Ein langer Weg

Das Gespräch vom 17. März des Jahres 1982 zwischen der Bundesregierung unter Beteiligung des Kanzlers Helmut Schmidt und dem Zentralrat der Sinti und Roma Deutschlands gilt in der Medienberichterstattung und in weiten Teilen der Wissenschaft als „die“ offizielle Anerkennung der Verfolgung von Sinti und Roma unter der Herrschaft der Nationalsozialisten durch die Bundesrepublik.[1] Im Fokus meines Forschungsvorhabens steht die Frage nach dem Prozess, der der Anerkennung des Leids und der Opfer der Sinti und Roma im Verlauf der NS-Zeit voranging, und was in den 1980er Jahren eigentlich anerkannt wurde; auf politischer, symbolischer, begrifflicher und erinnerungskultureller Ebene. Die Reflexion des Begriffs der Anerkennung ist daher Ausgangspunkt meiner Untersuchung. Der Begriff Anerkennung lässt sich definieren als personenbezogene Beziehung, die Verhältnisse zu anderen strukturiert und dadurch Verpflichtungen entstehen lässt.[2] Diese Verpflichtungen waren im Jahr 1979, dem Jahr der Übergabe eines Forderungskatalogs der sich gerade entwickelnden Organisationen der Sinti und Roma an die Bundesregierung erst an ihrem Anfang. Zu Beginn der 1980er Jahre ging es nicht nur um eine Anerkennung finanzieller Entschädigungen. Der Zentralrat der Sinti und Roma verknüpfte in seinen Bemühungen um die Anerkennung der Sinti und Roma als Genozidopfer auch eine Bestätigung als eine seit Jahrhunderten in Deutschland lebende, wenn auch marginalisiert lebende Gruppe, was schließlich erst im Jahr 1995 mit der Anerkennung als nationale Minderheit gelang. Und selbst dies gelang nur durch die Unterzeichnung des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten durch die Bundesrepublik.

 

„Zigeunerexperten" Über den sprachlichen Umgang mit der Gruppe der Sinti und Roma

Als die Verbände der Sinti und Roma zu Beginn der 1980er Jahre damit begannen sich zu organisieren, ging es in den Debatten innerhalb und außerhalb dieser neuen Organisationen vor allem um die Begriffe „Völkermord“, „Roma/Sinti“, „nationale Minderheit“ und schließlich auch um die Bezeichnung „Zigeuner“. Die Bundesregierung war dabei einerseits Akteur, versuchte gleichzeitig aber auch diese Debatten zu lenken. In der Folge verloren die alten „Zigeunerexperten“ ihre Deutungshoheit, die spätestens 1982 an die Verbände der Sinti und Roma ging. Meine Untersuchung ist als Beitrag zur Diskursgeschichte zu verstehen, eine Analyse, die sich mit den Debatten um die Geschichte der Sinti und Roma in der Bundesrepublik und ihrer damit verbundenen Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes beschäftigt. Dazu gehört die Aufdeckung formaler und inhaltlicher Strukturen, was nach Achim Landwehr eines der Kernanliegen von Diskursanalysen ist.[3] Ein wichtiger Aspekt dabei ist der Austausch des Begriffs des „Zigeuners“ durch den der „Sinti und Roma“ im Verlauf der Debatten der 1980er Jahre.[4] Die „alten“ „Zigeunerexperten“ um den Medizinalrat Hermann Arnold[5], einem der anerkannten „Zigeunerexperten“ der frühen Bundesrepublik, beharrten auf dem „Zigeuner“-Begriff und unterstellten den Verbänden und WissenschaftlerInnen eine unwissenschaftliche Arbeitsweise und Geschichtsklitterung.[6] Zudem behauptete Arnold wiederholt, die Verbände der Sinti und Roma und deren wichtigster Unterstützer, die Gesellschaft für bedrohte Völker mit Sitz in Göttingen, wären kommunistisch oder gar aus der DDR unterwandert.[7] Quellenfunde aus der Stasiunterlagenbehörde belegen jedoch relativ klar das genaue Gegenteil.[8] Außerdem traten immer wieder heftige Konflikte zwischen Verbandsvertretern, Wissenschaftsbetrieb und politischen Entscheidungsträgern zu Tage.[9]

 

Die Verweigerung der Minderheitenschutzrechte für die Sinti und Roma in den 1980er Jahren

Vor dem Hintergrund finanzieller Forderungen nach individueller und kollektiver Entschädigung wurde das Vorhaben der politischen Anerkennung durch die Bundesregierung vorab juristisch sehr genau geprüft. Nach dem eingangs erwähnten offiziellen Zusammentreffen wurde eine Formulierung in der Presseerklärung am 17. März 1982 gewählt, die keine weiteren finanziellen Ansprüche nach sich ziehen konnte. Das Bundesministerium der Justiz vertrat die Auffassung, dass die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus bereits seit dem Bundesentschädigungs-Schlussgesetz aus dem Jahr 1965 juristisch als Völkermord behandelt werde.[10] Der in der Fachwissenschaft geführte Diskurs, ob das Verbrechen an den als „Zigeuner“ verfolgten Sinti und Roma als „Völkermord“ zu bewerten sei, spielte daher in der Auseinandersetzung um Entschädigungszahlungen zwischen Bundesregierung und Zentralrat der Sinti und Roma kaum eine Rolle, anders als in der späteren Berliner Opferdenkmalsdebatte. Besonders ablehnend war die Bundesregierung gegenüber der Forderung der Verbände auf Zahlung einer Globalentschädigung, analog der an Israel und der Jewish Claims Conference getätigten Zahlungen. Auch die Forderung, als nationale Minderheit anerkannt zu werden, wurde im Jahr 1982 abgelehnt. Diese Anerkennung sei beschränkt auf – so hieß es – „Fälle der Inkongruenz der Staatsgebiete mit den angestammten Siedlungsgebieten verschiedener Völker“.[11] Dies läge bei den Sinti und Roma nicht vor, da sie kein Staatsgebiet besäßen. Die damalige Einschätzung der Regierung bestritt somit weiterhin, dass Sinti und Roma seit Jahrhunderten sesshaft auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland lebten. Ein internes Papier des Bundesinnenministeriums, das diese Position legitimieren sollte, ging noch weiter: „Wenn der Sonderstatus einer nationalen Minderheit auch später zuwandernden fremden Volksgruppen gewährt wird, so bedeutet das die Einleitung einer Entwicklung zum Vielvölkerstaat. Anderen Gruppen, insbesondere etwa den zahlenmäßig weitaus stärkeren Türken, könnte man das gleiche nicht verwehren.“[12] Diese Formulierung offenbart die staatliche Strategie, die einheitliche Ethnizität des deutschen Volkes zu wahren, so absurd dies auch sein mochte.

 

Die Rolle der Geschichtswissenschaft im Anerkennungsprozess

Die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich nach Kriegsende kaum mit der NS-Verfolgung von Sinti und Roma beschäftigt, obwohl bereits im 1946 erschienenen „SS-Staat“ von Eugen Kogon diese Opfergruppe explizit benannt wurde.[13] Bemerkenswert ist außerdem die Tatsache, dass Kogon keinen Zweifel an den rassistisch begründeten Intentionen der Täter ließ, was in den folgenden Jahren wenig Beachtung innerhalb der Geschichtswissenschaften fand. So wurde von Fachvertretern in der Regel der „kriminalpräventive“ Charakter der (Verfolgungs-)„Maßnahmen“ hervorgehoben.[14] Die Forschungen in der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre hinein beschreibt der Schriftsteller Reimar Gilsenbach so: „Die wenigen Ergebnisse, die […] publiziert worden sind, stammen durchweg aus privaten Instituten und Vereinigungen, ihre Autoren sind in der Regel Außenseiter, Nichthistoriker, oder, wenn Historiker, dann solche ohne Lehrstuhl.“[15] Diese Einschätzung hat bis heute an Gültigkeit kaum verloren, auch wenn es in den letzten zwei Jahrzehnten einschlägige Veröffentlichungen gab.[16] Jüngste Arbeiten behandeln in erster Linie die Erinnerungspolitik im Zusammenhang mit den Sinti und Roma in der Bundesrepublik.[17] Die Auswirkungen auf die Überlebenden stehen nur ansatzweise im Fokus der Forschung.[18] Bei der Vielzahl der Veröffentlichungen zu den Themen Erinnerungspolitik und „Wiedergutmachung“ fällt immer wieder auf, dass Quellenbestände aus den Archiven bisher kaum herangezogen wurden. Das von mir bearbeitete Forschungsdesiderat beschäftigt sich deshalb auch mit der Frage, welche Hemmschwellen überwunden werden mussten, um die Fragestellungen zu diesem Thema auszuweiten. Die Diskussionen um die Forderungen der Verbände innerhalb der verantwortlichen Bundesbehörden offenbaren, wie die Verbände[19] in der Bundesrepublik wahrgenommen und bewertet wurden und wie mit den NS-Opfern dieser Gruppe umgegangen wurde.

 

 


[1] Zur Genese des Gesprächs ist bereits folgende Vorstudie erschienen, vgl. Lotto-Kusche, Sebastian: Spannungsfelder im Vorfeld der Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma. Das Gespräch zwischen dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland am 17. März 1982, in: Marco Brenneisen u.a. (Hrsg.): Stigmatisierung - Marginalisierung - Verfolgung. Beiträge zum 19. Workshop zur Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Berlin 2015, S. 224-244.

[2] Vgl. Sandkühler, Hans-Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 2010, S. 91–95. Hier geht es auch darum, als einzelnes Opfer Empathie von der Gesellschaft einzufordern, vgl. Günther, Klaus: Ein Modell legitimen Scheiterns. Der Kampf um Anerkennung als Opfer, in: Axel Honneth/Ophelia Lindemann/Stephan Voswinkel (Hrsg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart, Frankfurt/New York, S. 185-247, hier S. 241.

[3] Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, 2. Auflage, Frankfurt/New York 2009, S. 16.

[4] Vgl. Lotto-Kusche, Sebastian: Politische Anerkennung der Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Untersuchung anhand des Wandels in der Sprachpraxis staatlicher Stellen, in: Heidrun Kämper/ Daniel Schmidt-Brücken/ Ingo Warnke (Hrsg.): Textuelle Historizität. Interdisziplinäre Perspektiven auf das historische Apriori, Berlin/Boston 2016, S. 247-260.

[5] Vgl. Fings, Karola; Sparing, Frank: Vertuscht, verleugnet, versteckt. Akten zur NS-Verfolgung von Sinti und Roma, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 12 (1995), S. 181-201, hier S. 184.

[6] Vgl. Arnold, Hermann: Die NS-Zigeunerverfolgung. Ihre Ausdeutung und Ausbeutung, Aschaffenburg 1989; Arnold Hermann: „Sinti und Roma“. Von der Zigeunertragödie zur Politkomödie, Landau 1999.

[7] Vgl. Archiv des Zentralrats der Sinti und Roma, Bestand „Tandler“, H. Arnold an das Bayerische Staatsministerium des Innern, 02. 04. 1980.

[8] Im Bestand MfS-ZAIG 28201 findet sich eine Vorlage für den Genossen Minister, datiert auf den 23.11.1984, in der die Gesellschaft für bedrohte Völker als gegnerische Organisation qualifiziert wird, unter anderem mit der Begründung: Die GfbV entwickelt „[…] massive antisowjetische und antisozialistische Aktivitäten“. In der Folgezeit werden auch nachrichtendienstliche Methoden gegen die GfbV angewendet.

[9] Dies zeigt sich besonders deutlich in einem abgebrochenen DFG-Forschungsprojekt, was die NS-Verfolgungserfahrungen von Überlebenden erforschen sollte; vgl. Micha Brumlik, Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung, München 2000, S. 191-195.  Auch gab es Konflikte um den Spitzenkandidaten der Grünen zur Europawahl 1989 Rudko Kawczynski, ein Roma-Aktivist, der in Konflikt mit dem Zentralrat der Sinti und Roma geriet; vgl. Braun, rot oder grün, in: Der Spiegel Nr. 23/1989, S. 35.

[10] Vgl. Bundesarchiv (BArch) B 126/111850, Anlage zum Schreiben von Bundesministerin Antje Huber zur Vorbereitung des Gesprächs des Herrn Bundeskanzlers mit Vertretern der Sinti und Roma, Anlage zum Schreiben vom 11. 1. 1982, S. 2.

[11] BArch B 136-28310, Gesprächsvorbereitungen für den 17. 3. 1982 zur Forderung 5.

[12] BArch B 106/94701, Schreiben des Bundesministers des Innern vom 1. 9. 1982 an den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, S.  2.

[13] Vgl. Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der Deutschen Konzentrationslager, Frankfurt a. Main 1946, S. 14.

[14] Vgl. etwa Döring, Hans-Joachim: Die Motive der Zigeuner-Deportation vom Mai 1940, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959) Heft 4, S. 418-428; Hans-Joachim Döring, Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat, Hamburg 1964; einzig Hans Buchheim betont die rassistische Intention, leider ebenfalls ohne große Beachtung: Buchheim, Hans: Die Zigeunerdeportation vom Mai 1940, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 1, München 1958, S. 51-61.

[15] Gilsenbach, Reimar: Wer wußte was? Wer will nichts wissen? – Wie die Deutschen ihre Verbrechen gegen Sinti und Roma, insbesondere den Völkermord in Auschwitz-Birkenau, aus ihrer Erinnerung verdrängt haben, in: Wacław Długoborski (Hrsg.): Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau 1943-44. Vor dem Hintergrund ihrer Verfolgung unter der Naziherrschaft, Oświęcim 1998, S. 91.

[16] Vgl. Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996; Margalit, Gilad: Die Nachkriegsdeutschen und „ihre Zigeuner“. Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz, Berlin 2000. Ein Überblick über neuere Arbeiten: Fings, Karola: Neuere Literatur zur NS-Verfolgung von Sinti und Roma und zur Produktion von ,Zigeuner‘-Stereotypen, in: Neue Politische Literatur, 2015 (1), Seite 27-52.

[17] Vgl. Robel, Yvonne: Verhandlungssache Genozid. Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe (Reihe Genozid und Gedächtnis), Paderborn 2013; Meyer, Gabi: Offizielles Erinnern und die Situation der Sinti und Roma in Deutschland. Der nationalsozialistische Völkermord in den parlamentarischen Debatten des Deutschen Bundestages, Wiesbaden 2013; Peritore, Silvio: Geteilte Verantwortung? Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma in der deutschen Erinnerungspolitik und in Ausstellungen zum Holocaust, Hannover 2012 und Feyen, Martin: Wie die Juden? Verfolgte Zigeuner zwischen Bürokratie und Symbolpolitik, in: José Brunner/Norbert Frei/Constantin Goschler (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009, S. 323–355; Knesebeck, Julia: The Roma Struggle for Compensation in Post-War Germany, Hertfordshire 2011.

[18] Vgl. Urban, Susanne (u.a.) (Hrsg.): Fundstücke. Entwurzelt im eigenen Land. Deutsche Sinti und Roma nach 1945, Göttingen 2015; Reuss, Anja: Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015.

[19] Zu den Verbänden der Sinti und Roma ist eine Dissertation von Daniela Gress in Arbeit. Erste Ergebnisse vgl. Gress, Daniela: The beginnings of the Sinti und Roma Civil Rights Movement in the Federal Republic of Germany, in: Jan Selling u.a. (Hrsg.): Antiziganism. What`s in a Word?, Cambridge 2015, S. 48-60.

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