Wer für das Jahr 2018 erwartet hatte, in Tschechien und der Slowakei ein Feuerwerk historischer Erinnerung zu erleben – immerhin jähren sich in diesem „Jahr der Achten“ die Staatsgründung der Tschechoslowakei, das Abkommen von München, die kommunistische Machtübernahme und der Prager Frühling –, wird enttäuscht sein. Es gibt einige Ausstellungen mit Bildern vom August 1968, Brünn feierte im Frühjahr das Jahr 1918 mit dem bemerkenswerten Slogan „Lasst uns wieder zusammen sein“ (Buďme zase spolu), in den Kinos läuft ein Film über Alexander Dubček, aber das war´s dann weitgehend auch schon. Demgegenüber wurde der 700. Geburtstag von Karl IV. vor zwei Jahren deutlich intensiver und prominenter gefeiert.
Hier Geschichtsvergessenheit zu vermuten, scheint nahezuliegen, doch widerspräche diese These den zahllosen mutigen, innovativen, witzigen und schmerzhaften oder zuweilen auch schlicht am Kommerz interessierten Darstellungen von Vergangenem in den letzten Jahren. In bewährten ebenso wie in neuartigen Formaten wie Comics, Fernsehserien, Spielfilmen, Videospielen und literarischen Texten wird Geschichte erarbeitet. Zugleich aber schlagen Medien immer wieder Alarm: Bei Umfragen zeigen sich erschreckend viele Jugendliche – und auch Erwachsene – hilflos und desinteressiert, wenn sie mit Daten wie dem 21. August 1968 (dem Tag der Invasion, die den Prager Frühling beendete) oder dem 28. Oktober 1918 (dem Tag der Staatsgründung der Tschechoslowakei) konfrontiert werden. Womit also haben wir es hier zu tun? Mit geschichtsvergessenen Ignoranten oder mit historisch interessierten Nationen? Haben „die Tschechen“ und „die Slowaken“ denn etwa „ihren“ Frühling vergessen, dieses eine Datum, mit dem „wir“ „sie“ doch so gern in Verbindung bringen? Diese Frage ist in ihrer Pauschalität natürlich viel zu simpel formuliert und so keinesfalls zu beantworten. Aber sie weist vielleicht darauf hin, wie sehr sich Selbst- und Fremdbilder unterscheiden können, wie unterschiedlich historische Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven interpretiert werden und wie sehr sie zur Klischeebildung beitragen können. Besonders deutlich wird dies tatsächlich am Beispiel des „Prager Frühlings“ und seiner Niederschlagung. Häufig werden aus deutscher und nordamerikanischer Perspektive der „Prager Frühling“ mit dem Datum der Invasion Ende August gleichgesetzt, oft verknüpfen Autoren bekannte Fotografien vorschnell mit vollkommen falschen Angaben, immer wieder werden Personen und Ereignisse miteinander verbunden, die nur wenig miteinander zu tun hatten (besonders beliebt: Václav Havel als angeblich zentraler Aktivist des Prager Frühlings).
Die wenigen Texte, welche Zeitgeschichte-online hier versammelt, können dieses Problem selbstverständlich nicht lösen. Für eine aktuelle, kluge und differenzierte Darstellung der Ereignisse von 1968 sei die neue Publikation von Martin Schulze Wessel empfohlen.[1] Hier kann es nur darum gehen, einige wenige Schlaglichter zu werfen: auf die Entwicklungen während der 1960er Jahre und damit die Vorgeschichte von Reformbewegung und Niederschlagung sowie auf die aktuellen Debatten in der Tschechischen Republik. Die AutorInnen zeigen, was wohl das wichtigste verbindende Element zwischen 1968 und 2018 bildet: die Unbequemlichkeit. Denn lässt man die Klischees beiseite, dann lässt sich das Jahr 1968 nicht so leicht in die Schubladen von „gut“ und „böse“ einordnen, wie wir es oft gern hätten.
[1] Schulze Wessel, Martin: Der Prager Frühling. Aufbruch in einer neue Welt , Stuttgart: Reclam 2018.
Der Prager Frühling nach 50 Jahren