Im Januar 1989 zirkulierte im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR der Entwurf eines offiziellen Schreibens – eine Handlungsgrundlage für die Mitarbeiter*innen der DDR-Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Neben dem MfS waren weitere Institutionen an der Erarbeitung beteiligt: Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) sowie deren ‚Abteilung Schutz‘ und die Abteilung für Sicherheitsfragen des ZK der SED. Die Adressaten waren etwa der Botschafter selbst, der ‚Hauptamtliche Sicherheitsbeauftragte‘ und die ‚Objektsicherheitskräfte‘ des MfS, aber auch der Militärattaché und der Botschaftsarzt. Zum damaligen Zeitpunkt drohte die vollständige Evakuierung der Vertretung als der schlimmste anzunehmende Fall. Bei den Diplomat*innen, Militärs und im Geheimdienst der DDR schrillten die Alarmglocken, sie erwarteten eine Periode intensiver bewaffneter Auseinandersetzungen nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Die DDR stand im Land am Hindukusch vor einer entscheidenden Zäsur. Es blieb dennoch das erklärte Ziel, die Präsenz der DDR in Kabul so lange als möglich zu sichern.[1] Was ließ hochrangige Geheimdienstler, wie den für Legalresidenturen (nachrichtendienstliche Stützpunkte) verantwortlichen Generalmajor W. Prosetzky in Alarmbereitschaft verfallen? Was hatte die DDR in einem zentralasiatischen Land der „Dritten Welt“ zu suchen und was zu verlieren?
Rückzug vom Einzug
Über das Zentralorgan Pravda hatte der sowjetische Generalsekretär M. S. Gorbačev am 9. Februar 1988 die Möglichkeit eines raschen Truppenabzugs aus Afghanistan angekündigt. Mit der darauffolgenden Genfer Afghanistan-Vereinbarung verzichteten die USA sowie die UdSSR auf eine weitere Einmischung in die Belange Afghanistans. Die sowjetische Führung war dem afghanischen Verbündeten 1979 eher unwillig als euphorisch militärisch zur Seite getreten – das pro-sowjetische Regime in Kabul drohte im innerafghanischen Bürgerkrieg unterzugehen. Jahr um Jahr verschlang das Engagement der UdSSR am Hindukusch mehrere Milliarden Rubel. Tausende, vorrangig junge Sowjetsoldaten, waren durch unmittelbare Kampfhandlungen gefallen, invalidisiert oder litten an kriegsbedingten Erkrankungen wie etwa Hepatitis. Die politische Führung in Moskau avisierte einen vollständigen Abzug der Truppen bis zum 15. Februar 1989 – es galt die „blutende Wunde“ Afghanistan zu schließen.[2]
Die DDR verfügte 1988 über ein durchaus realistisches Bild der Lage – MfS-Berichte der Hauptabteilung II[3] vom Februar des Jahres sprachen von bis zu einer Million ziviler Todesopfer sowie davon, dass bis dato mehr als 5.000 sowjetische Bürger*innen ums Leben gekommen seien. Besonders in Kabul wäre die Stimmung düster, denn den Beratern und Diplomaten schlage eine negative bis feindliche Stimmung entgegen. Die kriegsmüde Bevölkerung habe kaum mehr Vertrauen in die afghanischen Institutionen.[4] Offiziell kontrollierten die Regierungstruppen unter Präsident Mohammed Nadschibullah lediglich 40 Prozent des afghanischen Territoriums. De facto waren nur die Städte halbwegs unter Kontrolle und die Nacht gehörte auch hier der innerafghanischen Opposition und somit den Mudschahidin.
Diplomatisches Kapital in Gefahr
Die DDR war seit dem 7. August 1978 mit einer Botschaft in Kabul vertreten. Der Ausbau der bilateralen Beziehungen war durch die sogenannte Saur-Revolution im April 1978 ermöglicht worden. Revolutionäre Kräfte katapultierten das zentralasiatische Land in den von Moskau besonders gehegten Kreis der „Staaten sozialistischer Orientierung“. Zum ideologischen Bruderstaat geworden, baute das MfAA seine Aktivitäten kontinuierlich aus. Die Vertreter*innen des Handelsministeriums begaben sich auf die Suche nach Waren für den heimischen Markt. Ein Kulturabkommen wurde ausgearbeitet und übergeben – Afghanistan geriet in den Fokus ostdeutscher Interessen.[5] Bis 1988 gewährte die DDR bis zu 40 Millionen US-Dollar in Form von Regierungskrediten. Neben den von DDR-Bürger*innen finanzierten Solidaritätslieferungen, flossen, vom MfS direkt organisiert, Millionen Mark der DDR in Sendungen an das afghanischen Bruderorgan: Decken, medizinisches Gerät, Metallsuchgeräte, Sprengstoffdetektoren oder Telefone und Fernschreiber. Die Geheimdienste der Minister Erich Mielke und Ghulam F. Yakubi etablierten einen direkten Draht und organisierten „technische Mittel und Ausrüstungen für die operative Arbeit.“ Den Dreh- und Angelpunkt der Zusammenarbeit bildete der Hauptsicherheitsbeauftragte der Botschaft – ein Verbindungsoffizier im Rang eines Majors des MfS.[6]
Die DDR positionierte sich in einem besonderen Maße auf dem Gebiet der Massenmedien. Hochmoderne Druckmaschinen für das Zentralorgan „Chakikate inkilabe saur“ wurden ebenso geliefert, wie sich der Neubau eines Radio- und Fernsehkomplexes in Kabul bis in die späten 1980er Jahre hinzog. In den Jahren 1986 bis 1989 war Kraft Bumbel als Botschafter der DDR in Kabul akkreditiert. In seiner zweiten Amtszeit lieferte Bumbel mittels Depeschen wichtige Informationen an das MfAA, die auch vom Staatssicherheitsdienst ausgewertet wurden. Neben inoffiziell aufgeklärten Hinweisen, Konsultationen mit den Botschaftern und Geheimdiensten der Bruderstaaten sowie Einschätzungen der in Afghanistan aktiven Ministerien der DDR, avancieren die Fernschreiben zu einer wichtigen Quelle über die Lage in den Jahren 1988 und 1989.
Ein Telegramm vom 23. September 1988 unterstrich den wachsenden Druck auf die Mitarbeiter*innen der Botschaft. Die Versorgung der Hauptstadt würde immer schwieriger, da die „Banden der Konterrevolution“ die Transporte auf der überlebenswichtigen Verbindung nach Kabul stören würden – die afghanischen Sicherheitsposten um die Metropole stünden unter intensivem Beschuss. Trotz starker Artilleriebedrohung zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten attestierte der Botschafter, dass die Lage im Kollektiv der diplomatischen Vertretung stabil sei – die letzte Parteigruppenversammlung hätte dies bestätigt.[7] Nur wenige Tage später verdeutlichte Bumbel die zunehmende Blockadegefahr Kabuls und die damit verbundene Gefährdung der DDR-Bürger*innen in der Stadt: Die afghanische Staatsmacht habe die Kontrolle über das Land weitgehend eingebüßt. Für die DDR-Expert*innen und Hochschulkader wurde ein Einreisestopp verhängt, da sich ihre Wohnstätten in den von Raketenbeschuss betroffenen Wohngebieten (Mikrorayons) befinden würden – der Botschafter unterstrich, dass die afghanischen Partner keine Sicherheit mehr gewährleisten könnten. Mit Stand vom 02. Oktober 1988 befanden sich noch 46 „Auslandskader“ in der Republik Afghanistan.[8] Wie die sowjetischen Kolleg*innen hätten auch die verbliebenen ostdeutschen Spezialist*innen das Land in den kommenden Wochen zu verlassen.[9] In der folgenden Zeit vermittelte die Botschaft eine ansteigende Gefahrenlage durch heranrückende Kämpfe und inländische Nervosität – Berater*innen, Entwicklungshelfer*innen und vor allen Lehrkräfte der sozialistischen Staatengemeinschaft zogen sich aus Afghanistan zurück.
Mensch und Prestige halten sich die Waage
Schon im Oktober 1988 reagiert das MfAA auf die Hinweise aus Kabul und beschloss die ersten „Maßnahmen zum Schutz von DDR-Bürgern, welche zeitweilig in Afghanistan tätig sind.“[10] Um möglichst wenige der noch verbliebenen Personen zu gefährden, ließ die Botschaft in ersten Schritten die Ehefrauen der Mitarbeiter ausfliegen, legte Quartiere zusammen und diskutierte eine Minimalbesetzung zum Aufrechterhalten des Botschaftsbetriebes. Diese Vorgaben wurden ab Januar 1989 umgesetzt.[11] Die Vorkehrungen aufgreifend, standen der Botschaft schnell verfügbare Flugtickets mit Air India zum Verlassen Afghanistans über Neu-Delhi und alternativ via Aeroflot zur Verfügung.
Die Lage in Afghanistan beeinflusste das Sicherheitsgefühl an der DDR-Botschaft in Kabul und bestimmte deren Arbeit: Die Bewachung der Botschaft wurde von afghanischen Sicherheitskräften der Polizei auf die Präsidentengarde übertragen. Das Schriftgut wurde weitestgehend vernichtet. Die Arbeitsabläufe wurden so umstrukturiert, dass 32-Stunden-Schichten keine Seltenheit waren.[12] Ferner wurden Reserven an Lebensmitteln und Treibstoff angelegt.[13] Das MfAA unterstrich jedoch den „zeitweiligen Charakter“ dieser Vorkehrungen und beschloss Mitte Januar 1989 abschließend, die „Botschaft der DDR in Kabul [zu belassen]“, um die ständige Präsenz der DDR zu gewährleisten.[14] Eine weiterhin funktionierende Botschaft galt nicht ausschließlich dem diplomatischen Prestige. Ferner sahen die Ministerien der DDR und die SED darin die Möglichkeit, am Wiederaufbau des Landes beteiligt zu werden sowie die langjährigen ökonomische Verbindungen abzusichern.
De jure galt Kraft Bumbel als verantwortlich für die Sicherheit der Botschaftsmitarbeiter*innen und DDR-Bürger*innen im Land am Hindukusch,[15] de facto rang er im ständigen Kontakt mit dem MfAA sowie den Geheimdiensten der DDR, der UdSSR und Afghanistans um die Sicherheit der Botschaft. In der Person des ‚Hauptamtlichen Sicherheitsbeauftragten‘ des MfS wird deutlich, wie sich die Präsenz der Geheimdienste zu einem Risiko für die Botschaft entwickeln konnte. In Berlin selbst wurde eingeschätzt, dass der MfS-Major „der am meisten gefährdete Mitarbeiter [ist]“, doch wurde eine Beendigung des Auslandseinsatzes vorerst abgelehnt. Bumbel telegrafierte seine Befürchtungen daraufhin zurück nach Berlin: Der Status der [diplomatischen] Immunität würde nach Einschätzung auch anderer Botschaftsleiter zwar respektiert, doch müsse mit einem gewaltsamen Eindringen und Geiselnahmen [auf dem Gelände der Botschaft] gerechnet werden. Der Botschafter bezog sich hierbei auf mögliche Aktionen der Opposition gegen Exponenten des Nadschibullah-Regimes in Kabul – als direkter Verbindungsoffizier zu den in Afghanistan operierenden Geheimdiensten war der MfS-Major nicht nur gefährdet, sondern stellte eine potentielle Gefahr für das diplomatische Personal da.[16]
Verfolgt man die Personalpolitik des Botschafters in den letzten Tagen vor dem offiziellen Abzug der sowjetischen Truppen, so etabliert sich die Vermutung einer „Entmilitarisierung“ der Botschaft. Der Diplomat forderte in den frühen Februar-Telegrammen nachdrücklich die Abreise militärischen und geheimdienstlichen Personals und erreichte ein Etappenziel: Der Botschaftsbetrieb wurde ab dem 6. Februar mit einer ausschließlich männlichen Minimalbesetzung von sieben Personen aufrechterhalten. Der Zeitpunkt stand gleichzeitig im Zusammenhang mit der Übergabe des militärischen Flugplatzes in Kabul von der UdSSR an die afghanischen Behörden – ein Ausfliegen der Mitarbeiter könne danach nicht mehr gewährleistet werden.[17]
Die Entscheidungen des Botschafters orientierten sich auch in diesen Tagen an den Konsultationen mit Amtskollegen – so hätten die tschechoslowakischen und bulgarischen Vertretungen vergleichbare Personalentscheidungen getroffen. Mit den sowjetischen Genossen wurde ferner abgestimmt, dass den verbliebenen Mitarbeitern eine Grundsicherheit garantiert werden könne. Zudem sollte weitmöglichst vermieden werden, dass afghanische Bürger*innen als Schutzsuchende auf das Botschaftsgelände vordringen und die Botschaft und ihre Mitarbeiter in zusätzliche Gefahr bringen könnten. Eine umfängliche „Asyl- und Schutzgewährung“ sei wider das Völkerrecht und gegen die Interessen der DDR, wie das MfAA argumentierte und schränkte die Möglichkeiten für afghanische Schutzsuchende daher ein. Es stand zu befürchten, dass eine Einnahme Kabuls vergleichbare Bilder erzeugen könnte, wie sie nach der US-amerikanischen Niederlage 1975 aus Saigon um die Welt gingen – die sozialistische Staatengemeinschaft versuchte, die Auswirkungen eines moralischen und militärischen Debakels zu minimieren. Einer allgemeinen „Schutzgewährung“ stand das MfAA dennoch verhalten positiv gegenüber.[18] Das Ministerium sah sich dem Artikel 23 der DDR-Verfassung (in der Version vom 9. April 1968) verpflichtet, da es in Betracht zu ziehen hatte, dass führende afghanische Genossen und Ortskräfte auf dem Gelände der Botschaft Schutz vor den Mudschahidin suchen könnten.[19]
Im Entwurf der Handlungsgrundlage vom Januar 1989 erscheinen zwei weitere Passagen aufschlussreich: jene zur bewaffneten Selbstverteidigung und zur sogenannten Schutzmachtfunktion. Der Vorlage konnte entnommen werden, dass die Frage einer Bewaffnung für die verbliebenen Botschaftsmitarbeiter noch unentschieden war. Handschriftlich war darüber hinaus angefügt worden, dass der Minister für Staatssicherheit über diese Frage zu entscheiden hätte, jedoch sei das MfAA gegen eine Bewaffnung.[20] Tatsächlich wurde diese Erwägung an der ostdeutschen Botschaft in Kabul diskutiert und aus Sicht der vor Ort agierenden Mitarbeiter strikt verworfen. Die Ablehnung entsprach wohl dem Ethos diplomatischer Arbeit, das Risiko für die Botschaft durch eine Bewaffnung nicht zu erhöhen. Des Weiteren wurde nachdrücklich missbilligt, auf das „Brudervolk“ schießen zu müssen. Diese Einschätzung fand die Unterstützung weiterer sozialistischen Botschaften, etwa jener Jugoslawiens.[21]
Bei allem positiven Entscheid für eine Aufrechterhaltung des diplomatischen Betriebs, blieb die Frage einer möglichen Evakuierung gerade nach dem 15. Februar 1989 weiterhin relevant. Interessanterweise setzte die DDR nicht ausschließlich auf Moskau, sondern erwog eine Übergabe der „Schutzmachtfunktion“ an die Genossen in Peking: Im Falle einer Evakuierung sei die Volksrepublik China zu ersuchen, „den Schutz des Eigentums der DDR in Kabul […] zu übernehmen.“[22] Die Volksrepublik stand den sowjetischen Interessen in Afghanistan von Beginn an skeptisch gegenüber und hatte die afghanische Opposition über die kurze gemeinsame Grenze mit Waffen versorgt. Besonders in der Frühphase des sowjetisch-afghanischen Konfliktes war China integraler Bestandteil sowjetischer Pressekampagnen und galt als Handlanger US-amerikanischer Interessen.[23] Dass die DDR in diesem Falle auf China und nicht die UdSSR setzte, verdeutlicht, wie gering der sowjetische Einfluss mittlerweile eingeschätzt wurde und wie sehr sich die politische Führung der DDR gleichwohl von einer Sowjetunion der Reformen distanzierte. Im Falle der DDR-Botschaft in Kabul kann zusätzlich auf ganz pragmatische Aspekte verwiesen werden: die Botschaft der Volksrepublik befand sich in unmittelbarer Nähe zur Botschaft der DDR.[24]
Anders als erwartet
Die Strategie, die Aufgaben der DDR-Botschaft in Krisensituationen auf die Kernfunktionen diplomatischer Arbeit zu beschränken, kann aus zeitgenössischer Betrachtung als hilfreich angesehen werden: Sie schützte Leben und sicherte die ostdeutsche Präsenz in Afghanistan. Auch wenn sich die schlimmsten Befürchtungen mit dem sowjetischen Truppenabzug nicht unmittelbar einstellten, blieb die Lage im Land am Hindukusch fragil. Kraft Bumbel attestierte in seinen Berichten an das MfAA gar eine Entspannung der Lage in Afghanistan: Die oppositionellen Gruppen hätten durch den Abzug des gemeinsamen Gegners ihren einigenden Rahmen verloren und sich in inneren Auseinandersetzungen zerstritten. Insgesamt würden die afghanischen Streitkräfte recht effektiv in militärischen Auseinandersetzungen mit der Opposition agieren.[25]
Schlussendlich blieben die weitreichenden sowjetischen Hilfslieferungen über den Abzugstermin hinaus der entscheidende mittelfristige Stabilisierungsfaktor für das Regime in Kabul. Neben einer Luftbrücke, in welcher täglich bis zu zwölf sowjetische Il’jušin Il-76 die afghanische Hauptstadt anflogen und mit Lebensmitteln versorgten, berichtete die ostdeutsche Botschaft von verstärkten Waffenlieferungen.[26] Aus Sicht des MfS hatte sich die Situation im Frühsommer 1989 sogar soweit entspannt, dass Generalmajor Prosetzky in seiner Funktion als stellvertretender Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) im Gespräch mit seinem afghanischen Amtskollegen den Neueinsatz eines MfS-Mitarbeiters an der Kabuler DDR-Botschaft für zweckmäßig hielt. Es wäre an der Zeit, erneut eine direkte Verbindung zum Ministerium für Staatssicherheit Afghanistans zu installieren.[27] Für das afghanische Regime war es wichtig, Handlungsfähigkeit auch ohne den sowjetischen Partner zu signalisieren sowie die eigene Position gegenüber der oppositionellen „Gegenregierung“ zu stärken. So telegrafierte der neue DDR-Botschafter Horst Lindner am 20. Juni des Jahres 1989, dass der militärische Sturz der aktuellen Führung in Kabul als kaum realistisch erscheine.[28] Tatsächlich überlebte das afghanische Regime bis zum April 1992 und damit auch die DDR. In den darauffolgenden Auseinandersetzungen wurde Kabul zu einem Brennpunkt des innerafghanischen Bürgerkriegs, in welchem weite Teile der bis dato verschonten Stadt zerstört wurden. Mohammed Nadschibullah selbst flüchtete auf das Gelände der UN-Repräsentanz in Kabul. Nachdem die fundamentalistischen Taliban die Stadt 1996 eingenommen und einen streng islamischen Staat ausgerufen hatten, wurde der ehemalige Präsident nach vierjährigem „Exil“ im Quartier der Vereinten Nationen ergriffen, ermordet und seine Leiche vor dem Präsidentenpalast (Arg) zur Schau gestellt.
[1] Information, MfS-HA II, 38966, Bl. 166, 19.01.1989.
[2] Gorbatschow, Michail: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Oktober 1985 – Juli 1986, Berlin/Ost 1987, S. 280.
[3] Die HA II war unter anderem für die Sicherung und Kontrolle der DDR-Botschaften und diplomatischen Vertretungen im Ausland verantwortlich. Ferner arbeitete sie mit den Geheimdiensten (pro-)sozialistischer Entwicklungsländer zusammen.
[4] Informationen 33048/8/88, MfS-HA II, 27383, Bl. 124, Februar 1988. Tatsächlich waren zu diesem Zeitpunkt schon mehr als 13.000 sowjetische Soldaten gefallen. [Stand: 23.12.2021].
[5] Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Maßnahmen zur Entwicklung der Zusammenarbeit der DDR mit der Demokratischen Republik Afghanistan, MfS-Sekr. D. Min, 2496, Bl. 57-64, 26.06.1978; Neues Deutschland, „Gespräch Erich Honeckers mit afghanischem Minister“, 23.01.1979, S. 1.
[6] Gespräch in der Botschaft der DDR, MfS-Abt. X, 843, Bl. 24f., 05.03.1987.
[7] Telegramm ct434/88, MfS-HA II, 27383, Bl. 142, 23.09.1988.
[8] Anwesenheit DDR-Bürger in der Republik Afghanistan/Kabul, PA AA M35 6146 90.
[9] Telegramm vvs-t-b7/124-36/88, MfS-HA II, 27383, Bl. 144f., 28.09.1988.
[10] Lageeinschätzung, MfS-ZAIG 6742, Bl. 79-81, 12.10.1988; Information, MfS-HA II, 38966, Bl. 164, 19.01.1989.
[11] Gesprächsmanuskript mit Thomas Ruttig, Archiv des Autors, 2021.
[12] Botschaft der DDR an das MfAA in Berlin, PA AA M 35 6143 90, 30.03.1989.
[13] Beratung der Sicherheitsmaßnahmen für Botschaft Kabul am 02.02.1989, PA AA M35 6146 90.
[14] Information, MfS-HA II, 38966, Bl. 164.
[15] Führungsstruktur des MfAA im Verteidigungszustand, MfS-HA II, 23704, Bl. 81-94, 30.01.1989.
[16] Telegramm ct38/89, MfS-HA II, 38965, Bl. 95, 23.01.1989. Der MfS-Major wurde zum 06.02.1989 aus Afghanistan abgezogen. Das Ministerium für Staatssicherheit Afghanistans versicherte, alles Notwendige zu tun, um die Sicherheit der DDR-Botschaft in Kabul zu gewährleisten. Aktenvermerk, MfS Abt. X, 843, Bl. 15f, 15.02.1989.
[17] Telegramm vvs-t-b7/124-03/89, MfS-HA II, 38965, Bl. 101, 01.02.1989.
[18] Information, MfS-HA II, Nr. 38966, Bl. 165.
[19] Ebd.; Der Artikel 23 der DDR-Verfassung verfügte unter anderem, dass jenen Personen Schutz zu gewähren sei, die „wegen ihrer Teilnahme am sozialen und nationalen Befreiungskampf verfolgt werden.“ [Stand: 23.12.2021].
[20] Information, MfS-HA II, Nr. 38966, Bl. 166.
[21] Gesprächsmanuskript mit Thomas Ruttig, Archiv des Autors, 2021.
[22] Information, MfS-HA II, Nr. 38966, Bl. 165.
[23] Mirschel, Markus: Bilderfronten. Die Visualisierung der sowjetischen Intervention in Afghanistan 1979–1989, Köln, Wien 2019, S. 206; 219f.
[24] Kabul Lageplan, VD MR 221/80, PA AA M 35 6147 90.
[25] Telegramm ct 92/89, MfS-HA II, 38965, Bl. 117, 26.02.1989.
[26] Telegramm ct 119/89, MfS-HA II, 38965, Bl. 123f, 19.03.1989; Pravda, „Na ulicach Kabula“, 27.03.1987, S. 4.
[27] Gesprächsvermerk, MfS-Abt. X, 843, Bl. 11, 05.06.1989.
[28] Telegramm ct 217/89, MfS-HA II, 27383, Bl. 201, 20.06.1989.
Krisendiplomatie am Ende der 1980er Jahre
Aus den Akten des MfS: Die DDR-Botschaft in Kabul 1988-89