Seit 2007 wird auf der Konferenz re:publica alljährlich darüber diskutiert wie eine zukünftige Gesellschaft digital gestaltet werden kann, wie eine effiziente und gerechtere Netzpolitik betrieben und wie Weblogs und sozialen Medien in diesem Sinne agieren können.
Die erste re:publica hatte 700 Besucher*innen, damals reichte noch die Kalkscheune in Berlin Mitte als Veranstaltungsort. Als die Konferenz nach zweijähriger Pause im Juni 2022 wieder (analog) in der Arena Berlin und im Festsaal Kreuzberg stattfand, kamen 22.000 Besucher*innen. In diesem Jahr waren es 25.000 Besucher*innen die die Hallen der Arena vom 5. bis zum 7. Juni füllten. Mittlerweile gab es re:publica Konferenzen in Dublin, Thessaloniki und Accra, im September wird im Rahmen des Reeperbahn-Festivals ein kleinerer Ableger der Konferenz in Hamburg stattfinden. Organisiert wird die re:publica von den Betreiber*innen der beiden deutschen Blogs Spreeblick und Netzpolitik.org, die für die Veranstaltung 2021 die republica GmbH gegründet haben, gefördert wird sie durch das medienboard Berlin-Brandenburg, die Bundeszentrale für politische Bildung und etliche Sponsor*innen.
An den drei Tagen fanden sich also auch in diesem Jahr auf Podiumsdiskussionen, in Workshops und Vorträgen prominente und weniger prominente Speaker*innen aus vielen Bereichen der Gesellschaft und diskutierten vor allem eines: „Möglichkeiten“.
Ein paar aktuelle Zahlen der Mammut-Konferenz, die in der Abschlussveranstaltung am Mittwochabend bekanntgegeben wurden: Es gab 608 Sessions mit insgesamt 1177 Sprecher*innen aus 79 Ländern, der Frauenanteil der Sprecher*innen betrug 58% (Männer 38,8%; Non-binär 2,59%). An den drei Tagen der Konferenz kamen 25.000 Besucher*innen, auch hier lag der Frauenanteil über 50% und: täglich waren über 6000 verschiedene Geräte am Netz. Bisher sind 92 Sessions abrufbar auf Youtube, ebenso wie die jeweils ganztägigen Mitschnitte der großen Hauptbühne (Stage 1).
Das Thema der diesjährigen re:publica lautete Cash. Das komplette Programm der Konferenz war so erschlagend wie der erste Eindruck am Tag der Ankunft. Die Haupthalle, ausgestattet mit zwei großen Bühnen, ARD, Arte und ZDF-Präsenz (die permanent umlagert waren) und vielen vielen Ständen von Unternehmen, parteinahen Stiftungen, Banken, Bundesinstituten, Senatsverwaltung, Deutschlandfunk….und…und…und. Es summte und brummte, aus allen Ecken: Applaus, die Stimmen der Speaker*innen, Begrüßungsrituale auf laut gedreht. Die exzellent ausgestattete re:publica bot dafür allerdings ausgefeilte technische Lösungen: Kopfhörer (es waren genügend da für alle) mit denen man sich egal an welcher Stelle im Raum in die einzelnen Veranstaltungen einschalten konnte. Die Podiumsgäste auf der Hauptbühne wurden simultan ins Englische übersetzt, der Prompter lief beständig. W-Lan bis in den letzten Winkel und noch aus der allerletzten Reihe war es möglich den QR-Code schräg von der Leinwand zu scannen, um an Publikumsabstimmungen- oder Umfragen teilzunehmen.
Alle wollen cool sein, Christian Lindner gelingt es wieder nicht…
Dass die politische Elite des Landes diese Tagung ernst nahm wurde an ihrer Präsenz auf den Podien deutlich. In diesem Jahr waren es Christian Lindner, Volker Wissing, Malu Dreyer und Robert Habeck, die auf den Bühnen standen. Die Atmosphäre war nahbar, das Publikum mittelalt, nahezu durchweg weiß, in der politischen Haltung sehr homogen, so wurde etwa Christian Lindner für seine konservative und neoliberale Finanzpolitik ausgebuht, während die Atmosphäre bei Robert Habecks Auftritt eher kuschelig war. Das lag nicht an den grundstürzenden Analysen Habecks („wir haben ein Gerechtigkeitsproblem in Deutschland“), oder seinen brillanten und neuen Ideen („ich habe ja nichts gegen Geld, ich bin ja Wirtschaftsminister“), sondern am Wohlfühlfaktor mit dem sich Habeck und das Publikum trafen.
Habeck vertrat die Politprominenz am letzten Tag der Konferenz. Die Zeit wurde überzogen, da am Ende des Podiumsgespräches eine Diskussionsrunde eröffnet wurde, mit der dezidierten Aufforderung des Moderators, dass doch die Fragen bitte von Gästen unter dreißig kommen sollen. Kurz stockte die Community, dann fand sich schließlich ein Siebzehnjähriger, der fragte, wie es denn nun für seine Generation angesichts des Klimawandels und diverser anderer globaler Krisen weitergehen solle.
Und hier zeigte sich ein Problem, das zumindest ich, an jedem der drei Tage wahrnahm: Es wurden auf nahezu allen Podien wichtige, gesellschaftlich relevante Fragen gestellt. Fragen nach dem Umgang mit Antisemitismus, Rassismus, Misogynie, nach den Möglichkeiten feministischer Digitalstrategien, nach Folgen des Bodyshaming im Netz, nach Altersarmut, Vermögensungleichheiten, russischen Trollen u.v.m. Wobei die Digitalisierung der Verwaltung, Digitale Lehr- und Lernmethoden und natürlich die Macht und die Wege des Geldes im Mittelpunkt standen. Ohne Frage alles Themen, die dringend diskutiert werden müssen und zwar mit allen Bürger*innen und vor allem aber mit jenen, die beispielsweise von Vermögensungleichheiten am meisten betroffen sind. Die Antworten bzw. Angebote der Speaker*innen bewegten sich dabei jedoch oft im allgemeinverträglich Ungefähren: Digitalstrategien müssen nachhaltig sein, dabei müssen Hürden überwunden, Räume geschaffen und Akteur*innen zusammengebracht werden. Kaum jemand wird diese Vorschläge in Frage stellen, aber wie viele Menschen außerhalb der Arena sich davon inspirieren lassen, steht in Frage. Was dagegen nicht in Frage stand war die Existenz der kapitalistischen Gesellschaft, nur eben umverteilt müsse (ein wenig) werden.
Wir bekämpfen einander (im Netz) und die anderen werden von Woche zu Woche stärker, es wird enger und enger und enger
Trotz der allgemeinen Wohlfühlatmosphäre gab es Momente, die sich einschrieben, die innehalten ließen und den warmen Goodwill der Community kurz einfroren. Wenn etwa die Schriftstellerin und Kolumnistin Jagoda Marinić und der Pianist Igor Levit im Panel „Freiheit und Position“ miteinander über ihre Erfahrungen mit Antisemitismus und Rassismus sprachen. Am ersten Tag der Konferenz waren die neuen Umfragewerte der AfD bekannt geworden, sie lagen bei 19%. In einer daraus folgenden (theoretischen) Sitzverteilung hätte sie damit 130 Sitze, genauso viele, wie die SPD. Levit sprach über seine Erfahrungen auf Twitter und über die Sinnlosigkeit, die er empfand beim Kommunizieren in der Bubble. Er sprach darüber wie er und all seine Follower*innen sich gegenseitig immerzu bestärken in ihrer Haltung gegen Rechts…kurz: sich EINIG sind.
Und dennoch: Woche für Woche so Levit, wird die AfD stärker. Wir hingegen bewegen uns in abrufbaren aber eben auch abgeschlossenen Protestformen und „das hat überhaupt nicht funktioniert“. Er riet dazu, mal einen Schritt zurückzugehen, auszutreten aus der „Bubble“ und darüber nachzudenken, warum unser Protest gegen Rechte einfach nicht funktioniert hat, „irgendetwas machen wir doch falsch, wir erreichen offensichtlich nicht genug Menschen“. Ein Tweet und sei er noch so scharf formuliert ist eben kein ernstzunehmender Protest. Marinić erklärt entsprechend, „wir haben uns in den letzten Jahren ein wenig im popkulturellen Aktivismus verheddert“, man sprach immer zu denselben Menschen und zitierte Zadie Smith „activism is not your Twitter…“. Wie viele von denen, die tausende Follower*innen haben, fragte Marinić, sind wirklich rausgegangen in Ortsvereine, zur freiwilligen Feuerwehr in Gemeindeversammlungen, dahin also, wo es nicht so glamourös und popkulturell ist. Wer war bereit in die analoge Welt zu gehen, wo eben nicht die schönen Instagram-Bilder entstehen, dafür aber viele Rechte sind.
Spannend wurde es immer dann, wenn die Analyse, die Zahlen, die Ereignisse geprüft und erschütternd waren und sich die Welt dennoch wie gewohnt weiterdrehte. So berichtet etwa Constanze Kurz, u.a. Sprecherin des Chaos Computer-Clubs und promovierte Informatikerin, über die Konsequenzen, die die politischen Eliten in Deutschland in den zehn Jahren seit den Snowden-Leaks gezogen, oder besser nicht gezogen haben. Bis heute, so Kurz, sei die Überwachung maßlos, hat der Fall Snowden keinerlei Folgen für die westlichen Geheimdienste.[1] Ähnliches konstatierten die Teilnehmer*innen des Panels „Frau, Leben, Freiheit/ Jin, Jiyan, Azadi“ mit Gilda Sahebi und Natalie Amiri. Es sind die Kinder der Revolutionsgarden, die das Land verlassen können, weil sie die nötigen Mittel dazu haben. Die Mehrzahl der Iraner*innen sind weiterhin Willkür, Tod und Folter ausgesetzt. Die politische Elite in Deutschland starrt hingegen seit zehn Jahre paralysiert auf das Atomwaffenabkommen, während an jedem sechsten Tag ein Mensch hingerichtet wird. Und dennoch, so Natalie Amiri kann die Zivilgesellschaft in Deutschland den Druck auf die Regierung erhöhen, aber sie sollte es auch tun und sich nicht der Resignation und dem ewigen „das ist nicht unser Konflikt“ hingeben.
Ich betrachte Geschichte als Zukunftswissenschaft!
Im Anschluss an Habecks Auftritt sprach die wahrscheinlich einzige Historikerin/Kunsthistorikerin auf dieser Konferenz und sie hatte es sehr schwer. Bénédicte Savoy musste zusehen, wie ihr Hunderte der Besucher*innen den Rücken zudrehten und den Raum verließen. Mit Habeck schienen offenbar alle zu gehen. Mit der ihr eigenen Freundlichkeit, der Leidenschaft, die sie für Ihr Thema hegt und einem Visual History-Vortrag par excellence gelang es ihr jedoch den Raum zu füllen und all die Prominenzmüden zum Zuhören zu bewegen.[2]
Savoy erklärte zudem mit der allergrößten Selbstverständlichkeit warum sie sich mit ihrem Thema, dass schließlich bis in die frühe Neuzeit zurückreichte auf einer Konferenz befinde, die sich um Fragen der digitalen (Zukunfts-)Gesellschaft dreht: „Ich betrachte Geschichte als Zukunftswissenschaft“.
Aber wo waren all die anderen Historiker*innen. Es ist ja nicht (mehr) so, dass uns Digitalisierungsstrategien und damit verbundenen Zukunftsprojekte fremd sind. Es gibt innerhalb des VHD eine ganze Arbeitsgruppe (Digitale Geschichtswissenschaft) dazu, der Bund gibt viel Geld aus für Projekte des Konsortiums NFDIfor memory, dass die Digitale Zukunft der Vergangenheit organisieren und Strategien für eine faire Datenkultur erarbeiten soll. Digitale Infrastrukturen der Geisteswissenschaften werden zwar langsam aber sukzessive aufgebaut und es gibt das Versprechen, diese zu verstetigen. Zur Geschichte der Computerisierung der Geheimdienste, der Verwaltungen, Banken und der Industriearbeit gibt es exzellente Forschungsarbeiten von klugen Kolleg*innen. Seit dem Angriffskrieg Russlands haben sich viele Historiker*innen in die öffentlichen Debatten eingemischt.
Es gäbe also genug Gründe für Zeithistoriker*innen sich auf der re:publica umzuschauen, noch besser sich einzubringen. Nicht nur, weil die Forschungsfragen, mit denen sich die Zeitgeschichte in der Zukunft u.a. beschäftigen wird, hier verhandelt werden[3], sondern auch weil wir uns an den aktuellen Diskursen stärker beteiligen sollten. Davon würde schließlich, um es mit Levit zu formulieren, unsere „Bubble“ profitieren, aber wir könnten auch zeigen, dass Vieles was auf der größten deutschen Digital-Konferenz derzeit diskutiert wird, so neu gar nicht ist.
[1] Der Vortrag von Constanze Kurz ist auf der Seite von Netzpolotik.org abrufbar: Zehn Jahre Snowden, den Geheimdiensten endlich Grenzen setzen, vom 6.6.2023 (zuletzt: am 7. Juni 2023)
[2] Der Vortrag von Bénédicte Savoy zum Thema: Von Gold, Kunst, Kulturgütern und deren Restitution ist auf dem Youtube-Kanal der re:publica nachzuhören
[3] So war etwa eines der Themen, mit denen sich die Zeitgeschichte bereits beschäftigt: „Die Medien“ und der Osten: Was läuft schief in den deutschen Medien? Von Mandy Tröger (am 6.6. um 18.00 Uhr)
Kuscheln in der Trödelhalle: re:publica 2023
Die digitale Gesellschaft spricht, hört zu und diskutiert vom 5. bis zum 7. Juni in Berlin