konnte. Ich war wirklich dreckig. Danach mussten wir uns mit Cresyl[3] einpinseln, es piekte und brannte höllisch überall dort, wo ich rasiert worden war. Letztendlich gingen wir uns anziehen, ein Hemd, eine kurze Unterhose, zwei kleine Stücke Stoff, die als Socken dienen sollten, wir nannten sie russische Socken, eine gestreifte Hose und eine gestreifte Jacke. Wenn sie passte, Glück gehabt, wenn nicht, schade. Es kam nicht in Frage, die Jacken umtauschen zu wollen. Wenn sie nicht passten, bekam man 25 Knüppelschläge.

Die Kennnummer wurde auf die Jacke genäht, darunter das rote Dreieck und das "F" für die Nationalität, auch auf die Hose. Sie gaben uns eine schöne Kette, eine kleine Zinkplakette mit der Kennnummer darauf, wir sollten sie um den Hals tragen.

 

KZ Häftlingsmarke Raymond Gourlin. Foto: privat. All rights reserved.

KZ Häftlingsmarke Raymond Gourlin. Foto: privat. All rights reserved.

 

Es ist das Einzige, was ich von dort mitnahm. Ich begann zu lachen, nicht laut, aber ich lachte, ich konnte nicht anders, ich fing an zu lachen, und mein Nachbar sagte: „Na, das findest du lustig? Was findest du denn so lustig?“ „Na guck mal, wir sehen alle wie nackte Ankleidepuppen aus!“ Ich musste lachen, uns so zu sehen... Ich war noch ein Kind, später lachte ich nicht mehr.

Danach wurden wir erfasst, wir waren ungefähr 800 Leute. Einer begrüßte uns: „Ihr seid Feinde des großen Reichs, ihr seid hier, um zu arbeiten, und ihr werdet hart arbeiten. Ihr seid durch das Tor reingekommen, ihr werdet durch den Schornstein rausgehen!“, dabei zeigte er auf den Kamin vom Krematorium. Wir bekamen eine Scheibe Brot, mit einem kleinen Stück trockener Wurst. Ich hatte seit der Abfahrt von Langres nichts mehr gegessen und biss in das Brot und dann in die Wurst. Da spürte ich etwas Hartes. Ich dachte, es wäre ein Knochen, aber mit einem Fingernagel? Es war bestimmt ein Daumennagel, so groß wie der war. Ich fragte mich immer, woraus diese Wurst wohl gemacht worden war. Nie bekam ich eine Antwort, bis ich später von einer Frau aus Ravensbrück las, der genau dasselbe passiert war. Sie hatte einen Fingernagel in ihrem Essen gefunden, was beweisen könnte, dass die Deutschen damals sehr mit dem Fleisch gespart haben.

Meine Nummer war die 43948. Ich hörte sie, ging nach vorne und wurde in einen Viehwaggon geschoben. Wir fuhren los, zu dem Arbeitskommando in Wilhelmshaven. Es war ein riesiger Komplex, in dem U-Boote gebaut wurden, vor allem die sehr kurze Version, mit 2 Torpedos. Jeden Morgen um halb fünf läutete eine Glocke. Man musste in den Kleidern schlafen, um zu verhindern, dass sie geklaut wurden. Ich kam in die Blechwarenherstellung.
Nachts hörten wir in der Ferne Bombenangriffe und mussten in die Bunker gehen. Wir wurden von der französischen SS, die gerade erst angekommen war, bewacht, sie war auch kein Stück besser als die deutsche SS, genauso boshaft.
Ab Dezember 1944 wurden wir dann von Wehrmachts- und Kriegsmarinesoldaten bewacht, die schon sehr alt waren.

Im Dezember 1944 stand eines Morgens eine ganze Reihe Gefangener vor Block Eins. Ich habe sie immer noch vor Augen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie noch genau. Es waren Männer, physisch noch gut in Form, in sauberer gestreifter Häftlingskleidung. Unsere war schon ganz dreckig, weil sie nie gewaschen wurde. Diese Männer waren ungarische Juden aus Neuengamme, vielleicht waren es 100 oder 200. Sie wurden an diesem Tag alle in der Feuerlöschwasserreserve ertränkt, abends sah man keinen mehr von ihnen. Selbst die Gemeinde von Wilhelmshaven fand nach dem Krieg nicht heraus, wie viele es waren, da alle SS-Archive verschwunden waren.
In der Fabrik gab es auch Erhängungen. Ein Russe war auf seinem Arbeitstisch eingeschlafen, und seine Bohrmaschine hatte dabei ein Loch in den Tisch gemacht, er wurde dafür wegen Sabotage verhaftet, in Neuengamme zum Tode verurteilt und in der Fabrik, vor den Augen aller, gehängt. Das Zivilpersonal der Fabrik wurde evakuiert, es blieben nur noch die SS und die Gefangenen. Der Russe stand auf einem Hocker, die Hände hinter dem Rücken gebunden und den Hals in der Schlinge. Ein deutscher Gefangener stieß den Hocker um. Ich stand vier oder fünf Reihen entfernt davon, ich habe alles mit angesehen... alles...

Es gab einen Italiener, der die ganze Nacht an seinen umgedrehten Armen aufgehängt wurde, er rief seine Mutter, damit sie kommen und den Strang abschneiden würde, er ist gestorben. Andere Russen und ein Franzose wurden dort auch erhängt.

Wie wurden die Kranken behandelt?

Es gab viele Kranke. Wenn man ins Krankenrevier kam, landete man meistens in der Leichenhalle, nebenan. An einem Sonntagnachmittag gingen wir zur Leichenhalle, die Tür war offen. Es gab unzählige nackte Leichen. Die Nummer der Häftlinge war auf die Brust gepinselt, mit Teer. Ich habe die Leiche des Bürgermeisters von Claireveaux wiedererkannt, mit ihm war ich im Gefängnis gewesen. Da es im Lager kein Krematorium gab, wurden die Toten in einem Sammelgrab auf dem Friedhof von Wilhelmshaven verscharrt. Es gibt heute noch nicht identifizierte Körper auf dem Friedhof von Wilhelmshaven.

Wer waren die Kapos?

Die Kapos waren Deutsche, es gab auch einen Polen. Die Kapos waren Vorabeiter, es waren deutsche gemeinrechtliche oder politische Gefangene. Sie waren die Vertretung der SS innerhalb des Lagers. Es gab die Küchenkapos, Blockführer, die sogenannten Blockältesten, und dann gab es den Stubendienst, der Stellvertreter des Blockältesten. Da war ein junger Franzose mit kaputten Schuhen. Er ging zum Krankenrevier, um zu fragen, ob er nicht von irgendeinem Toten die Schuhe wiederverwenden könnte. Ihm wurde gesagt, er solle am nächsten Tag wiederkommen, weil gerade keine Leichen da waren. Am nächsten Morgen ging er wieder hin und kam deshalb zu spät zum Appell. Als er abends von der Arbeit zurückkam, rief man ihn zum Appellplatz. Sein Kopf und beide Arme wurden in ein leeres Fass gesteckt, seine Beine wurden um das Fass gefesselt. Zwei Kapos gaben ihm dann 100 Schläge, anfangs schrie er noch, irgendwann hörte man ihn nicht mehr. Er war schon lange tot, aber die Kapos schlugen weiter, bis die 100 Schläge voll waren. Der arme Kerl, er hieß Delmas. Es passierte im März 1945. Es gab noch viele weitere Tote.

Am 3. April 1945, nach der Bombardierung des Arsenals, gab es einen ersten Abtransport mit Kranken und ein paar Gesunden, es waren um die 400 Leute. Aus unbekannten Gründen wurde dieser Konvoi von den Engländern in Lüneburg bombardiert. Es gab wenige Überlebende. Am 5. April früh morgens wurden wir zum Appellplatz gerufen. Es wurden Winterhosen verteilt, aber nicht für alle. Wir knoteten unsere Decken um die Schultern. Wir sind dann losmarschiert, 600 Leute entlang der Wegränder nach Bremen-Farge, dort gab es ein Kommando auf dem Bremer Unterwasserstützpunkt Valentin. Vom 8. bis zum 10. April blieben wir dort, danach wurden die Gefangenen getrennt und entweder nach Sandbostel, Neuengamme oder Lübeck gebracht. Wir sind 330 km zu Fuß bis nach Hamburg gelaufen, am 17. April kamen wir an. Auf dem Weg gab es ungefähr 80 Gefangene, die nicht mehr laufen konnten. Sie wurden einfach am Straßenrand erschossen und begraben, auch zwei meiner Freunde.

 

Karte des Todesmarschs von Raymond Gourlin (und Pascal Vallicioni) vom 5.04. bis 30.04 1945. Foto: privat. All rights reserved.

Karte des Todesmarschs von Raymond Gourlin (und Pascal Vallicioni) vom 5.04. bis 30.04 1945.
Foto: privat. All rights reserved.

 

Bekamen Sie unterwegs etwas zu essen?

Es gab etwas zu essen, aber nichts zu trinken, auch keine Suppe. Wir tranken Wasser aus den Pfützen, und abends aßen wir ein wenig Brot. Von Hamburg fuhren wir in Zügen weiter, bis nach Sandbostel, dort kamen wir am 18. April früh morgens an. Dort gab es einen Tümpel voller Toter, ich habe es nicht gesehen, aber Jean Nevel hat es mir erzählt. Woran ich mich allerdings bei meiner Ankunft erinnern kann ist, dass entlang der Mauer, auf der linken Seite, ein Haufen nackter toter Leichen lag. Sie waren aufeinander gestapelt und fixierten uns mit starrem Blick und offenem Mund, als wollten sie uns etwas sagen. Als wir weitergingen, hatten wir das Gefühl, dass dieser Blick uns verfolgen würde.

Es gab Menschen, die stöhnten und Klagelaute von sich gaben, Menschen, die sich am Boden krümmten und zusammenrollten, um zu sterben. Andere versuchten, sich zum Sterben zu verstecken. Man sagt, dass Vögel so etwas tun, Menschen aber auch. Ich habe Menschen gesehen, die im Sand entlang des Blocks gegraben und gegraben und gegraben haben, um dort still sterben zu können...
Auf der anderen Seite waren die französischen Kriegsgefangenen, sie versuchten oft, uns Brot über den Zaun zu werfen, zum großen Missfallen der SS. Die waren gar nicht froh darüber, aber sie trauten sich nicht, auf die Kriegsgefangenen zu schießen. Ein herübergeworfener Brotkanten löste Schlägereien aus, denn sofort sprang eine Menschentraube zu Boden, jeder versuchte dieses Stückchen Brot für sich zu ergattern. Es wurde wild gekämpft, und man verletzte sich. Ich sah Menschen, die offensichtlich menschliche Fleischstücke in verrosteten Dosen kochten. Ja, in Sandbostel gab es Kannibalismus.

Aus der Küchenbaracke kamen Leute mit Brot geschlichen, und als es Nacht war, bin auch ich hineingegangen und habe mir einen Laib Brot genommen. Als ich rauslief, kam die SS und schoss in die Menge. Es gab viele Tote, ich schaffte es gerade noch durch die Tür zu fliehen. Wir mussten nach Bremervörde weiterlaufen, und irgendwann machten wir eine Pause. Sie gaben uns eine halbe Brotkugel und ein Stück Salami, ich hatte ja noch das geklaute Brot. Von dort wurden wir in Viehwaggons weiter nach Stade verfrachtet. Unterwegs beschoss uns die englische Luftwaffe. Die Lok wurde getroffen, der Zug stoppte. In unserem Waggon war ein SS-Mann, der verhindern sollte, dass wir fliehen, denn die Türen waren offen. Bei jeder Schusssalve der Flugzeuge zersprang das Wagendach, und irgendwann erwischte eine Kugel den SS-Mann. Wir nutzten die Gelegenheit sofort und flohen in Richtung eines nahen Tannenwaldes. Obwohl ich in der Dunkelheit nicht viel sehen konnte, hörte ich andauernd die Kugeln dicht hinter mir einschlagen. Meine Beine fühlten sich an, als ob sie platzen würden. Ich hatte Todesangst...
Als ich endlich den Wald erreichte, konnte ich durchatmen. Ich hatte noch das Brot bei mir und verschlang es schnell. Manche konnten entkommen, manche wurden erwischt, es gab viele Tote. Viele Deutsche und auch viele Gefangene starben. Zwei meiner Kameraden starben an den Kugeln.
Man sperrte uns in den Frachtraum eines Kohlefrachtkahns, er hieß Glacamier. Auf dem Kanal fuhren wir bis nach Kiel. Im hinteren Teil des Frachtraums roch es stark nach Verwesung. Ich war mir nicht sicher, ob vor uns auch schon andere Menschen dort drinnen gewesen waren. Wir waren insgesamt ca. 800 Personen, vier Tage ohne Essen und Trinken. Auch unsere Notdurft mussten wir dort verrichten, direkt auf den Körpern der toten Kameraden. Man stieg über die Leichen und versuchte dazwischen einen kleinen Platz zu finden. Es war unvorstellbar..., einfach unvorstellbar..., undenkbar...
Am 30. April kamen wir in Flensburg an. Man steckte uns in Viehwaggons, aber in der Nacht vom 2. zum 3. Mai gab es eine erneute Bombardierung. Ein Großteil der SS war schon geflohen und auch Kapos sahen wir keine mehr. Nur einen Blockführer gab es noch, und mein Freund Henry Paien und ich nutzten die Gelegenheit zu fliehen.

Was machten Sie nach Ihrer Flucht?

Ich habe mich ausgeruht... Es war schwierig, den Tod meines Bruders zu akzeptieren, er starb bei den Maquis. Nach langem Überlegen habe ich mich dafür entschieden wieder bei der Polizei zu arbeiten.

Bekamen Sie für die Zeit als Zwangsarbeiter eine finanzielle Entschädigung aus Deutschland?

Es gab tatsächlich eine Entschädigung für alle Deportierten, von Deutschland initiiert, noch lange vor der deutschen Wiedervereinigung. Deutschland gab dem Nationalen Büro für Kriegsveteranen und Kriegsopfer eine gewisse Summe, da bekamen wir ein bisschen Geld. Später gab es einen anderen Opferausgleich, der von Österreich organisiert wurde - für Leute, die in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten. Man musste einen Antrag stellen. Ich weigerte mich diesen Fragebogen auszufüllen. Ich wurde als Widerstandskämpfer der Résistance verhaftet. Ich sah daher nicht ein, wieso ich als Arbeiter und Angestellter betrachtet und vergütet werden sollte. Ich bin einfach stur, ich wollte dieses Geld nicht annehmen...

Was denken Sie heute über die Zeit in den Konzentrationslagern?

Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas hätte geben können. Man muss wirklich dort gewesen sein, um es glauben zu können. Ich habe es auch schon aufgeschrieben. Die, die nicht dort waren, können nicht verstehen, was in diesen Lagern geschehen ist. Eher habe ich Angst davor, dass es so etwas - und solche Menschen - an einem anderen Ort wieder geben könnte. Ich glaube, dass die heutige Generation sich das nicht mehr gefallen lassen würde. Aber momentan zweifle ich doch ein wenig, wenn ich mir die Lage in der Ukraine und Russland ansehe. Ich befürchte, dass etwas Schlimmes ausgelöst werden kann. Man darf sich nichts vormachen - in Russland hat es solche Menschen vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg gegeben, und es gibt sie heutzutage noch immer...

Was denken Sie heute über Deutschland?

Ich denke gut über Deutschland, ganz ehrlich. Ich denke Gutes. Ihr habt Leute, die sich ernsthaft darum kümmern. Unser großer Charles de Gaulle, den sie überall bei mir sehen, wurde damals hart kritisiert, als er sich Deutschland wieder annäherte. Ich kritisierte ihn nicht, war aber überrascht, da es schon ziemlich kurz nach dem Krieg geschah. Das brachte mich zum Nachdenken, und ich habe eingesehen, dass unser großer Charles einen wichtigen Grund oder Hintergedanken gehabt haben musste. Und was hat denn euer Kanzler (Adenauer) gemacht? Er war auch im Gefängnis, war gegen die Nazis, zumindest war er kein Nazi. Er war ein guter Mensch. Ich bin dann wieder nach Deutschland gegangen und habe gemerkt, dass wir dort nicht mehr wie Pestkranke betrachtet werden. Außerdem habe ich neue Freunde gewonnen... Völkerverständigung ist etwas Schönes.

Was sagen Sie zum heutigen Umgang mit dem KZ in Wilhelmshaven?

In Wilhelmshaven wurde früh mit der Aufarbeitung begonnen, schon 1985 brachte die Gemeinde dort eine Gedenktafel an, und junge Deutsche bereiteten das Gelände des Lagers auf. Sie fanden Teile der Sockel wieder, dort bauten sie ein Denkmal. Das Lager war riesig. Es wurde auch ein großer Stein angelegt, auf dem „Niemals Vergessen“ in mehreren Sprachen steht, und wir, ehemalige französische Deportierte wurden zur Einweihung der Gedenkstätte eingeladen. 1978 waren wir schon dort, damals lagen noch überall verrostete Metallhaufen und Stacheldraht, Unkraut hatte das Gelände übernommen. Die Stadt entschied, dass etwas mit dem Gelände passieren musste. Wilhelmshaven war für mich die Stadt in Deutschland, die am meisten für die Deportierten und deren Empfang getan hat.

Und was sagen Sie zu dem Umgang mit Sandbostel?

Sandbostel hat kaum etwas gemacht. Es dauerte lange, bis etwas für das Denkmal der Kriegsgefangenen in Gang kam. Nun tut sich etwas. Das ist sehr gut, weil die Kriegsgefangenen sehr gelitten haben. Was sehr gut gemacht wurde, ist der Friedhof, der wurde einwandfrei gemacht. Auf dem ehemaligen KZ-Lagergelände befindet sich jetzt ein Acker. Wahrscheinlich wächst es dort gut, dank dem Blut der Opfer. Das macht garantiert guten Dünger.
Zeitweise konnte man die Gebäude, die zu dem Bauernhof gehörten, noch sehen. Mittlerweile ist alles hinter hohen Hecken versteckt. Ich weiß nicht, ob es beabsichtigt war, aber Fakt ist, dass man den Standort des Lagers nicht mehr erkennen kann. Ich glaube, dort war die Küche. Es gibt einen Zaun, und Bäume sind am Wegrand gewachsen, so dass man nicht mal mehr den Acker sieht, auf dem sich das Lager befand... Es hätte schon früher etwas unternommen werden müssen. Dieser Ort war das Schrecklichste... Für mich war Sandbostel der schrecklichste Ort, Sandbostel und der alte Schiffsfrachter Glaciamer. Nein, Gedenkarbeit wurde dort nicht gemacht.

Die Gelbe Baracke mit dem Museum gibt es seit zwei Jahren...

Seit zwei Jahren?... Da hat sich erst sehr spät etwas getan. Aber es ist nie zu spät, um etwas gut zu machen. Ich finde, es wäre eine gute Initiative, die Sterbeanlage von Sandbostel zu dokumentieren, es ist aber auch schwierig, da es kaum Fotos gibt. Es ist schrecklich... schrecklich und unerklärlich. Ich kämpfe dafür, dass endlich eine Gedenktafel am Standort des Lagers angebracht wird. Vielleicht wird es dieses oder nächstes Jahr endlich klappen... Sonst fährt man vorbei und sieht nichts. Vielleicht werde ich es noch miterleben...(lacht) ...oder auch nicht...(lacht)!

Wollen Sie der Generation, die den Krieg nicht miterlebt hat, etwas sagen?

Folgendes sage ich jedes Mal, wenn mir die Gelegenheit gegeben wird, das Wort zu ergreifen. Die jungen Menschen können heute frei leben. Auch die jungen Deutschen, die indirekt unter den Folgen des Krieges gelitten haben. Ich wünsche mir, dass sie sich die Redefreiheit bewahren. Ich hoffe für die Leute, dass sie die reine Freiheit erhalten und sie nicht übermäßig beanspruchen. Denn die Freiheit will verdient sein.
Es ist wichtig, andere zu respektieren und vor allem sich nicht auf diktatorische Kämpfe einzulassen und nicht auf die Politik der Extremisten zu hören. Ich wünsche den jungen Deutschen, dass sie glücklich und erfolgreich sind und im guten Verhältnis zu allen Völkern leben. Hier in Frankreich will ich den jungen Menschen sagen, dass sie die Menschen, die gekämpft haben, nicht vergessen dürfen. Die, die ihr Leben verloren haben, damit heute alle frei leben dürfen. Es war so eine furchtbare Zeit. Bevor Menschen ihre Freiheit missbrauchen und falsche Entscheidungen treffen, sollten sie nachdenken. Auch wenn sie momentan unglücklich sind, dürfen sie sich deshalb nicht von den Extremisten überzeugen lassen.

 

Das Interview mit Raymond Gourlin führte Sarah Mayr am 13. August 2014 in Reims, gedolmetscht wurde es von Emma Juliard.

 

 

 

 

 

[1] STO („Pflichtarbeitsdienst“): Service du travail obligatoire, Organisation der Vichy Regierung zur Aushebung französischer Facharbeiter für die deutsche Kriegsindustrie, gegründet im Februar 1943.
[2] Als Maquis werden die französischen Partisanen der Résistance bezeichnet.
[3] Aggressives Desinfektionsmittel.

 

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Raymond Gourlin

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* 1925 in Frankreich

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