Schwarze Löcher

Im Jahr 1993 oder 1994 zeigte mir mein Vater ein wackeliges Video. Er und seine ehemaligen Arbeitskollegen hatten gemeinsam ein Schwein aufgezogen, und nun sollte jeder seinen Anteil bekommen. Im Video sah man, wie die Sau über den Hof getrieben wird, dann bindet sie jemand am Hinterlauf fest. Das Tier wird „Wessi“ getauft. Die Männer johlen, das Bier fließt. Dann wird Wessi mit einem Bolzenschussgerät niedergestreckt, das Schwein zappelt am Boden, jemand sticht in die Halsschlagader, das Blut strömt in einen bereitgestellten Bottich. Mein Vater wirft sich auf die Sau, um sie zu fixieren. Es ist der 7. Oktober, das Datum des ehemaligen „Tags der Republik“ der DDR. Das Schwein wird mit kochendem Wasser übergossen und abgeschabt. Wessi wird zu Wurst verarbeitet.

Ich habe damals nicht verstanden, was das soll: ein Schwein namens Wessi. Ich hielt meinen Vater und seine ehemaligen Arbeitskollegen für komische Freaks. Ich war gerade politisch erwacht in einer links-ökologischen Jugendgruppe. Wir lebten im Mansfelder Land in Sachsen-Anhalt. Um uns herum wurden die Schächte und die Stahl- und Walzwerke geschlossen, und seinerzeit habe ich das sehr begrüßt. Endlich hörten diese Dreckschleudern auf, die Luft und den Boden zu verpesten. Endlich blieb der Schnee weiß. Und auch die entlassenen Arbeiter nahmen diese „Privatisierungen“ erstaunlicherweise ohne größere Proteste hin. Ich ahnte ja, wie marode die Betriebe zu DDR-Zeiten waren, ich hatte eine Vorstellung von der verdeckten Arbeitslosigkeit zu „Ostzeiten“ – all das, hieß es, würde doch jetzt nur offensichtlich. Die Entlassungswellen der frühen 1990er Jahre wurden – wenigstens von mir – als spätes Erbe der DDR begriffen.

Zehn Jahre später, mittlerweile hatte ich ein halbes Germanistik- und ein ganzes Fotografiestudium hinter mir, unternahm ich mit meinem Kollegen Falk Haberkorn das erste Mal eine Recherchefahrt durch den deutschen Osten. Wir besuchten die Orte unserer Kindheit, fuhren fünf Wochen kreuz und quer übers Land. Ich fotografierte Felder, kurz nachdem die Ernte eingefahren war. Jeden Tag kaufte ich mir zum Zeitvertreib die jeweilige Lokalzeitung, und irgendwann fielen sie mir auf, diese kurzen und bisweilen auch kuriosen Meldungen aus tiefster ostdeutscher Provinz: Da wurde berichtet von Ausrastern, Feuerteufeln, Reichsbürgern und Waldgängern. Freaks. Schon wieder. Aber am Ende der Reise hatte ich ein Dutzend dieser Meldungen in meiner Mappe. Was war da los?

Anfang der 90er Jahre glaubte wahrscheinlich noch die Mehrheit der Ostdeutschen, ihre Wirtschaft müsse sich in einer Art Rosskur gesundschrumpfen. Über all dem stand ja Helmut Kohls Credo von 1990: „Wir schaffen blühende Landschaften in den nächsten drei oder vier Jahren.“ Das war sehr bequem: Der große starke Bruder wird’s schon richten. Aber der Haken war, dass es für viele Betriebe keine blühende Zukunft geben konnte – denn die lag längst in China. Diese VEBs wurden abgewickelt, oft abgerissen, und dann entstanden die berühmten „beleuchteten Wiesen“ – jene Gewerbeparks, wo es infrastrukturell erst einmal alles gab: neuangelegte Straßen, Strom- und Wasseranschlüsse, Laternen. Allein: Industrie siedelte sich in vielen Orten nicht an. Manchmal kamen dann aber gnädigerweise „Lidl“ oder das „Dänische Bettenlager“. Wer jung, klug und ungebunden war, ging weg. Meine links-ökologische Jugendgruppe gibt´s längst nicht mehr: Irgendwann kam keine kritische Masse mehr zustande.

Ortswechsel. Am 9. November 2018 war ich in Chemnitz. Unweit des „Nischels“, der großen Büste Karl Marx´, versammelte sich an diesem Abend, dem 80. Jahrestag der Pogromnacht, das rechte Bündnis Pro Chemnitz und etwa zweihundert Meter entfernt eine Gegendemonstration der Chemnitzer Bürgerschaft und verschiedener Parteien und Verbände. Da stand ich eine Weile und hörte den Reden zu. Dann ging ich durch eine Art Polizeischleuse rüber zu den Rechten. Ja, da gab es einen Block von „klassischen“ Faschos: Kurzhaarfrisur, szenetypische Klamotten, Gegröle. Und auch die Akteur*innen von Pro Chemnitz würde ich als rechtsradikal bezeichnen. Aber am meisten beunruhigte mich die hier versammelte Mehrheit: Da standen nämlich die Wiedergänger meines Vaters und seiner ehemaligen Arbeitskollegen, jene Männer, die damals das Schwein Wessi hinrichteten. Sie sind heute 25 Jahre älter und bitterer geworden, und sie haben diesmal auch ihre Frauen, Kinder und Enkel mitgebracht. Hier und da sah ich verdruckste Gesichter, vielleicht weil es ihnen noch ein wenig peinlich war, jetzt bei den Rechten zu sein. Es war arschkalt. Ein Lied wurde angestimmt, noch mit ein paar Textunsicherheiten: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten...?“ Martin Kohlmann, der Chef von Pro Chemnitz rief in die Menge: „Haben wir nicht mehr gemein mit Polen, Ungarn und Tschechen, als mit diesen Wessis?“ Mein Vater und seine Kumpels applaudierten. Ja, diese Wärme plötzlich.

Ich bin nach diesem Erlebnis erneut mit dem Kollegen Haberkorn durch den deutschen Osten gefahren, wieder ohne feste Route, jedoch immer durch ehemalige Industrieorte der DDR, durch Halle, Zeitz und Weißenfels, durch Plauen und Chemnitz, durchs Erzgebirge und die Lausitz. Wir schliefen tagsüber und fuhren nachts, weil wir die Ruhe der Straße brauchten und weil uns fotografisch ein bestimmtes Misch-, und Restlicht interessierte. Wir haben viel gesprochen auf dieser Nachtfahrt, über uns, die Elterngeneration, die 90er. Wir sind zu den abgewickelten VEBs gefahren. In diesen Nächten wurde ich immer trauriger. Nicht nur, weil in der ostdeutschen Provinz bedeutende Industriedenkmäler verfallen, nein, mich erschütterte die noch immer vorhandene Menge: Ostdeutschland ist voller Ruinen und Brachen, und sie sind sichtbare Zeichen eines großen Verlusts. Denn diese schwarzen Löcher waren ja einst nicht nur Betriebe und Kombinate, die simpel einen „Job“ boten, sie waren soziale Orte. Sie waren Klubhäuser, wo gefeiert und gesoffen wurde. Sie waren Kindergärten und Ferienheime, Sportplätze und Bibliotheken. Hier in diesen schwarzen Löchern waren auch mal die Klubs der schreibenden Arbeiter. Niemand kann sich das heute noch vorstellen.

Mein Vater und seine ehemaligen Arbeitskollegen haben längst anderswo Arbeit gefunden, es geht ihnen finanziell nicht so schlecht. Aber irgendwie – ich kann es nicht anders ausdrücken – fühlen sie sich einsam, und da hilft kein schickes Auto und auch keine Glotze. Sie sind sauer, weil damals eben auch ihr soziales Leben von „diesen Wessis“ mitabgewickelt wurde. Sie sind gekränkt, weil sie als DDR-Bürger deklassiert wurden, und als sie sich zaghaft dagegen zu wehren versuchten, da waren sie die „Jammerossis“.  Sie sind sauer, weil pauschal alles aus dem Osten als schlecht galt, und als sie dies mal infrage stellten, da waren sie die „Ewiggestrigen“. Aber wahrscheinlich sind sie am meisten sauer auf sich selbst: Denn sie waren es, die damals, als Helmut Kohl kam, ohne jedes Innehalten laut „Ja!“ gebrüllt haben.

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Im Jahr 1993 oder 1994 zeigte mir mein Vater ein wackeliges Video. Er und seine ehemaligen Arbeitskollegen hatten gemeinsam ein Schwein aufgezogen, und nun sollte jeder seinen Anteil bekommen. Im Video sah man, wie die Sau über den Hof getrieben wird, dann bindet sie jemand am Hinterlauf fest. Das Tier wird „Wessi“ getauft. Die Männer johlen, das Bier fließt. Dann wird Wessi mit einem Bolzenschussgerät niedergestreckt, das Schwein zappelt am Boden, jemand sticht in die Halsschlagader, das Blut strömt in einen bereitgestellten Bottich. Mein Vater wirft sich auf die Sau, um sie zu fixieren. Es ist der 7. Oktober, das Datum des ehemaligen „Tags der Republik“ der DDR. Das Schwein wird mit kochendem Wasser übergossen und abgeschabt. Wessi wird zu Wurst verarbeitet.

Ich habe damals nicht verstanden, was das soll: ein Schwein namens Wessi. Ich hielt meinen Vater und seine ehemaligen Arbeitskollegen für komische Freaks. Ich war gerade politisch erwacht in einer links-ökologischen Jugendgruppe. Wir lebten im Mansfelder Land in Sachsen-Anhalt. Um uns herum wurden die Schächte und die Stahl- und Walzwerke geschlossen, und seinerzeit habe ich das sehr begrüßt. Endlich hörten diese Dreckschleudern auf, die Luft und den Boden zu verpesten. Endlich blieb der Schnee weiß. Und auch die entlassenen Arbeiter nahmen diese „Privatisierungen“ erstaunlicherweise ohne größere Proteste hin. Ich ahnte ja, wie marode die Betriebe zu DDR-Zeiten waren, ich hatte eine Vorstellung von der verdeckten Arbeitslosigkeit zu „Ostzeiten“ – all das, hieß es, würde doch jetzt nur offensichtlich. Die Entlassungswellen der frühen 1990er Jahre wurden – wenigstens von mir – als spätes Erbe der DDR begriffen.

Zehn Jahre später, mittlerweile hatte ich ein halbes Germanistik- und ein ganzes Fotografiestudium hinter mir, unternahm ich mit meinem Kollegen Falk Haberkorn das erste Mal eine Recherchefahrt durch den deutschen Osten. Wir besuchten die Orte unserer Kindheit, fuhren fünf Wochen kreuz und quer übers Land. Ich fotografierte Felder, kurz nachdem die Ernte eingefahren war. Jeden Tag kaufte ich mir zum Zeitvertreib die jeweilige Lokalzeitung, und irgendwann fielen sie mir auf, diese kurzen und bisweilen auch kuriosen Meldungen aus tiefster ostdeutscher Provinz: Da wurde berichtet von Ausrastern, Feuerteufeln, Reichsbürgern und Waldgängern. Freaks. Schon wieder. Aber am Ende der Reise hatte ich ein Dutzend dieser Meldungen in meiner Mappe. Was war da los?

Anfang der 90er Jahre glaubte wahrscheinlich noch die Mehrheit der Ostdeutschen, ihre Wirtschaft müsse sich in einer Art Rosskur gesundschrumpfen. Über all dem stand ja Helmut Kohls Credo von 1990: „Wir schaffen blühende Landschaften in den nächsten drei oder vier Jahren.“ Das war sehr bequem: Der große starke Bruder wird’s schon richten. Aber der Haken war, dass es für viele Betriebe keine blühende Zukunft geben konnte – denn die lag längst in China. Diese VEBs wurden abgewickelt, oft abgerissen, und dann entstanden die berühmten „beleuchteten Wiesen“ – jene Gewerbeparks, wo es infrastrukturell erst einmal alles gab: neuangelegte Straßen, Strom- und Wasseranschlüsse, Laternen. Allein: Industrie siedelte sich in vielen Orten nicht an. Manchmal kamen dann aber gnädigerweise „Lidl“ oder das „Dänische Bettenlager“. Wer jung, klug und ungebunden war, ging weg. Meine links-ökologische Jugendgruppe gibt´s längst nicht mehr: Irgendwann kam keine kritische Masse mehr zustande.

Ortswechsel. Am 9. November 2018 war ich in Chemnitz. Unweit des „Nischels“, der großen Büste Karl Marx´, versammelte sich an diesem Abend, dem 80. Jahrestag der Pogromnacht, das rechte Bündnis Pro Chemnitz und etwa zweihundert Meter entfernt eine Gegendemonstration der Chemnitzer Bürgerschaft und verschiedener Parteien und Verbände. Da stand ich eine Weile und hörte den Reden zu. Dann ging ich durch eine Art Polizeischleuse rüber zu den Rechten. Ja, da gab es einen Block von „klassischen“ Faschos: Kurzhaarfrisur, szenetypische Klamotten, Gegröle. Und auch die Akteur*innen von Pro Chemnitz würde ich als rechtsradikal bezeichnen. Aber am meisten beunruhigte mich die hier versammelte Mehrheit: Da standen nämlich die Wiedergänger meines Vaters und seiner ehemaligen Arbeitskollegen, jene Männer, die damals das Schwein Wessi hinrichteten. Sie sind heute 25 Jahre älter und bitterer geworden, und sie haben diesmal auch ihre Frauen, Kinder und Enkel mitgebracht. Hier und da sah ich verdruckste Gesichter, vielleicht weil es ihnen noch ein wenig peinlich war, jetzt bei den Rechten zu sein. Es war arschkalt. Ein Lied wurde angestimmt, noch mit ein paar Textunsicherheiten: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten...?“ Martin Kohlmann, der Chef von Pro Chemnitz rief in die Menge: „Haben wir nicht mehr gemein mit Polen, Ungarn und Tschechen, als mit diesen Wessis?“ Mein Vater und seine Kumpels applaudierten. Ja, diese Wärme plötzlich.

Ich bin nach diesem Erlebnis erneut mit dem Kollegen Haberkorn durch den deutschen Osten gefahren, wieder ohne feste Route, jedoch immer durch ehemalige Industrieorte der DDR, durch Halle, Zeitz und Weißenfels, durch Plauen und Chemnitz, durchs Erzgebirge und die Lausitz. Wir schliefen tagsüber und fuhren nachts, weil wir die Ruhe der Straße brauchten und weil uns fotografisch ein bestimmtes Misch-, und Restlicht interessierte. Wir haben viel gesprochen auf dieser Nachtfahrt, über uns, die Elterngeneration, die 90er. Wir sind zu den abgewickelten VEBs gefahren. In diesen Nächten wurde ich immer trauriger. Nicht nur, weil in der ostdeutschen Provinz bedeutende Industriedenkmäler verfallen, nein, mich erschütterte die noch immer vorhandene Menge: Ostdeutschland ist voller Ruinen und Brachen, und sie sind sichtbare Zeichen eines großen Verlusts. Denn diese schwarzen Löcher waren ja einst nicht nur Betriebe und Kombinate, die simpel einen „Job“ boten, sie waren soziale Orte. Sie waren Klubhäuser, wo gefeiert und gesoffen wurde. Sie waren Kindergärten und Ferienheime, Sportplätze und Bibliotheken. Hier in diesen schwarzen Löchern waren auch mal die Klubs der schreibenden Arbeiter. Niemand kann sich das heute noch vorstellen.

Mein Vater und seine ehemaligen Arbeitskollegen haben längst anderswo Arbeit gefunden, es geht ihnen finanziell nicht so schlecht. Aber irgendwie – ich kann es nicht anders ausdrücken – fühlen sie sich einsam, und da hilft kein schickes Auto und auch keine Glotze. Sie sind sauer, weil damals eben auch ihr soziales Leben von „diesen Wessis“ mitabgewickelt wurde. Sie sind gekränkt, weil sie als DDR-Bürger deklassiert wurden, und als sie sich zaghaft dagegen zu wehren versuchten, da waren sie die „Jammerossis“.  Sie sind sauer, weil pauschal alles aus dem Osten als schlecht galt, und als sie dies mal infrage stellten, da waren sie die „Ewiggestrigen“. Aber wahrscheinlich sind sie am meisten sauer auf sich selbst: Denn sie waren es, die damals, als Helmut Kohl kam, ohne jedes Innehalten laut „Ja!“ gebrüllt haben.

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