Kontinuitäten: Verharmlosung der rechten Gewalt in der Bundesrepublik

„Politisch motivierte Gewaltakte, insbesondere Attentate und Anschläge, werden in den allermeisten Fällen vom vorgeschobenen Einzeltäter begangen. Von Caesar bis Sissi, von Lincoln bis Kennedy verschwinden die Strippenzieher in einem verklärenden Nebel, wird die Schuld auf einen einzelnen Täter, ein Bauernopfer, fokussiert., referiert Hans Langemann (gespielt von Heiner Lauterbach), Leiter der Abteilung Staatsschutz im Bayerischen Staatsministerium des Inneren, in den Anfangsszenen in der Polizeiakademie. Es folgt ein Schnitt, die Zuschauer sehen Ulrich Chaussy (Benno Fürmann), Journalist beim Bayerischen Rundfunk, und seine Frau Lise (Nicolette Krebitz) in ihrer Wohnung in München, aufgeschreckt von einem Knall. Es ist der Moment, an dem auf der Theresienwiese während Oktoberfestes eine Bombe explodiert.

Bei dem schwersten terroristischen Anschlag der bundesrepublikanischen Geschichte am 26. September 1980 sterben 13 Menschen, mehr als 200 werden zum Teil schwer verletzt. Unter den Toten befindet sich auch der mutmaßliche Attentäter, der 21-jährige Geologiestudent Gundolf Köhler.
Mit dem Spielfilm „Der blinde Fleck“ greift der Regisseur und Drehbuchautor Daniel Harrich die jahrzehntelangen Recherchen von Chaussy,[1] den er zum Protagonisten der Handlung macht, zu den Hintergründen des Oktoberfestattentats auf und nimmt dabei das Verhalten von Exekutive und Justiz im Umgang mit Rechtsextremismus und -terrorismus in den Fokus.
Harrich bereitet den Stoff vorwiegend in einem nüchternen, fast dokumentarischen Stil auf. Temporeiche Momente, wie eine Verfolgung Chaussys durch einen mysteriösen dunklen Wagen, bilden die Ausnahme. Ansonsten hält der Film die Spannung gerade dadurch aufrecht, dass er die Rechercheergebnisse Chaussys für sich sprechen und wirken lässt. Er zeichnet nach, wie der Journalist zusammen mit dem Opferanwalt Werner Dietrich (Jörg Hartmann) versucht, die Tatabläufe zu rekonstruieren, wie er Zeugen des Anschlags und Personen aus Köhlers privaten Umfeld interviewt und neue Spuren verfolgt. Angetrieben wird Chaussy dabei von Zweifeln an den offiziellen Ermittlungsergebnissen der bayerischen Ermittler der Sonderkommission „Theresienwiese“ und der Generalbundesanwaltschaft. Diese beschrieben Köhler als Alleintäter, der aus einer privaten Krise heraus die Bombe zündete. Die Infragestellung der Einzeltäterthese bildet den roten Faden des Films. Chaussy stößt im Verlauf der Handlung auf zahlreiche Ungereimtheiten: Warum etwa wurden Zeugenaussagen und Indizien nicht hinreichend berücksichtigt, die auf Unterstützer hindeuteten? Wie passt es zusammen, dass Bekannte aus Köhlers Heimatort Donaueschingen den Studenten als einen lebensbejahenden jungen Mann beschrieben, während die Ermittler ihn als depressiv, sexuell frustriert und sozial isoliert charakterisierten? Und vor allem: Warum wird in den Abschlussberichten die Möglichkeit einer politischen Motivation Köhlers vollständig ausgeschlossen?

Der Film liefert dafür die folgende Erklärung: Mit der Festlegung auf den unpolitischen Einzeltäter Köhler sollte von einer jahrelangen Verharmlosung der Gefahr von rechts durch bayerische Behörden abgelenkt werden. Denn Köhler hatte nachweislich Kontakte in das extrem rechte Milieu, nahm unter anderem an Übungen der Wehrsportgruppe Hoffmann (WSGH) teil. Bei der von dem Grafiker Karl-Heinz Hoffmann 1974 gegründeten Gruppe handelte es sich um die größte paramilitärische Organisation der westdeutschen Nachkriegsgeschichte; im rechtsextremen Spektrum war sie eng vernetzt. Ihren Tätigkeitsschwerpunkt hatte die WSGH im bayerischen Oberfranken. In den dortigen Wäldern führte die Gruppierung regelmäßig paramilitärische Übungen mit verlöteten Waffen und ausgedienten Bundeswehrfahrzeugen durch. Gemäß der Ideologie Hoffmanns sollte sie zu einer ‚Eliteeinheit‘ für eine spätere Machtübernahme aufgebaut werden. Dass diese politische Dimension von der bayerischen Exekutive ausgeblendet wurde und die Aktivitäten als bloßer ‚Wehrsport‘ betrachtet worden sind, wirkt demgegenüber bagatellisierend. Diesen Eindruck verstärkten Aussagen des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß – beispielsweise in seinem Kommentar zum Verbot der WSGH im Januar 1980 durch den Bundesinnenminister Gerhart Rudolf Baum, der auch im Film aufgegriffen wird: „Um sechs Uhr morgens schickt man 500 Polizisten los, um 20 Verrückte auszufragen. […] Mein Gott, wenn ein Mann sich vergnügen will, indem er am Sonntag auf dem Land mit einem Rucksack und einem mit Koppel geschlossenen ‚Battle Dress‘ spazieren geht, dann soll man ihn in Ruhe lassen.“[2]
Dass angesichts solcher Äußerungen eine rechtsterroristische Tat mit Verbindungen zur WSGH einen hohen politischen Schaden für die bayerische Regierung bedeutet hätte, liegt nahe. Inwiefern sich dies jedoch tatsächlich auf die konkrete Ermittlungsarbeit der Sonderkommission auswirkte, darüber kann nur spekuliert werden.[3] Auf der semi-fiktionalen Ebene des Films wird dies beispielsweise getan, wenn Langemann in einer Szene Einfluss auf die Zeugenbefragungen nimmt. Was der Film nicht leistet – und vermutlich auch nicht leisten kann –, ist eine Beleuchtung der Hintergründe der verharmlosenden Äußerungen zur WSGH. Eine mögliche Erklärung hierfür ist der zeitgenössisch relativ ausgeprägte Rechtskonservatismus in der CDU/CSU. Während ihrer mehrjährigen Oppositionszeit in der sozialliberalen Ära präsentierte sich die Unionspolitik „als politische Heimat aller Rechten“[4]. Rechtes Wählerpotenzial gegen die SPD/FDP-Koalition und deren ‚sozialistische Ostpolitik‘ sollte so mobilisiert werden. Indem sie hiermit auch zur Schwächung der NPD beitrugen, hatten rechtskonservative Orientierungen in der Programmatik der CDU/CSU einerseits einen stabilisierenden Effekt für das parlamentarische System. Andererseits förderten sie eine Verwischung der Grenze zu rechtsextremen Politikvorstellungen sowie – qua Integration ultrarechter Ideen – eine Verharmlosung und zugleich Bestärkung der extremen Rechten.[5]

Der Film sieht einen ‚blinden Fleck‘ im Umgang mit Rechtsextremismus jedoch nicht nur bei bayerischen Sicherheitsbehörden und Exekutivorganen, sondern auch bei der Justiz in Form der Generalbundesanwaltschaft. Dass der Film dabei darauf verzichtet, eine Antwort auf alle Fragen – etwa warum Generalbundesanwalt Kurt Rebmann trotz neuer Indizien Mitte der 1980er Jahre am Einzeltäter Köhler festhielt – zu präsentieren, sondern vielmehr dem Zuschauer ein Sammelsurium an Puzzleteilen und Widersprüchlichkeiten aufzeigt, schadet ihm nicht. Es macht ihn, im Gegenteil, glaubwürdiger. Damit spiegelt er auch die Position des realen Ulrich Chaussy wider, der als Co-Autor am Drehbuch mitgearbeitet hat. In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur fasst er zusammen: „Es gibt für mich auch jede Menge ungelöste Fragen.“[6] In diesem Sinne stellt der Film vor allem eine, in Chaussys Worten, „Parade der verpassten Chancen“[7] dar. Dazu zählt unter anderem die Vernichtung von Asservaten im Jahr 1997 – möglicherweise hätten die heutigen kriminaltechnischen Methoden neue Hinweise auf etwaige Mittäter liefern können.
In solchen Punkten liegen Parallelen zum Verhalten der Behörden bei der Aufklärung der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Diese Analogie zieht auch der Film. Dabei steht die These im Raum, dass der NSU-Terror womöglich hätte (eher) unterbunden werden können, wenn die rechtsterroristischen Strukturen in den 1970er und 1980er Jahren besser aufgearbeitet worden wären. Eine solche Konjunktiv-Geschichtsschreibung ist immer schwierig, da sie der Kontingenz und Komplexität historischer Entwicklungen nicht wirklich gerecht wird. Doch klar ist, dass die Festschreibung der Einzeltäterthese im Abschlussbericht der Generalbundesanwaltschaft 1982 ein bequemes Ergebnis darstellte. Bequem in der Hinsicht, dass Köhler im Zuge seiner Pathologisierung aus der ‚normalen‘ Gesellschaft exkludiert wurde und dass durch den Ausschluss einer politisch motivierten Gruppentat die Auseinandersetzung mit möglicherweise tiefer liegenden Strukturen nicht notwendig schien. Potenzial für Anschlussdiskussionen bietet der Film, wenn der fiktive Chaussy mit den Worten schließt: „Damals, 1980, waren die weitgehend gleichen Mechanismen des Wegschauens, des Ausblendens, des nicht wahrhaben Wollens bereits voll entwickelt, die wir jetzt im Fall NSU mit Erschrecken und Scham erkennen.“

 

„Der blinde Fleck“ , Deutschland 2013, Regie: Daniel Harrich.
Der Film läuft seit dem 23. Januar 2014 in den deutschen Kinos.
Ab 13. Mai 2014 ist die DVD erhältlich.

Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de

Das Buch von Ulrich Chaussy "Oktoberfest: ein Attentat" erschien erstmals 1985 im Luchterhand Verlag.
               

 

 

[1] Zeitgleich mit dem Film ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung von Chaussys Buch zum Oktoberfestattentat erschienen, vgl. Ulrich Chaussy, Oktoberfest. Das Attentat. Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann, Berlin 2014.
[2] Zitat aus einem Interview von Strauß im März 1980 mit dem Bonner Korrespondenten des französischen Fernsehsenders TF 1, Bernhard Volker, zitiert nach Hermann Vinke, Mit zweierlei Maß. Die deutsche Reaktion auf den Terror von rechts. Eine Dokumentation, Reinbek 1981, S. 25.
[3] Nähere Aussagen dazu können eventuell demnächst von Werner Dietrich getroffen werden. Der Anwalt hat seit Ende Januar 2014 Einsicht in die bisher nicht zugänglichen Spurenakten des Bayerischen Landeskriminalamts. Neben der Suche nach neuen Hinweisen sichtet er die Akten auch dahingehend, wie ergebnisoffen ermittelt wurde, vgl. Florian Fuchs, Fragen über Fragen, in: Süddeutsche.de vom 22.01.2014.
[4] Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Bonn 2010, S. 78 (Hervorhebung im Original).
[5] Vgl. Rainer Erb / Michael Kohlstruck, Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 282-285, S. 283; Werner Link, Die CDU/CSU-Fraktion und die neue Ostpolitik – in den Phasen der Regierungsverantwortung und der Opposition, 1966-1975, Bonn 2010, S. 115-140, S. 139; Hajo Funke, Rechtsextremismus in Deutschland, in: Holger Spöhr / Sarah Kolls (Hrsg.): Rechtsextremismus in Deutschland und Europa. Aktuelle Entwicklungstendenzen im Vergleich, Frankfurt am Main 2010, S. 61-78, S. 67f.
[6] Verdrängte Bedrohung von rechts. Ulrich Chaussy über seinen Film "Der blinde Fleck". Interview von Susanne Burg mit Chaussy für Deutschlandradio Kultur am 19.01.2014, nachzulesen online unter: (13.02.2014).
[7] Ebd.


 

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Kontinuitäten: Verharmlosung der rechten Gewalt in der Bundesrepublik

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"Der blinde Fleck" von Daniel Harrich im Kino

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