Auch 70 Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) entfaltet kaum ein gesellschaftspolitisches Konzept eine solche Strahlkraft wie das der Menschenrechte. Täglich berufen sich weltweit Menschen auf jene fundamentalen Rechte, um politischen Forderungen Geltung zu verschaffen. Mit Verweis auf politische, soziale oder kulturelle Menschenrechte wird hierbei ein zuweilen schier unüberschaubares Spektrum an Sachverhalten verhandelt, und dennoch werden all diese Debatten durch eine grundsätzliche Prämisse geeint: den Glauben an eine gesellschaftliche Ordnung, in der jeder einzelne Mensch unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht oder seiner Überzeugungen Träger unveräußerlicher Rechte ist. Ein solches Verständnis von Menschenrechten beruht auf der eingeforderten Anerkennung einer unbedingt schützenswerten Menschenwürde, dem inneren und sozialen Wert- und Achtungsanspruch eines jeden Individuums.[1] Wer also auf Menschenrechte rekurriert, bezieht sich stets auch auf Fragen, die das Menschsein selbst betreffen. Hieraus speist sich ein umfassender Geltungsanspruch, durch den sich Menschenrechte signifikant von Bürgerrechten unterscheiden, und der ihr moralisches, politisches und nicht zuletzt diskursives Gewicht begründet. Denn während letztere durch die erforderte Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in ihrer Geltung beschränkt werden, erheben erstere darüber hinaus einen vor- und überstaatlichen Anspruch. Diese in ihrem Kern egalitäre Idee von Menschenrechten hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte so tief in den globalen Diskurs eingeschrieben, dass selbst im Rahmen erbittertster politischer Auseinandersetzungen eine grundsätzliche Zurückweisung der Menschenrechte selbst nahezu unmöglich zu vertreten wäre. Es ist also nicht übertrieben, Menschenrechte als die Doxa unserer Gegenwart zu begreifen.[2]
Menschenrechte: Der Aufstieg eines Leitwerts
Die im Konzept der Menschenrechte angelegte utopische Vorstellung einer Welt, in der elementare Bedürfnisse des Menschen geschützt werden, entfaltete seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine immense Wirkung. Die fortschreitende Positivierung der Menschenrechte führte nicht nur zur Ratifizierung von zahlreichen Abkommen auf globaler Ebene, sondern auch zur Etablierung unterschiedlicher regionaler Menschenrechtssysteme und der Verankerung von Menschenrechten in nationalen Verfassungen. Ein Meilenstein dieser Entwicklungen war fraglos die Verabschiedung der AEMR durch die Generalversammlung der nur drei Jahre zuvor gegründeten Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948. Nach zähem Ringen, in dem sich bereits die Konfliktlinien des einsetzenden Kalten Krieges abzeichneten, gelang es der noch jungen Organisation, sich auf einen Katalog von 30 unveräußerlichen Rechten zu einigen, welche fortan einen wesentlichen Pfeiler der sich herausbildenden internationalen Ordnung darstellen sollten. Die Deklaration umfasste sowohl die von westlichen Staaten eingeforderten zivilen und politischen Rechte als auch die von sozialistischen Ländern präferierten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte. Das Dokument war somit ein beispielloses Unterfangen der Kodifizierung menschenrechtlicher Normen mit globalem Geltungsanspruch, verwies aber zugleich auf die inkonsistente und teils widersprüchliche Interpretation von Menschenrechten.
Auch wenn es zunächst überraschen mag, kam der Erklärung zunächst keinesfalls die Bedeutung zu, die ihr rückwirkend oftmals zugeschrieben wurde. Weder griffen zivilgesellschaftliche Akteure das Konzept der Menschenrechte in nennenswertem Ausmaß auf, noch avancierten diese unmittelbar zu einem integralen Bezugspunkt der internationalen Beziehungen. Ihren globalen Durchbruch sollten die Menschenrechte erst zwei Jahrzehnte später erleben.
Die insbesondere von Samuel Moyn[3] konstatierte Menschenrechtsrevolution jener Dekade speiste sich aus unterschiedlichen Quellen: Erstens etablierten sich insbesondere in den liberalen Demokratien zivilgesellschaftliche Akteure, wie beispielsweise die 1961 gegründete und 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Nichtregierungsorganisation Amnesty International, welche die Wahrung von Menschenrechten in das Zentrum ihrer Aktivitäten setzten. Zweitens griffen infolge der Dekolonisierung Staaten des Globalen Südens in den Organen der internationalen Gemeinschaft sukzessive die Sprache der Menschenrechte auf, um ihren politischen und ökonomischen Forderungen Gewicht zu verleihen.[4] Hiermit trugen postkoloniale Staaten und Entwicklungsländer maßgeblich zu einem weitreichenden Bedeutungsanstieg der Menschenrechte in den internationalen Beziehungen bei, durch den diese drittens zu einem wesentlichen Bestandteil ideologischer Auseinandersetzungen avancierten. Nicht nur die Entwicklungsländer, sondern auch und vor allem die Sowjetunion und die USA, die unter der Präsidentschaft Jimmy Carters Menschenrechte zu einem außenpolitischen Grundsatz aufwerteten, integrierten Menschenrechtskonzepte in ihre ideologischen Positionen. Und nicht zuletzt untermauerten viertens unterschiedlichste Bewegungen im Rahmen lokaler politischer Kämpfe ihre Forderungen zunehmend mit dem Rückgriff auf die Sprache der Menschenrechte. Als konzeptionell grundsätzlich offenes Vehikel konnten Menschenrechte also für eine Vielzahl divergierender Interessen nutzbar gemacht werden und stiegen auf diese Weise zu einem zentralen, wenn auch stets umstrittenen Leitwert des 20. Jahrhunderts auf. Auch wenn sich Menschenrechte in der Folge inhaltlich und konzeptionell zunehmend ausdifferenzierten, blieb die AEMR ein wesentlicher Bezugspunkt – sie bildete den Anker eines polyzentrischen und polysemantischen Diskurses und gewann nicht zuletzt hierdurch ihre herausragende Bedeutung.
Menschenrechtsgeschichte als Konfliktgeschichte
Der Themenschwerpunkt zu der Geschichte der Menschenrechte und des Humanitarismus im 20. Jahrhundert auf Zeitgeschichte-online trägt diesem Umstand Rechnung. Obgleich die Einzelbeiträge ein breites Spektrum erschließen, zeigen sie eine Konstante der Geschichte der Menschenrechte auf. Denn die ausgewählten Fallbeispiele verdeutlichen, dass Menschenrechte immer auch Gegenstand konfliktreicher Aushandlungsprozesse waren. Ob nun mit Blick auf die Kodifizierung und Ratifizierung von Rechten, die konzeptionelle Aneignung, die Weiterentwicklung von Rechtsnormen oder die Artikulation neuer Menschenrechte – stets verweisen Debatten um Menschenrechte auf politische, soziale und ökonomische Interessen unterschiedlicher Akteure. Die hiermit einhergehenden Dispute lassen sich grundsätzlich auf zwei miteinander verwobene Problemfelder zurückführen: Während einerseits durch artikulierte Forderungen das Spannungsfeld zwischen universellem Anspruch menschenrechtlicher Normen und partikularen Ansprüchen fortwährend neu ausgemessen werden muss, ist die Frage nach der Anerkennung von Rechten untrennbar mit der Deutungshoheit über Menschenrechte und somit mit bestehenden Machtverhältnissen verknüpft. Das Entstehen oder Scheitern von Menschenrechten ist immer das Resultat politischer Machtkämpfe. Entgegen der lange Zeit dominierenden und noch immer verbreiteten eurozentrischen Meistererzählung des linearen Aufstiegs der Menschenrechte von der (europäischen) Antike bis zur Gegenwart unterstreicht der Schwerpunkt, dass die Geschichte der Menschenrechte vielmehr als globale Gewalt- und Konfliktgeschichte verstanden werden muss.
So zeigt Eric Weitz, dass die Sowjetunion (SU) ungeachtet zahlreicher Menschenrechtsverletzungen an der eigenen Bevölkerung im Rahmen der politisierten UN-Menschenrechtsdebatten zu einer treibenden Kraft für die Kodifizierung und Weiterentwicklung menschenrechtlicher Normen aufsteigen konnte. Während sich die SU auf dem Feld der internationalen Norm- und Standardsetzung im Widerstreit mit den USA zu profilieren versuchte, konnten sich jedoch Dissidenten zugleich der Sprache der Menschenrechte bedienen, um auf innenpolitische Reformen zu drängen. Ähnliche Entwicklungen zeichnet Ned Richardson-Little in den Menschenrechtsdiskursen der DDR nach. Das SED-Regime nutzte Menschenrechte im Allgemeinen und die AEMR im Besonderen zunehmend im Sinne der Herrschaftslegitimation und beteiligte sich nach der Aufnahme in die Vereinten Nationen maßgeblich an der Ausgestaltung internationaler Rechtsnormen. In den 1980er Jahren entwickelten sich Menschenrechte aber auch zu einem wesentlichen Bezugspunkt oppositioneller Gruppen. Peter Ridders Beitrag zu den UN-Menschenrechtspakten verdeutlicht, in welchem Ausmaß internationale Menschenrechtsdebatten von ideologischen Standpunkten dominiert wurden. Denn die Verhandlungen über ein völkerrechtlich verbindliches Menschenrechtsabkommen wurden sowohl durch den Ost-West-Konflikt als auch die aufkeimende Nord-Süd-Konfrontation entscheidend geprägt, und die letztlich verabschiedeten Dokumente stellten den Versuch eines Ausgleichs divergierender Interessen dar. Janne Mende verdeutlicht hingegen in ihrem Beitrag über die Debatten um Indigenenrechte, dass die strategische Aneignung und Übersetzung des Menschenrechtskonzeptes ein machtvolles Instrument marginalisierter Gruppen sein kann. Indigenen Gruppen gelang es mit Bezug auf Menschenrechte ihre besondere Benachteiligungssituation zu adressieren und so auf die Beseitigung bestehender Diskriminierungen ebenso zu drängen wie auf die Wiedergutmachung begangenen Unrechts. Die Idee der Restitution liegt auch dem von Daniel Stahl vorgestellten Recht auf Wahrheit zugrunde. Dieses vor allem in lateinamerikanischen Staaten und Südafrika diskutierte Recht zielt explizit auf die Aufarbeitung individueller und gesellschaftlicher Gewalterfahrungen ab und ermöglicht es Opfern oder ihren Angehörigen, Aufklärung über erfahrenes Leid als menschenrechtlichen Anspruch einzufordern. Dass sich die Herausbildung von Menschenrechten allerdings nicht nur aus gesellschaftlichen Prozessen und Konflikten, sondern ebenso aus technologischen Entwicklungen speist, legt Michael Homberg am Beispiel des Rechts auf Kommunikation dar. Angesichts einer fortscheitenden Vernetzung der Welt durch die permanente Entwicklung von Kommunikationstechnologien soll dieses Recht staatlichen Akteuren und Individuen gleichermaßen Teilhabe an Kommunikationstechnologien und datenrechtlichen Schutz ermöglichen.
Auch wenn der Fokus dieses Schwerpunktes auf der Geschichte der Menschenrechte liegt, bietet sich die Einbeziehung des Humanitarismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Denn beide Diskurse stehen spätestens seit der fortschreitenden Internationalisierung nach 1945 in einem engen, wenn auch von Ambivalenzen geprägten wechselseitigen Verhältnis, wie Samuel Moyn in seinen Thesen verdeutlicht. Die vorliegenden Beiträge zur Geschichte des Humanitarismus deuten die komplizierte Beziehung beider Felder bereits an. So argumentiert beispielsweise Bill Sharman, dass der Bezug auf die unveräußerlichen Rechte des Individuums und die Menschenwürde einen integralen Bestandteil des öffentlichen Diskurses über Geflüchtete darstellte. Das Verhältnis zwischen humanitärer Empathie für das Leid des Anderen und menschenrechtlichen Ansprüchen auf Gerechtigkeit war Gegenstand einer breiten und andauernden Auseinandersetzung, an deren Verlauf Geflüchtete durch die Aneignung der Konzepte maßgeblich beteiligt waren. Anhand Jakob Schönhagens Betrachtung der Genese des internationalen Flüchtlingsregimes wird allerdings deutlich, dass der Bezug auf Menschenrechte zwar für akademische und mediale Debatten, nicht aber zwingend für politische Entscheidungsprozesse von Bedeutung war. Die entsprechenden Verhandlungen waren in erster Linie von sicherheitspolitischen Erwägungen geprägt, während Menschenrechten lediglich am Rande Aufmerksamkeit zukam. Dies änderte sich auch nicht wesentlich, als sich nicht zuletzt durch den Druck der Staaten des Globalen Südens die zunächst auf europäischen Erfahrungen beruhende Flüchtlingspolitik der UN globalisierte. Die internationale Verrechtlichung des humanitären Flüchtlingsschutzes erscheint so als Ausdruck pragmatischer Politik, nicht menschenrechtlicher Grundsätze. Aber auch abseits dieses politischen Feldes spielte die Verbindung von humanitären Maßnahmen und sicherheitspolitischen Interessen in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle. Wie Ryan Heyden darlegt, sahen die alliierten Besatzungsmächte in dem neu gegründeten Deutschen Roten Kreuz vor allem ein Instrument für den Wiederaufbau des Landes und die Demokratisierung der Gesellschaft. Die Bemühungen des DRK eröffneten gleichzeitig aber auch Handlungsspielräume für deutsche Protagonisten, welche sowohl den Menschenrechtsdiskurs wie auch die humanitäre Organisation instrumentalisierten, um auf eine Anerkennung des eigenen Leids, die Prozesse des Wiederaufbaus, sowie die Eingliederung Deutschlands in die internationale Ordnung einzuwirken. Dies traf jedoch nicht nur auf Deutschland zu, sondern kann, wie Jiayi Tao unterstreicht, auch für das China der Nachkriegszeit festgehalten werden. Während zwar in diesem Falle Menschenrechte eine untergeordnete Rolle spielten, integrierten chinesische Akteure nicht nur die humanitäre Aufbauhilfe durch die internationale Organisation UNRRA in nationale Nachkriegsplanungen, sondern nutzten diese explizit, um Anerkennung in der internationalen Staatengemeinschaft zu gewinnen und innerchinesische Konflikte zu internationalisieren.
Wie die Beiträge dieses Schwerpunktes erkennen lassen, erwiesen sich die Diskurse der Menschenrechte und des Humanitarismus für eine Vielzahl von Akteuren unter verschiedensten historischen Bedingungen als anschlussfähig. Eine eingehende Historisierung beider Konzepte erscheint also unumgänglich. Das in den vergangenen Jahren stetig zunehmende Forschungsinteresse hat bereits jetzt eine Vielzahl spannender Befunde hervorgebracht. Diese führten nicht nur zu der Zurückweisung etablierter Narrative, sondern auch zu einer erheblichen Erweiterung von Forschungsperspektiven durch die Einbindung zuvor weitestgehend ignorierter Akteure sowie einer verstärkten Betonung der mannigfaltigen Brüche, Diskontinuitäten und Ambivalenzen in der globalen Geschichte der Menschenrechte des 20. Jahrhunderts.[5] Angesichts der Vielfältigkeit beider Forschungsfelder kann der Themenschwerpunkt diese lediglich kursorisch skizzieren. Um aber der thematischen Komplexität gerecht zu werden und auch künftige Forschungen abzubilden, wird dieser Schwerpunkt fortlaufend mit neuen Beiträgen ergänzt.
[1] Vgl. zur Bedeutung der Würde des Menschen für das Konzept der Menschenrechte: Bielefeldt, Heiner: Menschenwürde. Der Grund der Menschenrechte, Berlin 2008.
[2] Hoffmann, Stefan-Ludwig: Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte, in: ders. (Hrsg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 35. Der Text wurde im Juli 2011 in gekürzter Fassung unter dem Titel Die Universalisierung der Menschenrechte nach 1945 auch bei Zeitgeschichte-online veröffentlicht.
[3] Vgl. hierzu: Moyn, Samuel: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010.
[4] Vgl. hierzu: Burke, Roland: Decolonization and the Evolution of International Human Rights.Philadelphia 2010; Jensen, Steven L. B.: The Making of International Human Rights. The 1960s, Decolonization, and the Reconstruction of Global Values, Cambridge 2016.
[5] Vgl. zu den wesentlichen Debatten der gegenwärtigen Menschenrechtshistoriografie: Heerten, Lasse: Menschenrechte und Neue Menschenrechtsgeschichte, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 31.01.2017. (zuletzt aufgerufen am 7.12.2018).
Zum Weiterlesen: Hier der Link zur umfangreichen Sammlung der Beiträge und Themenhefte in den Zeithistorischen Forschungen/Studies in Contemporary History
Eine Materialsammlung zum Themenschwerpunkt: Utopien im Wandel. Zur Geschichte der Menschenrechte und des Humanitarismus im 20. Jahrhundert.
Auch 70 Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) entfaltet kaum ein gesellschaftspolitisches Konzept eine solche Strahlkraft wie das der Menschenrechte. Täglich berufen sich weltweit Menschen auf jene fundamentalen Rechte, um politischen Forderungen Geltung zu verschaffen. Mit Verweis auf politische, soziale oder kulturelle Menschenrechte wird hierbei ein zuweilen schier unüberschaubares Spektrum an Sachverhalten verhandelt, und dennoch werden all diese Debatten durch eine grundsätzliche Prämisse geeint: den Glauben an eine gesellschaftliche Ordnung, in der jeder einzelne Mensch unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht oder seiner Überzeugungen Träger unveräußerlicher Rechte ist. Ein solches Verständnis von Menschenrechten beruht auf der eingeforderten Anerkennung einer unbedingt schützenswerten Menschenwürde, dem inneren und sozialen Wert- und Achtungsanspruch eines jeden Individuums.[1] Wer also auf Menschenrechte rekurriert, bezieht sich stets auch auf Fragen, die das Menschsein selbst betreffen. Hieraus speist sich ein umfassender Geltungsanspruch, durch den sich Menschenrechte signifikant von Bürgerrechten unterscheiden, und der ihr moralisches, politisches und nicht zuletzt diskursives Gewicht begründet. Denn während letztere durch die erforderte Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in ihrer Geltung beschränkt werden, erheben erstere darüber hinaus einen vor- und überstaatlichen Anspruch. Diese in ihrem Kern egalitäre Idee von Menschenrechten hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte so tief in den globalen Diskurs eingeschrieben, dass selbst im Rahmen erbittertster politischer Auseinandersetzungen eine grundsätzliche Zurückweisung der Menschenrechte selbst nahezu unmöglich zu vertreten wäre. Es ist also nicht übertrieben, Menschenrechte als die Doxa unserer Gegenwart zu begreifen.[2]
Menschenrechte: Der Aufstieg eines Leitwerts
Die im Konzept der Menschenrechte angelegte utopische Vorstellung einer Welt, in der elementare Bedürfnisse des Menschen geschützt werden, entfaltete seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine immense Wirkung. Die fortschreitende Positivierung der Menschenrechte führte nicht nur zur Ratifizierung von zahlreichen Abkommen auf globaler Ebene, sondern auch zur Etablierung unterschiedlicher regionaler Menschenrechtssysteme und der Verankerung von Menschenrechten in nationalen Verfassungen. Ein Meilenstein dieser Entwicklungen war fraglos die Verabschiedung der AEMR durch die Generalversammlung der nur drei Jahre zuvor gegründeten Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948. Nach zähem Ringen, in dem sich bereits die Konfliktlinien des einsetzenden Kalten Krieges abzeichneten, gelang es der noch jungen Organisation, sich auf einen Katalog von 30 unveräußerlichen Rechten zu einigen, welche fortan einen wesentlichen Pfeiler der sich herausbildenden internationalen Ordnung darstellen sollten. Die Deklaration umfasste sowohl die von westlichen Staaten eingeforderten zivilen und politischen Rechte als auch die von sozialistischen Ländern präferierten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte. Das Dokument war somit ein beispielloses Unterfangen der Kodifizierung menschenrechtlicher Normen mit globalem Geltungsanspruch, verwies aber zugleich auf die inkonsistente und teils widersprüchliche Interpretation von Menschenrechten.
Auch wenn es zunächst überraschen mag, kam der Erklärung zunächst keinesfalls die Bedeutung zu, die ihr rückwirkend oftmals zugeschrieben wurde. Weder griffen zivilgesellschaftliche Akteure das Konzept der Menschenrechte in nennenswertem Ausmaß auf, noch avancierten diese unmittelbar zu einem integralen Bezugspunkt der internationalen Beziehungen. Ihren globalen Durchbruch sollten die Menschenrechte erst zwei Jahrzehnte später erleben.
Die insbesondere von Samuel Moyn[3] konstatierte Menschenrechtsrevolution jener Dekade speiste sich aus unterschiedlichen Quellen: Erstens etablierten sich insbesondere in den liberalen Demokratien zivilgesellschaftliche Akteure, wie beispielsweise die 1961 gegründete und 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Nichtregierungsorganisation Amnesty International, welche die Wahrung von Menschenrechten in das Zentrum ihrer Aktivitäten setzten. Zweitens griffen infolge der Dekolonisierung Staaten des Globalen Südens in den Organen der internationalen Gemeinschaft sukzessive die Sprache der Menschenrechte auf, um ihren politischen und ökonomischen Forderungen Gewicht zu verleihen.[4] Hiermit trugen postkoloniale Staaten und Entwicklungsländer maßgeblich zu einem weitreichenden Bedeutungsanstieg der Menschenrechte in den internationalen Beziehungen bei, durch den diese drittens zu einem wesentlichen Bestandteil ideologischer Auseinandersetzungen avancierten. Nicht nur die Entwicklungsländer, sondern auch und vor allem die Sowjetunion und die USA, die unter der Präsidentschaft Jimmy Carters Menschenrechte zu einem außenpolitischen Grundsatz aufwerteten, integrierten Menschenrechtskonzepte in ihre ideologischen Positionen. Und nicht zuletzt untermauerten viertens unterschiedlichste Bewegungen im Rahmen lokaler politischer Kämpfe ihre Forderungen zunehmend mit dem Rückgriff auf die Sprache der Menschenrechte. Als konzeptionell grundsätzlich offenes Vehikel konnten Menschenrechte also für eine Vielzahl divergierender Interessen nutzbar gemacht werden und stiegen auf diese Weise zu einem zentralen, wenn auch stets umstrittenen Leitwert des 20. Jahrhunderts auf. Auch wenn sich Menschenrechte in der Folge inhaltlich und konzeptionell zunehmend ausdifferenzierten, blieb die AEMR ein wesentlicher Bezugspunkt – sie bildete den Anker eines polyzentrischen und polysemantischen Diskurses und gewann nicht zuletzt hierdurch ihre herausragende Bedeutung.
Menschenrechtsgeschichte als Konfliktgeschichte
Der Themenschwerpunkt zu der Geschichte der Menschenrechte und des Humanitarismus im 20. Jahrhundert auf Zeitgeschichte-online trägt diesem Umstand Rechnung. Obgleich die Einzelbeiträge ein breites Spektrum erschließen, zeigen sie eine Konstante der Geschichte der Menschenrechte auf. Denn die ausgewählten Fallbeispiele verdeutlichen, dass Menschenrechte immer auch Gegenstand konfliktreicher Aushandlungsprozesse waren. Ob nun mit Blick auf die Kodifizierung und Ratifizierung von Rechten, die konzeptionelle Aneignung, die Weiterentwicklung von Rechtsnormen oder die Artikulation neuer Menschenrechte – stets verweisen Debatten um Menschenrechte auf politische, soziale und ökonomische Interessen unterschiedlicher Akteure. Die hiermit einhergehenden Dispute lassen sich grundsätzlich auf zwei miteinander verwobene Problemfelder zurückführen: Während einerseits durch artikulierte Forderungen das Spannungsfeld zwischen universellem Anspruch menschenrechtlicher Normen und partikularen Ansprüchen fortwährend neu ausgemessen werden muss, ist die Frage nach der Anerkennung von Rechten untrennbar mit der Deutungshoheit über Menschenrechte und somit mit bestehenden Machtverhältnissen verknüpft. Das Entstehen oder Scheitern von Menschenrechten ist immer das Resultat politischer Machtkämpfe. Entgegen der lange Zeit dominierenden und noch immer verbreiteten eurozentrischen Meistererzählung des linearen Aufstiegs der Menschenrechte von der (europäischen) Antike bis zur Gegenwart unterstreicht der Schwerpunkt, dass die Geschichte der Menschenrechte vielmehr als globale Gewalt- und Konfliktgeschichte verstanden werden muss.
So zeigt Eric Weitz, dass die Sowjetunion (SU) ungeachtet zahlreicher Menschenrechtsverletzungen an der eigenen Bevölkerung im Rahmen der politisierten UN-Menschenrechtsdebatten zu einer treibenden Kraft für die Kodifizierung und Weiterentwicklung menschenrechtlicher Normen aufsteigen konnte. Während sich die SU auf dem Feld der internationalen Norm- und Standardsetzung im Widerstreit mit den USA zu profilieren versuchte, konnten sich jedoch Dissidenten zugleich der Sprache der Menschenrechte bedienen, um auf innenpolitische Reformen zu drängen. Ähnliche Entwicklungen zeichnet Ned Richardson-Little in den Menschenrechtsdiskursen der DDR nach. Das SED-Regime nutzte Menschenrechte im Allgemeinen und die AEMR im Besonderen zunehmend im Sinne der Herrschaftslegitimation und beteiligte sich nach der Aufnahme in die Vereinten Nationen maßgeblich an der Ausgestaltung internationaler Rechtsnormen. In den 1980er Jahren entwickelten sich Menschenrechte aber auch zu einem wesentlichen Bezugspunkt oppositioneller Gruppen. Peter Ridders Beitrag zu den UN-Menschenrechtspakten verdeutlicht, in welchem Ausmaß internationale Menschenrechtsdebatten von ideologischen Standpunkten dominiert wurden. Denn die Verhandlungen über ein völkerrechtlich verbindliches Menschenrechtsabkommen wurden sowohl durch den Ost-West-Konflikt als auch die aufkeimende Nord-Süd-Konfrontation entscheidend geprägt, und die letztlich verabschiedeten Dokumente stellten den Versuch eines Ausgleichs divergierender Interessen dar. Janne Mende verdeutlicht hingegen in ihrem Beitrag über die Debatten um Indigenenrechte, dass die strategische Aneignung und Übersetzung des Menschenrechtskonzeptes ein machtvolles Instrument marginalisierter Gruppen sein kann. Indigenen Gruppen gelang es mit Bezug auf Menschenrechte ihre besondere Benachteiligungssituation zu adressieren und so auf die Beseitigung bestehender Diskriminierungen ebenso zu drängen wie auf die Wiedergutmachung begangenen Unrechts. Die Idee der Restitution liegt auch dem von Daniel Stahl vorgestellten Recht auf Wahrheit zugrunde. Dieses vor allem in lateinamerikanischen Staaten und Südafrika diskutierte Recht zielt explizit auf die Aufarbeitung individueller und gesellschaftlicher Gewalterfahrungen ab und ermöglicht es Opfern oder ihren Angehörigen, Aufklärung über erfahrenes Leid als menschenrechtlichen Anspruch einzufordern. Dass sich die Herausbildung von Menschenrechten allerdings nicht nur aus gesellschaftlichen Prozessen und Konflikten, sondern ebenso aus technologischen Entwicklungen speist, legt Michael Homberg am Beispiel des Rechts auf Kommunikation dar. Angesichts einer fortscheitenden Vernetzung der Welt durch die permanente Entwicklung von Kommunikationstechnologien soll dieses Recht staatlichen Akteuren und Individuen gleichermaßen Teilhabe an Kommunikationstechnologien und datenrechtlichen Schutz ermöglichen.
Auch wenn der Fokus dieses Schwerpunktes auf der Geschichte der Menschenrechte liegt, bietet sich die Einbeziehung des Humanitarismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Denn beide Diskurse stehen spätestens seit der fortschreitenden Internationalisierung nach 1945 in einem engen, wenn auch von Ambivalenzen geprägten wechselseitigen Verhältnis, wie Samuel Moyn in seinen Thesen verdeutlicht. Die vorliegenden Beiträge zur Geschichte des Humanitarismus deuten die komplizierte Beziehung beider Felder bereits an. So argumentiert beispielsweise Bill Sharman, dass der Bezug auf die unveräußerlichen Rechte des Individuums und die Menschenwürde einen integralen Bestandteil des öffentlichen Diskurses über Geflüchtete darstellte. Das Verhältnis zwischen humanitärer Empathie für das Leid des Anderen und menschenrechtlichen Ansprüchen auf Gerechtigkeit war Gegenstand einer breiten und andauernden Auseinandersetzung, an deren Verlauf Geflüchtete durch die Aneignung der Konzepte maßgeblich beteiligt waren. Anhand Jakob Schönhagens Betrachtung der Genese des internationalen Flüchtlingsregimes wird allerdings deutlich, dass der Bezug auf Menschenrechte zwar für akademische und mediale Debatten, nicht aber zwingend für politische Entscheidungsprozesse von Bedeutung war. Die entsprechenden Verhandlungen waren in erster Linie von sicherheitspolitischen Erwägungen geprägt, während Menschenrechten lediglich am Rande Aufmerksamkeit zukam. Dies änderte sich auch nicht wesentlich, als sich nicht zuletzt durch den Druck der Staaten des Globalen Südens die zunächst auf europäischen Erfahrungen beruhende Flüchtlingspolitik der UN globalisierte. Die internationale Verrechtlichung des humanitären Flüchtlingsschutzes erscheint so als Ausdruck pragmatischer Politik, nicht menschenrechtlicher Grundsätze. Aber auch abseits dieses politischen Feldes spielte die Verbindung von humanitären Maßnahmen und sicherheitspolitischen Interessen in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle. Wie Ryan Heyden darlegt, sahen die alliierten Besatzungsmächte in dem neu gegründeten Deutschen Roten Kreuz vor allem ein Instrument für den Wiederaufbau des Landes und die Demokratisierung der Gesellschaft. Die Bemühungen des DRK eröffneten gleichzeitig aber auch Handlungsspielräume für deutsche Protagonisten, welche sowohl den Menschenrechtsdiskurs wie auch die humanitäre Organisation instrumentalisierten, um auf eine Anerkennung des eigenen Leids, die Prozesse des Wiederaufbaus, sowie die Eingliederung Deutschlands in die internationale Ordnung einzuwirken. Dies traf jedoch nicht nur auf Deutschland zu, sondern kann, wie Jiayi Tao unterstreicht, auch für das China der Nachkriegszeit festgehalten werden. Während zwar in diesem Falle Menschenrechte eine untergeordnete Rolle spielten, integrierten chinesische Akteure nicht nur die humanitäre Aufbauhilfe durch die internationale Organisation UNRRA in nationale Nachkriegsplanungen, sondern nutzten diese explizit, um Anerkennung in der internationalen Staatengemeinschaft zu gewinnen und innerchinesische Konflikte zu internationalisieren.
Wie die Beiträge dieses Schwerpunktes erkennen lassen, erwiesen sich die Diskurse der Menschenrechte und des Humanitarismus für eine Vielzahl von Akteuren unter verschiedensten historischen Bedingungen als anschlussfähig. Eine eingehende Historisierung beider Konzepte erscheint also unumgänglich. Das in den vergangenen Jahren stetig zunehmende Forschungsinteresse hat bereits jetzt eine Vielzahl spannender Befunde hervorgebracht. Diese führten nicht nur zu der Zurückweisung etablierter Narrative, sondern auch zu einer erheblichen Erweiterung von Forschungsperspektiven durch die Einbindung zuvor weitestgehend ignorierter Akteure sowie einer verstärkten Betonung der mannigfaltigen Brüche, Diskontinuitäten und Ambivalenzen in der globalen Geschichte der Menschenrechte des 20. Jahrhunderts.[5] Angesichts der Vielfältigkeit beider Forschungsfelder kann der Themenschwerpunkt diese lediglich kursorisch skizzieren. Um aber der thematischen Komplexität gerecht zu werden und auch künftige Forschungen abzubilden, wird dieser Schwerpunkt fortlaufend mit neuen Beiträgen ergänzt.
[1] Vgl. zur Bedeutung der Würde des Menschen für das Konzept der Menschenrechte: Bielefeldt, Heiner: Menschenwürde. Der Grund der Menschenrechte, Berlin 2008.
[2] Hoffmann, Stefan-Ludwig: Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte, in: ders. (Hrsg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 35. Der Text wurde im Juli 2011 in gekürzter Fassung unter dem Titel Die Universalisierung der Menschenrechte nach 1945 auch bei Zeitgeschichte-online veröffentlicht.
[3] Vgl. hierzu: Moyn, Samuel: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010.
[4] Vgl. hierzu: Burke, Roland: Decolonization and the Evolution of International Human Rights.
Philadelphia 2010; Jensen, Steven L. B.: The Making of International Human Rights. The 1960s, Decolonization, and the Reconstruction of Global Values, Cambridge 2016.
[5] Vgl. zu den wesentlichen Debatten der gegenwärtigen Menschenrechtshistoriografie: Heerten, Lasse: Menschenrechte und Neue Menschenrechtsgeschichte, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 31.01.2017. (zuletzt aufgerufen am 7.12.2018).
Zum Weiterlesen: Hier der Link zur umfangreichen Sammlung der Beiträge und Themenhefte in den Zeithistorischen Forschungen/Studies in Contemporary History
Eine Materialsammlung zum Themenschwerpunkt: Utopien im Wandel. Zur Geschichte der Menschenrechte und des Humanitarismus im 20. Jahrhundert.
Utopien im Wandel
Zur Geschichte der Menschenrechte und des Humanitarismus im 20. Jahrhundert