Sebastian Conrad Teil 4): Eine Geschichte im Singular ?

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Sebastian Conrad bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil IV

Gibt es angesichts der Pluralisierung der Geschichtswissenschaften (noch) eine Geschichte im Singular und (wie) kann man sie darstellen?
Diskussion am 4. Juli 2022 (online)

Eingangsstatement von Sebastian Conrad (Freie Universität Berlin)

 

 

I.

Maren Möhring hat mehr oder weniger alles schon gesagt, ich kann dem im Ganzen sehr gut zustimmen. Vor dem Hintergrund der geforderten Unterschiedlichkeit der Perspektiven werde ich jetzt dezidiert aus der Perspektive einer Historiographie der Globalgeschichte sprechen. Ich mache das in drei Teilen:

• die frühe Euphorie um die Globalgeschichte
• die Reflexion auf die Perspektivität globalgeschichtlicher Deutungen
• Diskussion der global wirksamen strukturierenden Kräfte.

Das Versprechen der Welt- und der Globalgeschichte besteht für viele Leser:innen vermutlich darin, durch den weiten Blick die verlorengegangene Einheit der Geschichte, die unter den vielen Partikulargeschichten lange leiden musste, endlich wieder zurückzubringen. Man kauft also das Buch von Jürgen Osterhammel, dann schleppt man es nach Hause – was schon schwieriger ist – und dann steht da eigentlich alles drin.[1] Damit ist das Einheitsversprechen sozusagen erfüllt.

Das haben auch viele Historiker:innen so gesehen. Man kann sich eine ganze Reihe von Texten aus den letzten Jahren anschauen – ich erinnere an das History Manifesto von David Armitage und Jo Guldi[2] – , die im Grunde sagen: „(…) die 80er Jahre haben die großen Narrative, den Blick auf das große Ganze kaputt gemacht (…)“. In dieser Lesart kamen danach Gendergeschichte, Alltagsgeschichte, Micro history, also partikulare Perspektiven, der Fokus auf das Kleine … in der Sicht von Armitage und Guldi müssen wir darüber wieder hinauskommen. Sie sagen: Wir brauchen eine globale Perspektive, eine Langzeitperspektive, erst dann ist die Relevanz der Geschichtsschreibung (und ihre Einheit) wiederhergestellt.

Ein zweites Beispiel: In einem Handbuch zur Weltgeschichte schreiben Felipe Fernández-Armesto und Benjamin Sacks ganz ähnlich: „Global history is the history of what happens worldwide across the planet as a whole, as if viewed from a cosmic crow’s nest, with the advantages of immense distance and panoptic range.“[3] Die Distanz ermöglicht uns sozusagen, den geschichtlichen Zusammenhang wieder als Einheit zu verstehen – und daneben auch, Objektivität zu erreichen.

Ein drittes Beispiel: Das Big History Project, finanziert von Bill Gates, angeregt von David Christian, mit dem Ziel „(…) to go beyond specialized fields and grasp history as a whole (…)“.[4]

Dieses Versprechen schwingt im Grunde schon lange bei Welt- und Globalgeschichte mit: Sie geht über einzelne Nationalgeschichten, aber auch über partikulare Perspektiven hinaus und restituiert Geschichte als Einheit.

 


II.

Mein eigenes Verständnis von Globalgeschichte betont – im Gegensatz zu den oben skizzierten Autoren – sehr stark Perspektivität und Positionalität. Zwei Aspekte sind hier zu beachten, die jeweils das Versprechen der „Einheit der Geschichte“ in Frage stellen. Erstens: Globalgeschichte ist ein heuristisches Instrument. Sie ist nicht in erster Linie ein Instrument, das einen bestimmten Gegenstand hat, sondern es ist eher eine Perspektive, eine Linse, mit der wir Dinge anders in den Blick nehmen können - parallel also zu dem was Maren eben zu geschlechtergeschichtlichen Perspektiven (verlinken) gesagt hat. Die Geschichte der Industrialisierung beispielsweise kann man natürlich wirtschaftsgeschichtlich erforschen, geschlechtergeschichtlich, aber eben auch globalgeschichtlich – mit ganz anderen Fragen und auch ganz anderen Antworten.[5]

 

Das heißt auch, dass Globalgeschichte nicht automatisch eine planetarische Geschichte sein muss. Vielmehr geht es darum, einen bestimmten Sachverhalt, einen bestimmten Gegenstand globalgeschichtlich zu „perspektivieren“, um Marens Begriff nochmal aufzunehmen. Und das heißt dann auch, dass das Versprechen der Globalgeschichte nicht so sehr darin liegt, dass wir am Schluss nur noch eine Variante haben, nur noch eine Lesart – sondern eher, dass der Chor der Stimmen vielfältiger wird.

Das ist im Grunde auch in der Nationalgeschichte nicht anders. Es ist in der Globalgeschichte nur offenkundiger. Die Hungersnot in Bengalen sieht somit entsprechend anders aus, wenn ein Tagelöhner aus Kalkutta darauf blickt, als wenn Churchill in seinem Tagebuch darüber schreibt. Diese unterschiedlichen Perspektiven sind so offenkundig, dass Phänomene, die in der Nationalgeschichte manchmal noch unter den Teppich gekehrt werden können, in der Globalgeschichte unübersehbar werden.

Die unterschiedliche Positionalität von Historiker:innen bringt also einen Chor von Stimmen hervor. Das „Objektivitätsideal“ der Globalgeschichte besteht meiner Ansicht nach eher darin, dass viele unterschiedliche, divergierende und unter Umständen auch in Konflikt stehende Perspektiven nebeneinanderstehen oder man diese Perspektiven in Beziehung zueinander setzt.

Zu diesen Perspektiven gehört natürlich auch die postkoloniale Kritik. Das ist der zweite Punkt, der hier zu nennen ist: Die ganz grundsätzliche Kritik am Kollektivsingular Geschichte, wie wir sie bei Dipesh Chakrabarty[6] lesen, oder bei Prasenjit Duara in seinem Buch Rescuing History from the Nation[7]. In diesen Werken wird nahegelegt, dass das, was wir als Geschichte verstehen, von vornherein ein Oktroi ist, eine bestimmte Lesart – die zunächst an einer partikularen Geschichte (Europas, des Westens) entwickelt, dann aber generalisiert und schließlich auf den Rest der Menschheit übertragen wird. Geschichte als universitäre Disziplin ist mithin immer an Machtverhältnisse gebunden – und auch das, was als Geschichte, erst recht als „Einheit der Geschichte“ erscheint, setzt auf diesen Machtverhältnissen auf.

Wenn man diese Aspekte zusammennimmt: Perspektivität und Positionalität einerseits und die grundsätzliche Kritik an Geschichte als Herrschaftsinstrument bzw. als Teil der imperialen Herrschaft andererseits: Dann wird man die Vorstellung von Einheit der Geschichte schwerlich einfach so aufrechterhalten können.

 


III.

In der populären Wahrnehmung stehen also Welt- und Globalgeschichte für die Hoffnung, die „Einheit der Geschichte“ wiederzugewinnen; wie wir gesehen haben, sprechen aber sowohl die Positionalität globalgeschichtlicher Perspektiven und die postkoloniale Kritik an „Geschichte“ als einer partikularen Wissensform dagegen.

In einem dritten Teil meines Statements will ich jedoch noch einmal einen anderen Gesichtspunkt ins Spiel bringen und sagen, dass, wenn wir über Globalgeschichte sprechen, wir das natürlich nicht tun können, ohne darüber nachzudenken, ob es nicht eben doch global wirksame Strukturen gibt, an denen wir nicht vorbeikommen – und zwar auch dann, wenn wir an der Multi-Perspektivität der Geschichte, am vielstimmigen Chor der Interpretationen festhalten.

Die meisten Globalhistoriker:innen halten in irgendeiner Form am Konzept der „Globalität“ fest, und zwar auf jeweils unterschiedlichen Ebenen:

Eine Strategie besteht in dem Beharren auf einer normativen Vorstellung von Globalität. Denn wofür schreiben wir Geschichte, so heißt es dann, wenn nicht mit dem Ziel, eine Art von global citizenship herzustellen? Dieser Ansatz fußt auf einer kosmopolitischen Tradition seit dem 18. Jahrhundert. Mein japanischer Kollege Haneda Masashi gehört zu denen, die diesen Punkt regelmäßig in den Vordergrund stellen.[8]

Eine zweite Variante besteht darin, die einheitstiftende Kraft der Arbeit von Historiker:innen zu betonen. Mit anderen Worten: Selbst dann, wenn wir das vergangene Geschehen als divers, heterogen oder gegenläufig beschreiben wollen, tun wir das mit Begriffen, die eine Art von Einheit herstellen. Selbst wenn man anerkennt, dass die Geschichten zu pluralisieren sind, dass alle möglichen unterschiedlichen Stimmen, aus den verschiedensten geographischen aber auch sozialen, Gender-, Religionsperspektiven heraus formuliert werden, wird eine Form der „Einheit der Geschichte“ auf der terminologischen Ebene wieder reproduziert.

Ein Beispiel ist das Buch von Pekka Hämäläinen, The Comanche Empire[9]. Die Comanche, die man aus der Karl May-Lektüre in Erinnerung hat und von denen vermutet wird, dass sie im Grunde dem Untergang geweiht waren, beschreibt Hämäläinen als das mächtigste Imperium in den prairies Nordamerikas bis in die 1840er-Jahre hinein. Hämäläinen zeigt, dass die Dominanz der Comanche viele Elemente eines „empire“ annahmen. Und er will auch normativ zeigen, dass es sich um ein „empire“ handelte, dass wir gleichberechtigt und auf Augenhöhe behandeln müssen – sowohl mit dem Spanischen Empire, das damals noch Mexiko beherrschte, als auch mit dem britisch-amerikanischen Drang nach Westen. Diese Absicht führt dazu, dass er die Comanche mit einer ganzen Reihe von Begriffen bezeichnet, die definitiv keine emischen Begriffe sind, also nicht von den Comanche selbst verwendet worden wären. So spricht er zum Beispiel an einer Stelle von der Comanche-„Außenpolitik“, nennt die Comanche eine „Supermacht“, spricht von den Gefangenen als „Sklaven“ und von ihren Winter-Camps als „Städten“ (bei denen doch fraglich ist, ob sie in der herkömmlichen Urban History einen Platz finden würden).

Um die Kompatibilität, ja die Konversation zwischen dieser und anderen imperialen Erfahrungen herzustellen, sieht sich der Autor geradezu gezwungen, generalisierende Begriffe zu verwenden. Auch wenn es viele Unterschiede zwischen den Imperien der Comanche und der Spanier gibt, beharrt er bewusst und explizit auf der gemeinsamen Terminologie, um auf Augenhöhe über die Comanche zu schreiben.

In vielen anderen Fällen geschieht diese Operation vollkommen unbewusst und implizit. Ohne dass das eigens reflektiert wird, ist in historischen Darstellungen von "Staaten" die Rede, von "Religion", von gesellschaftlichen Transformationen, die man als "Revolution" bezeichnen kann und so weiter. Diese Begriffe ebnen gewissermaßen terminologisch die Heterogenität der historischen Erfahrung ein, machen unterschiedliche Ereignisse oder Entwicklungen miteinander kompatibel und vergleichbar. Man kann sagen, dass diese Begriffe die Einheit der Geschichte auf eine eurozentrische Art und Weise herstellen – und zwar auch dann, wenn wir eigentlich die Vielfalt hervorheben wollen. Darin besteht ein gewisses Paradox.

Die dritte Ebene – das ist im Grunde schon mein letzter Punkt – wäre dann die ontologische Ebene.
Wir können Geschichte über größere Zusammenhänge hinweg (ich würde im Grunde argumentieren, auch ganz kleine Zusammenhänge) eigentlich nicht mehr schreiben, ohne strukturelle, großflächig wirksame Zusammenhänge – in Klammern: potentiell global wirksame Zusammenhänge und Einschnitte – mitzudenken. Denken wir etwa an die Arbeiten von Immanuel Wallerstein und seine Einsichten in die funktionalen Zusammenhänge, die über die kapitalistische Produktionsweise und den Handel hergestellt werden. Diese führen dazu, dass Unterschiede zwischen Weltregionen nicht einfach auf partikularen Traditionen aufsetzen, sondern durch die Asymmetrien der Weltordnung selbst hergestellt werden.

Ein Buch, das diese Einsicht aus den 1970er Jahren in unsere Gegenwart transportiert, ist Liberalism im Empire[10] von Andrew Sartori. In diesem Buch argumentiert Sartori, dass ein bestimmter Begriff von Liberalismus, nämlich der von John Locke, auch in Südasien und in Indien, eine Rolle spielte. Und zwar nicht (nur) deshalb, weil man dort Locke rezipierte, sondern auch deshalb, weil die kapitalistische Transformation der Weltwirtschaft, der Produktionsverhältnisse und der sozialen Beziehungen auch in Indien dazu geführt habe, dass Ideen wie die von Locke auch in Südindien auf Resonanz stießen. Nicht unbedingt deshalb, wie gesagt, weil lokale Bauern und Grundbesitzer die Texte von Locke gelesen hätten (das war sicher äußerst selten der Fall), sondern vor allem deshalb, weil die veränderten sozialen Bedingungen vergleichbare Haltungen zu Fragen des Eigentums hervorbrachten. Die Logik ist also die, dass die strukturellen Kräfte so stark sind, dass sie vergleichbare – in Maren Möhrings Sprache: in Relation stehende – Veränderungen hervorbringen, die keineswegs identisch sind und die auch von unterschiedlichen Gruppen unterschiedlich wahrgenommen werden, aber doch in Beziehung zueinanderstehen. Es geht mithin um Veränderungen, die ohne den Rekurs auf strukturelle Zusammenhänge nicht mehr erklärt werden können.

Wenn Globalhistoriker:innen über solche strukturierenden Kräfte nachdenken, dann ist der Kapitalismus sicherlich nur eine davon. Man kann sich eine ganze Reihe anderer vorstellen. Das Anthropozän wäre sicherlich eine solche strukturierende Kraft. Die technologischen Revolutionen, die industrielle Revolution und die IT-Revolution wären sicherlich strukturelle und strukturierende Kräfte, die dazu führen, dass wir, selbst wenn wir die Perspektivität, die Positionalität und auch die Pluralisierung von Geschichte ernst nehmen, nicht an diesem Zusammenhang vorbeigehen können.

Damit möchte ich hier auch schließen. Mein Statement war in Form eines Dreischritts aufgebaut: In der Frühphase des global turns konnte man beobachten, wie globalgeschichtliche Zugänge mit der Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Einheit der Geschichte verbunden waren. Diese naive Hoffnung ist längst einer nuancierten Reflexion über Positionalität und die unterschiedlichen Perspektiven gewichen, die für die Globalgeschichte charakteristisch sind. Aber an der Stelle sollte man auch nicht stehenbleiben. Auch dann, wenn Globalgeschichte keine Makrogeschichte ist – etwa in der globalen Mikrogeschichte oder bei der Rekonstruktion der Stimmen marginalisierter historischer Akteur:innen – bleibt sie an übergreifende Strukturen rückgekoppelt. Auf diese Weise werden ganz konkrete, lokale und spezifische Perspektiven in den Vordergrund gerückt, zugleich aber mit Verweis auf übergeordnete Strukturen situiert. Erst auf diese Weise können Fragen der Interdependenz, der Herstellung von Differenz, aber auch Fragen der Relevanz angemessen diskutiert werden.

 

 

[1] Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. (1568 Seiten).
[2] Jo Guldi und David Armitage, The History Manifesto. Cambridge University Press. Cambridge 2014.
[3] Felipe Fernández-Armesto und Benjamin Sacks, "Networks, Interactions, and Connective History", in: Douglas Northrop (ed.), A Companion to World History, Oxford (Wiley-Blackwell) 2012, 303-320, Zitat: 303.
[4] Big History Project.
[5] Ausführlich dazu: Sebastian Conrad, What is Global History?, Princeton (Princeton University Press) 2016.
[6] Dipesh Chakrabarty, "Europa provinzialisieren: Postkolonialität und die Kritik der Geschichte", in: ders.: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Campus 2010.
[7] Prasenjit Duara, Rescuing History from the Nation. Chicago University Press, Chicago 1995.
[8] Haneda Masashi, Atarashii sekaishi e: Chikyū shimin no tame no kōsō, Tokyo (Iwanami Shinsho) 2011.
[9] Pekka Hämäläinen, The Comanche empire. Yale University Press, New Haven und London 2008.
[10] Andrew S. Sartori, Liberalism in Empire. An Alternative History. University of California Press, 2014.

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