Fragen über Fragen

Berlin, 7. April 2020. Die Bundesforschungsministerin Anja Karliczek und der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein treten vor die Presse und verkünden ein groß angelegtes Forschungsprogramm: „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“. Zu verorten ist diese neue Förderlinie innerhalb des im letzten Jahr gestarteten, geistes- und sozialwissenschaftlichen Rahmenprogramms „Gesellschaft verstehen – Zukunft gestalten“ des Ministeriums. Über vier Jahre, von 2021 bis 2025, sollen 12 Millionen Euro ausgeschüttet werden, und das sowohl für die Grundlagen- als auch die anwendungsorientierte Antisemitismusforschung. Ein wesentliches Ziel besteht darin, die „häufig unverbundene“ Forschung disziplinär und standortübergreifend zu vernetzen. Entsprechend werden keine Einzelvorhaben, sondern vielmehr Forschungsverbünde gefördert. Zusätzlich ist ein sogenanntes Metavorhaben vorgesehen, das die einzelnen Verbünde miteinander verzahnen und so Kohäsion und Kohärenz herstellen soll.


An dieser Stelle soll es nun nicht um die Inhalte des Programms gehen, nicht um die Sinnhaftigkeit und Praktikabilität (interdisziplinärer) Verbundforschung, auch nicht um das Ausmaß, in dem die detaillierten Antragsrichtlinien forschungslenkend wirken können. Das Augenmerk wird stattdessen darauf gerichtet werden, wie die neue Förderlinie auf besagter Pressekonferenz präsentiert wurde. Es waren nur knapp 15 Minuten, in denen zunächst Karliczek und dann Klein darlegten, weshalb das Forschungsprogramm nötig und folglich aufgelegt worden sei. Dabei reihte sich sowohl in ihren Eingangsstatements als auch in der anschließenden, knapp zehnminütigen Frage- und Antwortrunde eine unglückliche Formulierung an die nächste, folgten verfängliche Metaphern auf schiefe Vergleiche und den einen oder anderen Fauxpas. Es braucht nicht viel, um angesichts dieses Auftritts ins Grübeln zu kommen ob des Verständnisses, das vom Phänomen des Antisemitismus und der Rolle der Wissenschaft zu bestehen scheint.

 

Die Natur des Antisemitismus

Als ein erstes Verhängnis der Pressekonferenz kann das Bemühen gelten, die Antisemitismus-Thematik mit der aktuellen Corona-Lage zu verknüpfen. Gleich zu Anfang ihres Statements sprach die Ministerin etwa davon, dass es „inakzeptabel“ und „abscheulich“ sei, die Pandemie für antisemitische Verschwörungstheorien zu „missbrauchen“ – benötige man „in diesen Tagen“ doch „mehr als jemals zuvor“ den „Respekt vor den anderen, Solidarität und Toleranz“. Soll das etwa bedeuten, könnte man Karliczek spitz entgegenhalten, dass verschwörungsgläubige Antisemiten sich für ihr Treiben einen passenderen Zeitpunkt hätten aussuchen sollen als ausgerechnet jetzt? Stellt Antisemitismus also in erster Linie eine niederträchtige Sabotage der Bemühungen dar, Corona einzudämmen? Auch Klein verfing sich in einer Corona-Referenz, indem er das Bild vom Antisemitismus als „Virus“ als aufschlussreich herausstellte und es sich zu eigen machte: Antisemitismus sei ansteckend und könne unwillentlich weitergeben werden, er stelle keineswegs nur für Juden eine Bedrohung dar, sondern für alle. Nicht zuletzt könne er tödlich sein. Ist diese im Kern apologetische Auffassung wirklich die Überzeugung des Antisemitismus-Beauftragten? Judenfeindschaft kein über Jahrhunderte kulturell tradiertes und individuell adaptiertes Welterklärungsmuster, sondern eine von außen hereinbrechende Naturgewalt, der man praktisch schutzlos ausgeliefert ist?


Solche Äußerungen sind offensichtlich nicht nur dem selbst auferlegten Zwang geschuldet, Bezüge zur aktuellen Lage herzustellen, sondern auch dem Rahmenprogramm „Gesellschaft verstehen – Zukunft gestalten“, in das die Förderlinie zum Antisemitismus argumentativ einzupassen war. Ein ums andere Mal platzierten Karliczek wie Klein die Signalwörter des Programms, in dessen Rahmen in Kürze auch ein „Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt“ errichtet werden wird: Es gehe darum, der drohenden „Spaltung der Gesellschaft“ entgegenzuwirken, oder, positiv formuliert, den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zu bewahren. Damit bemühten sie sich, auf der Basis einer voraussetzungsreichen politischen Agenda ein (ergebnis)offenes wissenschaftliches Programm zu begründen. Die sich auftuenden Widersprüche blieben außen vor, sich aufdrängende Fragen blieben ungestellt. Etwa diejenige, ob es den beschworenen Zusammenhalt überhaupt jemals gab, und wenn ja, wie man ihn sich vorzustellen hat. Und wie sieht es mit den gemeinschafts- und zusammenhaltstiftenden Mechanismen des Antisemitismus aus, die bereits angesichts einer vagen Vorstellung „vom Juden“ wirken können – ohne dass ein Ausschluss vollzogen werden müsste? Doch setzt das Wort vom „Ausschluss“ schon etwas Weiteres voraus, das keineswegs als gegeben angenommen werden kann: dass die deutsche Gesellschaft die deutschen Juden (oder deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens) als Teil von ihr betrachtet.

 

Forschung und ihr Zweck

Irritierend auch, wie Wissenschaft wahrgenommen zu werden scheint. Praktisch kein Wort fiel über die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung in Deutschland und aller Welt, geschweige denn zu ihrem aktuellen Stand. Stattdessen vermittelte insbesondere Karliczek die Botschaft, es gebe einen grundsätzlichen Mangel an „evidenzbasiertem Wissen“. Deshalb würden, so die Ministerin, die „neuen Forschungsverbünde“ nun „vorgestellt“, mit denen „wir“ Disziplinen und Forschungsfelder enger miteinander vernetzen, Einzelstudien zusammenführen, Forschungsansätze und Methoden miteinander verknüpfen „werden“. Eine erstaunliche Aussage, selbst wenn man die ministeriellen Profilierungs- und Selbstrechtfertigungslogiken in Rechnung stellt. Denn wenn die angesprochenen Forschungseinrichtungen die Förderbedingungen nicht akzeptieren, sie sich nicht zusammentun und keine gemeinsamen Anträge erarbeiten, wenn sich kein Institut dazu bereit findet, ein Konzept für das sogenannte Metavorhaben zu erstellen und es auch zu stemmen, wird nichts, aber auch gar nichts, von all dem geschehen, was die Ministerin hier für ihr Haus in Anspruch und bereits als gegeben vorwegnahm. Verwechselte Karliczek die im ministeriellen Zugriff liegende Ressortforschung etwa mit der akademischen und außeruniversitären Forschung?


Auch der promovierte Jurist Klein offenbarte eine befremdliche Auffassung von der Natur und der Rolle der Wissenschaft. Er bedauerte, dass in der Antisemitismusforschung in „vielen Aspekten“ kein Konsens bestehe und verlieh seiner Freude Ausdruck, dass dem nun entgegengewirkt und die unterschiedlichen Erkenntnisse „zusammengebracht“ werden sollten. Eine erstaunliche Erwartungshaltung: Wissenschaft soll also eine Konsensveranstaltung sein, einmütige „Ergebnisse“ gelten als wünschenswert. Ein ähnlich gelagertes Verständnis von Antisemitismusforschung als Politikberatung spricht auch aus den Förderrichtlinien, die sogar für Projekte der Grundlagenforschung als „wünschenswert“ ausweisen, „politik- und praxisrelevante Handlungsempfehlungen“ zu liefern. Tut es wirklich Not, die unweigerlich in hohem Maße politischen Forschungsprojekte noch zusätzlich mit derartigen Anforderungen zu überfrachten? Überhaupt wäre zu fragen, inwiefern die neue Förderlinie in ihrer Anwendungsfixierung ablenkt von dem, was sich als politisches Umsetzungsdefizit bezeichnen ließe. Anders gesagt: Wir wissen längst genug über den ebenso beständigen wie sich stets wandelnden Antisemitismus, um gegen ihn vorzugehen – hierfür muss man nicht erst auf die Ergebnisse der avisierten Forschungsprojekte warten.

 

Bedeutung und Tragweite

Was nun mit diesem merkwürdigen Auftritt Karliczeks und Kleins anfangen? Freilich lässt sich beschwichtigend anmerken, dass diese Präsentation nicht überbewertet werden sollte. Auch politische Verantwortungsträger*innen sind schließlich fehlbar und selbst verunglückte Pressekonferenzen stellen sich meist als folgenlos heraus und sind in kürzester Zeit wieder vergessen – wenn sie überhaupt je Aufmerksamkeit erregten. Zumal, so kann weiter eingewendet werden, es ja letztlich auf das Forschungsprogramm selbst ankommt, oder vielmehr auf das, was die Wissenschaftler*innen daraus machen werden. Auf der anderen Seite: Sollte man die zwei höchstrangigen Repräsentant*innen der Bundesregierung für die Themen Forschung und Antisemitismus nicht ernst nehmen, wenn sie sich zum Kern ihres jeweiligen Zuständigkeitsbereichs äußern – noch dazu, wenn sie ihre Statements nicht unvorbereitet aus dem Ärmel schütteln, sondern vom Blatt ablesen? Sind nicht Fragen zu stellen, wie etwa diejenige, warum es ausgerechnet beim Thema Antisemitismus an Sensibilität, Sorgfalt und, ja, auch am entscheidenden Wissen fehlt? Oder ob es wirklich keine Auswirkungen auf die Forschung und ihre Ergebnisse hat, wenn die Wissenschaft von ihren Geldgebern als Dienstleistungsbetrieb begriffen wird?


Diese Pressekonferenz wirft eine Reihe nicht einfach zu beantwortender Fragen auf, die über ihren konkreten Anlass und speziellen Gegenstand weit hinausweisen. Als Politiker*innen wie als Wissenschaftler*innen täten wir gut daran, ihnen nicht auszuweichen.


 

Dieser Text wurde Anfang Mai 2020 abgeschlossen.


 

Video-Aufzeichnung der Pressekonferenz (07.04.2020)

Pressemitteilung (07.04.2020)

Förderrichtlinien „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“ (07.04.2020)

Rahmenprogramm „Gesellschaft verstehen – Zukunft gestalten“

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Antisemitismusforschung als politisches Projekt

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