„Bis zu diesem Sommer wusste ich nicht, dass meine Familie so groß ist“

Wenn Svetlana Tichanovskaja bei ihrem Auftritt vor den EU-Außenminister*innen in Brüssel am 21. September 2020 sagt: „The Belarus the world has not seen before“, frage ich mich: Hat die Welt Belarus davor überhaupt gesehen? Ich blicke auf eigene Erfahrungen zurück, oft konnten die an meiner Herkunft interessierten Gesprächspartner*innen mit dem Namen „Belarus“ nichts anfangen. In den meisten Fällen bedurfte es einer weiteren Erklärung: Weißrussland. Auch damit konnte man nicht viel assoziieren, wenngleich der Wortteil „Russland“ immerhin eine geographische Orientierung gab. Gleichzeitig wurden wir, Belarus*innen in Deutschland, häufig nicht nur mit der Unkenntnis über Belarus, sondern auch mit einem offensichtlichen, beinahe an Arroganz grenzenden Desinteresse an dem Land konfrontiert. Die Gründe dafür sind vielfältig, ein wesentlicher ist, die durch den Kalten Krieg bedingte Blindheit für Regionen im Osten. 

So war auch Belarus lange Zeit für die Welt unsichtbar.

 

Zwischen zwei Seelen

Was ist also Belarus und warum sollten die dortigen Ereignisse die Menschen hier in Deutschland etwas angehen?

Um die erste Frage zu beantworten, haben wir mit anderen in Deutschland lebenden Belarus*innen bereits vor 15 Jahren eine Erklärungsformel gefunden, die auch zu einem „Insider-Witz“ geworden ist: „Das ist so ein Land, das zwischen Russland und Polen liegt“.

Geopolitisch wird Belarus als ein Raum zwischen der EU und Russland eingeordnet, kulturell und zivilgesellschaftlich – zwischen Ost und West, die Religion betreffend – zwischen Katholizismus und Orthodoxie, nachdem das Judentum im Zweiten Weltkrieg fast vollkommen ausgelöscht wurde. Auch in der zeitlichen Dimension schien Belarus in einem Dazwischen-Zustand gefangen zu sein: Einerseits – modernes High Tech Land mit einem hochentwickelten IT-Sektor, andererseits – „Reservat des Sozialismus“ mit all den Merkmalen der spätsowjetischen Epoche. Selbst sprachlich ist man in Belarus dazwischen: Während sowohl Russisch als auch Belarusisch Amtssprachen sind und im öffentlichen Raum Russisch dominiert, benutzt die Mehrheit im Alltag allerdings Trasjanka – eine Mischform aus den  beiden Sprachen.

Der belarusischen Schriftsteller Maxim Harezki erklärte bereits des Anfangs 20. Jahrhunderts, dass Belarus*innen „Zwei Seelen“[1] innewohnen, welche durch Widersprüchlichkeiten geprägt sind. Zudem würde ich ergänzen wollen, dass auch das „Dazwischen“ im belarusischen Charakter einen festen Platz hat.

Lange Zeit wurde dieses „Dazwischensein“ als ein Problem für die Nationsbildung angesehen. Was dabei auch von der belarusischen national orientierten Opposition übersehen wurde ist, dass viele – wenn nicht die meisten – Belarus*innen sich ausgerechnet über das Konzept des „Dazwischenseins“ identifizieren.

Ich wage zu behaupten, dass die Idee des „Entweder/Oder“ Belarus*innen eher fremd ist.  „Sowohl/als auch“  und „Weder/noch“ stoßen bei ihnen auf viel größere Resonanz. Das spiegelt sich zum Beispiel in den Aussagen der Demonstrierenden zur geopolitischen Ausrichtung der aktuellen Proteste wider und wird durch eine vom Chatam House durchgeführte soziologische Untersuchung bestätigt: Während ca. 40 % der Befragten sich für eine Union mit der EU und Russland zugleich aussprechen, würden ca. 23 % jegliche Bildung eines geopolitischen Blocks vermeiden.[2] Die Ambivalenz der Antworten zeigt jedoch, dass die Menschen nicht wollen, dass Belarus als Arena von Kämpfen der Großmächte benutzt wird, viel mehr sehen sie ihr Land als Brücke zwischen Russland und der EU. Auch Svetlana Tichanovskaja erscheint dieses Konzept als ein modernes und progressives Zukunftsmodell.[3]

 

Aus dem Schatten der Abwesenheit treten

Lange Zeit waren die Belarus*innen nicht nur für die Welt unsichtbar, es schien, als ob sie sich selbst nicht bewusst waren, wer und was sie sind. Diese schwach ausgebildete – oder gar fehlende – (nationale) Identität war laut der provokanten These des belarusischen Philosophen Valjancin Akudowitsch durch den „Abwesenheitscode“[4] ersetzt.

Einer Theorie des Politikwissenschaftlers Benedict Anderson zufolge, erfanden sich moderne Nationen als „imaginierte Gemeinschaften“. Die belarusische Gesellschaft tat sich lange Zeit schwer mit einer Einigung über seine Gründungsmythen. Während das offizielle Narrativ um den „Großen Vaterländischen Krieg“ und die besondere Rolle von Belarus als Partisanenrepublik kreiste, stellte die belarusische Opposition das mittelalterliche Staatsgebilde des Großfürstentums Litauen als das goldene Zeitalter der belarusischen Geschichte in den Mittelpunkt ihres Diskurses. Der Mehrheit der Bevölkerung von Belarus fiel es jedoch schwer, sich für eines der Narrative zu entscheiden. Schließlich entwickelte man multiple Identitäten jenseits jeglicher Einordnungen beziehungsweise wurden inklusive Identitäten herausgebildet, die sowohl das Großfürstentum Litauen als auch den „Großen Vaterländischen Krieg“ ohne weiteres integrierten.

Das Bestreben des Lukaschenko-Regimes, das Land über eine neosowjetische Ideologie zu definieren, fand nicht viele Anhänger*innen, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung sich dem nicht aktiv widersetzte und sich eher konform verhielt. Die Konformität der Vielen verdankt sich der Tatsache, dass der Gegenentwurf eines Ethnonationalismus, den die belarusische Opposition anbot, bei den Belarus*innen kaum Zuspruch erfuhr. Eine „verspätete Nation“ nannten viele Forscher*innen, die sich mit der Nationsbildung in Belarus beschäftigten, die Belarus*innen.

Die national orientierte belarussische Opposition kämpfte seit 1996 für das Comeback der von Lukaschenko verbannten nationalen Symbole – Pahonja-Wappen und weiß-rot-weiße Fahne, die sich auf das Großfürstentum Litauen und auf die 1918 kurzzeitig existierende Belarussische Volksrepublik bezogen. Was dieser Oppositionsbewegung während all der Jahre nicht gelungen war, sprießt momentan geradezu aus dem Boden: das weiß-rot-weiße Meer überall auf den belarussischen Straßen, vor den Augen der ganzen Welt. Was wie ein Wunder erscheint ist natürlich keines. Die Bemühungen der belarussischen Opposition waren nicht umsonst und auch die breiten gesellschaftlichen Grasroot-Initiativen des letzten Jahrzehntes – kulturelle, künstlerische, ökologische, feministische und viele andere – tragen Früchte und werden jetzt erst sichtbar. Was in Belarus gerade geschieht, ist die Herausbildung und Konsolidierung einer staatsbürgerlichen Nation. Dabei stellen die Belarus*innen verwundert fest: Ich bin da, ich existiere und ich bin nicht allein.

Die ewige Aufforderung der Belarus*innen, ausformuliert vom Dichter Janka Kupala (1882 bis 1942), „Ludz’mi zvacca / Menschen genannt zu werden“, was meint als Mensch gesehen und wahrgenommen zu werden – wird jetzt laut im ganzen Land gefordert.

 

Revolution des Sichtbarwerdens

Das Sichtbarwerden auf verschiedenen Ebenen ist eines der wichtigen Motive der belarusischen Revolution 2020. Die Belarus*innen sehen sich selbst. Dies ist eine Geschichte des Self-Empowerments. Die Belarus*innen sehen einander. Nicht nur die Masse von Menschen auf den Straßen, die wöchentlich zu den großen Protesten geht. Viel wichtiger ist, dass die Menschen sich in ihren nahen Nachbarschaften kennen und schätzen lernen, miteinander kommunizieren und über gemeinsame Bedürfnisse, Probleme und über Lösungswege diskutieren können. Jeden Abend treffen sich Menschen, die einander nicht kannten, in den Höfen ihrer Wohnkomplexe und veranstalten kleine Feste und Konzerte, singen und tanzen zusammen. Man staunt über die Spontanität, mit der diese Verbindungen und Netzwerke entstanden. Aber auch hier: was zunächst wie ein Wunder erscheint, hat eine lange Tradition, die in den Jahrzehnten der totalitären und autoritären (Fremd-)Herrschaften zwar verdrängt, aber nicht komplett vergessen wurde.
Hramada, oder Volksversammlung, ist eine den Belarus*innen eigene Form der Selbstverwaltung, die jetzt aus den Tiefen der kollektiven Erinnerung aufersteht und die Basis für die zukünftige, vielfältige und an den wichtigsten Entscheidungsprozessen beteiligte Zivilgesellschaft bilden wird. Diese Sichtbarkeit der Belarus*innen füreinander und ihr Gemeinschaftsgefühl wurde sehr schön in einem der Protestplakate zusammengefasst:
„Bis zu diesem Sommer wusste ich nicht, dass meine Familie so groß ist“.

Auch die Belarus*innen außerhalb ihrer Heimat lernen sich kennen und werden füreinander sichtbar. Was die Belarus*innen im Ausland von den anderen Diasporen unterschied, ist die Tatsache, dass es keine richtige belarusische Diaspora gab. Die Ereignisse des Sommers 2020 brachten aber viele Belarus*innen auf die Straßen in ihren jeweiligen Wahlheimaten und vereinigten sie. So entstand in Deutschland der Verein „Razam e.V.“. Es gibt außerdem Initiativen zur Vereinigung belarusischer Diasporen weltweit. Am 31.10.2020 fand ein World Congress of Belarusians statt.[5].

Das belarusische Regime ist gezwungen, das eigene Volk zu sehen, auch wenn es gerade das Gegenteil beweist. Der autokratische Staat hat diesem Volk 26 Jahre lang jegliche Eigenständigkeit abgesprochen und ist jetzt gezwungen, das Volk zu sehen und es als Subjekt wahrzunehmen, wenn auch widerwillig.

Und schließlich sieht auch die Welt Belarus*innen. Heute muss ich in Deutschland niemandem mehr erklären, wo Belarus liegt, inzwischen blickt man voller Verwunderung, Erstaunen und Faszination auf dieses Land. Warum jetzt? Aus meiner Sicht kann diese Frage nicht mit geo- oder realpolitischen Argumentationen beantwortet werden. Ich glaube, dass die belarusische Revolution wie ein Atemzug voll frischer Luft für Europa und die westliche Welt ist. Der Kampf um die demokratischen Werte findet gerade im Osten Europas statt, dem Osten, den der Westen so lange übersehen hat. Belarus erzeugt gegenwärtig viele positive kreative Energien, die auch Westeuropäer*innen stärken und Tendenzen einer Spaltung entgegenwirken können. 
Dies ist nicht nur eine Geschichte des Self-Empowerments der Belarus*innen. Dies kann auch eine Geschichte des Empowerments  für Europa werden, eines Europas, das sich als eine Wertegemeinschaft definiert.

 


[1] Zwei Seelen / Maxim Harezki. Aus dem Weißruss. von Norbert Randow.  Berlin : Guggolz 2014.

[2] What Belarusians Think About Their Country’s Crisi / Ryhor Astapenia_ 21.10.2020.

[3] Siehe ihre Rede vor der Französischen Nationalversammlung am 07.10.2020.

[4] Der Abwesenheitscode : Versuch, Weißrussland zu verstehen / Valentin Akudowitsch. Aus dem Russ. von Volker Weichsel. Berlin : Suhrkamp 2013

[5] World Congress of Belarusians.

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„Bis zu diesem Sommer wusste ich nicht, dass meine Familie so groß ist“

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Alle Augen sind auf Belarus gerichtet

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