Nostalgische Alltagserinnerungen an die DDR standen seit den frühen1990er Jahren unter dem Verdacht der Verharmlosung der SED-Diktatur. Obwohl diese sehr einseitige Sichtweise durch die Forschung mittlerweile weitgehend entkräftet ist und ein differenzierteres Bild von Erinnerung Einzug gehalten hat, fällt noch immer eine gewisse Exotisierung ostdeutscher Erinnerungspraktiken auf. Weitet man den Blick jedoch auf nostalgische Erinnerungen in westlichen Ländern, werden trotz einiger Unterschiede Parallelen sichtbar, die auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Ost und West verweisen und Erklärungsmuster für ostdeutsche Alltagserinnerungen in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Ostalgie 2.0
Soziale Medien sind kein Spiegelbild der Gesellschaft oder einer Erinnerungsgemeinschaft, können aber mitunter interessante Einblicke erlauben. Sie können als digitale Erinnerungsräume konzeptualisiert werden, so der Kommunikationswissenschaftler Manuel Menke. Erinnerungsräume, in denen Menschen kommunikative Erinnerungsgemeinschaften auf der Basis von gemeinsam geteilten lebensweltlichen Erfahrungen und gleicher emotionaler Bewertungen einer Vergangenheit bilden.
Indem sich Menschen gemeinsam nostalgisch erinnern, konstruieren sie ihre kollektive Identität.[1] Scrollt man durch die Beiträge einiger der vielen Facebookseiten mit DDR-Bezug, fällt vor allem ihre große Ähnlichkeit auf. Überall finden sich nahezu identische Bilder vom Sandmännchen, dem Trabi und einschlägigen, typisch ostdeutschen Konsumgütern.
Die Foto-Beiträge mit Alltagsgegenständen sind häufig mit Gemeinschaft stiftenden Fragen oder Slogans verbunden („Wer kennt das noch?“). Auch Farbfotos von Stadtansichten aus Illustrierten oder Postkarten stoßen auf hohe Resonanz. Sie zeigen das Bild einer sauberen, modernen DDR. In den Kommentarspalten häufen sich vor allem die Wörter „unbeschwert“, „sicher“, „behütet“, „Zusammenhalt“ und „stolz“ sowie das allseits verbreitete „es war nicht alles schlecht“. Viele Kommentator*innen betonen, dass sie eine schöne Kindheit oder Jugend hatten. Gleichzeitig wünscht sich kaum jemand die DDR zurück. Vereinzelte kritische Kommentare, die auf dieses verzerrte Bild hinweisen, stoßen jedoch auf teils heftige Gegenreaktionen. Was sich in den Kommentaren zeigt, kann als widersprüchliche Trotz-Identität bezeichnet werden. Diese Form der Identität wird weniger durch innere Kohärenz zusammengehalten, als durch die Abgrenzung nach außen und die Ablehnung eines totalitären Bildes der DDR-Gesellschaft, welches lediglich die Kategorien Täter und Opfer beinhaltet. Die „‚Aufarbeitung‘ [wird] als ein vom Westen gesteuerter Prozess gesehen, der über die individuell und kollektiv erlebte Vergangenheit zu richten scheint“, bilanzieren Sabine Gallinat und Anselma Kittel auf Basis einer Interviewstudie mit ehemaligen DDR-Bürger*innen.[2]
Der Erinnerungskonflikt zwischen den Bereichen, die Martin Sabrow als „Diktaturgedächtnis“ und „Arrangementgedächtnis“ differenziert hat, lässt sich wohl nie ganz auflösen. Er existiert analog zu der in DDR-Zeiten bestehenden Ko-Existenz eines „ganz normalen Lebens“ und dem Herrschafts- und Unterdrückungsapparat. Das Arrangementgedächtnis verweigert sich der säuberlichen Trennung von Biographie und Herrschaftssystem und „fühlt sich vom Blauhemd der FDJ […] auch an die glückliche Zeit der eigenen Jugend erinnert.“[3]
Ratlos waren besonders westdeutsche Beobachter*innen, als viele Ostdeutsche bereits wenige Jahre nach der Wiedervereinigung in scheinbarer Undankbarkeit und Verkennung ihrer neugewonnenen Freiheit DDR-Partys feierten, alte Ost-Produkte wiederaufleben ließen und den 1990/91 noch zu tausenden am Straßenrand entsorgten Trabi als ostdeutsches Kultauto zelebrierten. Die Enquetekommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gab gleich zwei Gutachten zum Thema „Ostalgie“ in Auftrag. Dabei war sich die Forschung (im Gegensatz zu Politik und Medien) schnell darüber im Klaren, dass Ostalgie alles andere als der Wunsch nach einer Rückkehr der SED-Herrschaft ist. Sie wird vielmehr als Reaktion auf die plötzlich verschwundene Lebenswelt der DDR, als ironisch-karnevaleske Verarbeitung des Wandels, als demokratische Gegen-Erinnerung und als Praktik der Selbstvergewisserung angesichts der Entwertung ostdeutscher Biographien nach 1990 interpretiert.[4] Schnell wurde diese Nostalgie auch in Form von Ostalgie-TV-Shows, Filmen und Produkten vermarktet.
Symbiose aus Arrangement- und Diktaturgedächtnis
Wenn dieser in sozialen Medien dominierenden harmlosen Alltagserinnerung meist nicht der Wunsch nach Rückkehr in die Diktatur innewohnt, so fallen doch einige politische Gegenwartsbezüge auf. Die DDR als das „Andere“ dient als Vergleichsfolie für teils widersprüchliche Diagnosen über mangelnde soziale Sicherheit, Einwanderung, Werteverfall oder eingeschränkte Meinungsfreiheit.
Facebookseiten wie „Unsere DDR [sic]“ oder „Erich Honecker“ setzen sarkastisch die „Altparteien“, die „Lügenpresse“, oder auch die „Klimahysterie“ mit der Gleichschaltung und Bevormundung in der DDR gleich und erzeugen damit teils heftige Diskussionen mit viel Zustimmung und Widerspruch. Hier zeigt sich nicht nur die gegenwartsbezogene „selektive[...] Inanspruchnahme von DDR bezogenen Wissensbeständen für individuelle wie kollektive Sinnbildung.“[5] Ebenso wird deutlich, dass Ostalgie und Anerkennung des Diktaturgedächtnisses gut zusammen funktionieren. Die politische Unfreiheit im DDR-System wird anerkannt und sodann als Spiegel benutzt. Was sich in manchen Beiträgen auf diesen Seiten offenbart, ist eine Symbiose aus Arrangement- und Diktaturgedächtnis. Es findet eine Trennung zwischen dem Herrschaftssystem und einem positiv bewerteten, ethnisch homogenen, paternalistischen Sozialstaat in der DDR statt.
Zudem materialisiert sich dort eine Wut darüber, nicht das bekommen zu haben, was mit der Wiedervereinigung versprochen wurde: Eine quasi-idealisierte Bundesrepublik des Jahres 1989, ohne Sozialabbau, Klimawandel, sich wandelnden Geschlechterrollen oder Globalisierung. So schreiben zwei Kommentator*innen in einem vieldiskutierten Post zum Mauerfall sarkastisch: „Aber für Reisen und Bananen wurde die Sicherheit verkauft“ und „Nur wenn wir damals gewusst hätten wie es kommt wäre die Mauer besser stehen geblieben [sic].“[6] Angesichts der Verschmelzung der Kritik an (empfundenen) Einzel-Problemen mit einer Kritik am ganzen politischen System der Bundesrepublik könnte man in den zitierten Seiten die Reste der in DDR verbreiteten „Mecker-Kultur“ (Mary Fulbrook) sehen. Einer Kultur, in der vom Staat die Befriedigung aller Bedürfnisse erwartete wurde, weil der Staat mit dem Anspruch auftrat, alles zu regeln.[7] Diese Erwartung kollidiert mit den veränderten Spielregeln der repräsentativen Demokratie und führt zu Frustrationen. Zugleich wird daran eine noch aus DDR Zeiten tradierte Staatsskepsis gegen „die da oben“ sichtbar, die sich nun gegen die Bundesrepublik richtet.
Zudem wirken die Abgrenzungen gegenüber allem als fremd Wahrgenommenen, sei es nun „Fridays for Future“, Geflüchtete oder andere vermeintliche „Randgruppen“, noch aus einem weiteren Grund wie ein Überbleibsel der DDR-Sozialisation. Es offenbart sich hier das staatlich propagierte Streben nach maximaler Homogenität einer konstruierten Klassengemeinschaft. Gleichzeitig waren nationalistische Einstellungen verpönt und die Bevölkerung wurde von allem, was „fremd“ schien, abgeschirmt. „Dieses gesellschaftliche Klima, das ein Höchstmaß an Konformität und Konfliktfreiheit zum Normalzustand erklärte, schuf schlechte Voraussetzungen für einen toleranten Umgang mit den „Anderen“.“[8]
Ostalgie als Trendsetter für Westalgie?
Doch der Verweis auf eine etwaige DDR-Sozialisation ist trotz aller Besonderheiten noch nicht ausreichend, denn die genannten Phänomene sind keine allein ostdeutsche Erscheinung, auch wenn sie dort verstärkt auftreten. Philip Ther oder Cornelia Koppetsch sehen sowohl in harmloser Nostalgie als auch im europaweiten Erstarken des Rechtspopulismus zwei Seiten der gleichen Medaille. Sie seien eine Reaktion auf die Globalisierung und die neoliberale Transformation der 1980er und 1990er Jahre, die unter dem Banner der Alternativlosigkeit nicht nur Ostdeutschland und Osteuropa nachhaltig veränderten, sondern auch Westeuropa.[9] Es fällt auf, dass viele Erklärungsmuster für die nostalgische DDR-Erinnerung um die Jahrtausendwende mit Bezug auf ganz Europa wieder zum Vorschein kommen: Der Wandel der Alltagswelt und Deindustrialisierung, der Verlust des Sicherheitsgefühls und ein verstärktes Krisenempfinden, eine sich rasch wandelnde Medienumgebung sowie die Einflüsse der Globalisierung.
Damit wird die DDR-Erinnerung möglicherweise vergleichbar mit ähnlichen Erscheinungen in Westdeutschland, die bislang kaum untersucht wurden. Auf gewisse Parallelen wiesen bereits englische und US-amerikanische Forschungen hin.[10] So heißt Andreas Hocks Wiederaufguss von „Generation Golf“ aus dem Jahr 2018 etwa: „Generation Kohl. Als die Rente noch sicher, Der Weltspartag noch wichtig und unsere einzige Sorge das Waldsterben war.“ Und drehte sich nicht auch der letzte Hessen-Tatort (20.10.2019) um eine behütete Vergangenheit im Westdeutschland der 70er und 80er Jahre, wo es kein Internet, aber mit der RAF wenigstens „noch richtige Terroristen“ gab? Szenen, die in typisch grotesker Tatort-Manier den Angriff einer zombiehaften Meute von Neo-Nazis und arabischen Clans auf das verstaubte Polizeimuseum zeigen, schienen in ähnlicher Weise den Einbruch einer komplizierten Gegenwart in die liebgewonnene Provinzialität der Bonner Republik darzustellen. Im Jahr 2017 sendete das ZDF die Reihe „Das war dann mal weg“ in der Alltagsgegenstände und -praktiken nostalgisch erinnert wurden. Auf dem Buchmarkt finden sich dutzende sogenannte Jahrgangsbücher. Der darauf spezialisierte Wartberg-Verlag hat von diesen Büchern laut eigenen Angaben 3,5 Millionen Exemplare verkauft und wirbt mit dem Motto „Gib mir das Gefühl zurück!“. Auch auf Facebook finden sich nostalgische BRD-Erinnerungsseiten wie „Wir Kinder der 80er“. Vieles was zuvor als Ostalgie geradezu gebrandmarkt wurde, scheint sich, in abgeschwächtem Maße und ohne die Last einer Diktatur, also auch im Westen als Westalgie abzuzeichnen.
Die Lebenswelt der „alten“ Bundesrepublik scheint 30 Jahre nach dem Mauerfall ebenso fern wie die der DDR, mit dem Unterschied, dass der Wandel der Alltagswelt nicht abrupt geschah. Diese Diagnose stellte nicht nur die Geschichtswissenschaft.[11] So schrieb FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher vor 11 Jahren: „Nicht nur die Bevölkerung der Ex-DDR, auch die der alten Bundesrepublik befindet sich seit 1990 in einer Phase traumatisierender Abschiede von Garantien, auf denen ganze Lebensläufe aufbauen. Wer das Deutschland des Jahres 2008 verstehen will, muss begreifen, dass es weniger in Ost und West geteilt ist als in zwei Zeitzonen: in die Zeit vor 1990 und in die Zeit danach.“ Günther Hack wies 2014 angesichts der ersten Erfolge der AfD gar auf eine gesamtdeutsche „BRD-Nostalgie“ hin: „Es gibt die Sehnsucht nach einem richtig deutschen Deutschland, erfolgreich und gemütlich, geachtet in der Welt, aber auch fern von ihr, überstrahlt von ihrem glänzenden Symbol: der D-Mark.“
Ohne eine bestimmte DDR-Spezifik auszuschließen, sollte also bedacht werden, dass sich ähnliche nostalgische und politische Unterströmungen ebenso im Westen zeigen. Im Wahl-Jahr 2016 holte die AfD in Baden-Württemberg 15%. Und teils harsche Abwehrreaktionen gegenüber einer veränderten Gegenwart finden sich in ganz ähnlicher Form zu den genannten DDR-Seiten auch bei einigen Vertreter*innen der alten Bundesrepublik, die sich beispielsweise gegen den vermeintlichen „Genderwahn“ und Political Correctness aussprechen.
Nostalgie ist nichts Schlechtes. Auch wenn es eine lange Geschichte der immer wieder gleichen Kritik an nostalgischen Erinnerungen gibt, sollte besser danach gefragt werden, ob Nostalgie nicht schon immer eine nützliche menschliche Verarbeitung von Wandel ist.[12]
Trotzdem scheint es möglich, in den aktuellen nostalgischen Erinnerungen und politischen Abwehrreaktionen doch eine spezifische Reaktion auf sozioökonomische und kulturelle Wandlungsprozesse der Gegenwart abzulesen. Diese wiederum haben – etwa im Fall von globalen Vernetzungsprozessen oder veränderten Geschlechterrollen – ihren Ursprung häufig vor 1990 und verweisen auf parallele Entwicklungen in der DDR und der Bundesrepublik. Das Wort Nostalgie setzt sich aus den griechischen Wörtern für Heimkehr („nostos“) und Schmerz („algos“) zusammen und bedeutet im ursprünglichen Sinne ein räumliches Heimweh. Die „transzendentale Heimatlosigkeit“, die Martin Sabrow jüngst für einige Teile Ostdeutschlands konstatierte, findet sich vielleicht ebenso in anderen Teilen Europas und der USA.
So wird vielleicht verständlich, wie die AfD mit Slogans wie „Vollende die Wende“ und „Hol Dir Dein Land zurück“gerade Menschen erreicht, die sich nostalgisch an die DDR erinnern. Die Vollendung der Wende meint so das Einlösen der Versprechen, ein imaginiertes Industrieland Westdeutschland vor 1990 zu bekommen – fernab von der Welt.
[1] Ralph Bollmann: Das ferne Land. Zur Historisierung der alten Bundesrepublik, in: Merkur 69, Nr. 792 (2015), S. 18-24.
[2] Zu dieser langen Tradition der Kritik an Nostalgie, siehe: Tobias Becker: Eine kleine Geschichte der Nostalgie, in: Merkur 72, Nr. 835 (2018), S. 66-73.
[3] Martin Sabrow: Die DDR erinnern, in: Ders. (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–27, hier: S. 19.
[4] Einen guten Überblick bietet: Thomas Ahbe: Ostalgie. Zu ostdeutschen Erfahrungen und Reaktionen nach dem Umbruch, Berlin 2016.
[5] Nina Leonhard/Hanna Haag/Pamela Heß: Volkseigenes Erinnern. Die DDR als Gegenstand sozialer Erinnerungs- und Vergessensprozesse, in: Dies. (Hg.): Volkseigenes Erinnern. Die DDR im sozialen Gedächtnis, Wiesbaden 2017, S. 1-12, hier: S. 2.
[6] Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008, S. 30.
[7] Jan C Behrends/ Dennis Kuck/ Patrice G. Poutrus: Thesenpapier. Historische Grundlagen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern, in: HSozKult, 10.08.2000, [zuletzt abgerufen am 18. März 2020].
[8] Philipp Ther: The Year 1989 and the global hegemony of neoliberalism, in: Eleni Braat, Pepijn Corduwener (Hg.): 1989 and the West. Western Europe since the End of the Cold War, London/New York 2019, S. 93-122, hier: S. 113; Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns: Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld 2019, S. 11f.
[9] Marcel Thomas: Beyond Ostalgie. Villagers and Social Change in East and West Germany, in: Stephan Ehrig/ Marcel Thomas/ David Zell (Hg.): The GDR Today. New Interdisciplinary Approaches to East German History, Memory and Culture, S. 155-174.
[10] Ralph Bollmann: Das ferne Land. Zur Historisierung der alten Bundesrepublik, in: Merkur 69, Nr. 792 (2015), S. 18-24.
[11] Zu dieser langen Tradition der Kritik an Nostalgie, siehe: Tobias Becker: Eine kleine Geschichte der Nostalgie, in: Merkur 72, Nr. 835 (2018), S. 66-73.
„Wir waren gut behütet“
Die DDR in Sozialen Medien