Oft wird behauptet, der Prager Frühling sei nicht durch die Parteiführung von oben in Gang gesetzt worden, sondern durch die Intellektuellen des Landes, also eher von unten. Anders als in Ungarn 1956, in Polen 1980-81 oder die Perestroika in der UdSSR seit Mitte der 1980er Jahre, so die These, sei der Prager Frühling durch kritische WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen initiiert worden. Es ist wichtig, dieses Narrativ, nach dem es vor allem die kreativen Köpfe waren, die die Macht herausgefordert haben, in einem größeren Kontext zu betrachten.
Zwar wurde im Verlauf der stalinistischen Aufbauphase der 1950er Jahre in der Tschechoslowakei hauptsächlich die Arbeiterklasse gefördert, gleichzeitig verbesserten sich jedoch auch Status und materieller Wohlstand vieler Intellektueller, vor allem der SchriftstellerInnen.
Das künstlerische Schaffen wurde in hohem Maße durch die kommunistische Regierung gefördert: durch Stipendien, finanziell unabhängigere Verlagshäuser, Zeitschriften, günstige Kredite oder sogenannte „Schriftstellerheime”. Durch die materielle Autonomie, die den SchriftstellerInnen zugebilligt wurde, gestaltete sich ihre Beziehung zum Staat komplizierter, als es das Klischee des „Transmissionsriemens“ nahelegt. Der Tschechoslowakische Schriftstellerverband als wichtigste Dachorganisation für AutorInnen setzte sich beispielsweise häufig für die Existenz von SchriftstellerInnen ein, die bei den staatlichen Autoritäten in Ungnade gefallen waren, indem er ihnen Schutz gewährte. Offene Konfrontationen gab es vor dem Prager Frühling im Jahr 1968 daher selten.
Obwohl andere Kunstformen und besonders das Kino zunehmend an Bedeutung gewannen, genossen die SchriftstellerInnen und ihre jeweiligen Interpretationen des Zeitgeschehens eine ungeheure öffentliche Aufmerksamkeit. Dies gilt insbesondere für die 1960er Jahre und vor allem für die Zeit nach der Lockerung der Zensur. Man denke nur an den beispiellosen Einfluss der Literární listy. Diese tschechische intellektuelle Wochenzeitschrift erreichte im Jahr 1968 eine Auflage von rund 300.000 Exemplaren in einer Nation von weniger als zehn Millionen EinwohnerInnen (in der Slowakei existierte eine ähnliche Zeitschrift: Kultúrny život).
Ironischerweise hatte die Wertschätzung der Literatur und ihre besondere Position ihre Ursprünge der Aufwertung des gedruckten Wortes durch Stalin zu verdanken. Schließlich hatte Stalin seine maßgeblichen ideologischen Entscheidungen durch Bücher, Artikel und „Leserbriefe” verbreitet. Das außerordentlich starke Interesse an Literatur in den 1960er Jahren war daher auch eine Folge stalinistischer Ideologie- und Politikvermittlung.
Der Hunger nach Büchern in breiten Teilen der Gesellschaft kommt schließlich in wichtigen Editionsprojekten zum Ausdruck, die in der Öffentlichkeit viel Beachtung fanden. Besonders wichtig war etwa die 1963 erschienene tschechische Ausgabe von Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, die unmittelbar nach Erscheinen ein Verkaufserfolg wurde. Eine ähnliche Sensation war die Publikation des slowakischen Romans Verspätete Reportagen von Ladislav Mňačkos (1963) und Milan Kunderas Der Scherz (1967). In beiden Romanen stellen die Autoren die Rolle des Menschen als Schöpfer ihrer Geschichte vehement in Frage.
Die Zerstörung des monumentalen Stalin-Denkmals in Prag im Jahr 1962 markierte symbolisch die zweite Entstalinisierungswelle nach dem XXII. Parteitag der KPdSU. Erst im Anschluss daran begann die kulturelle Szene und auch die jüngere Schriftstellergeneration eine kritische Agenda zu entwickeln. Zeitschriften mit starker Ausrichtung auf westliche intellektuelle und künstlerische Strömungen florierten in dieser Zeit. Literarische Ereignisse lösten Debatten aus und verstärkten das Interesse der LeserInnen. Die Kafka-Konferenz in Liblice 1963[1] war in dieser Hinsicht ein Höhepunkt, denn das Werk Franz Kafkas wurde für eine marxistische Analyse zugänglich gemacht. Zudem folgte ein Besuch Jean-Paul Sartres in Prag im Herbst 1963. Die Führung der KPT wollte von nun an die Bereiche Kultur und Kunst weniger stark kontrollieren. Man zielte vielmehr darauf ab, dem Westen die Fähigkeit der tschechischen Gesellschaft zur Moderne zu präsentieren. Dafür wurde Kunst als Aushängeschild für einen progressiven Sozialismus genutzt.
Kultur spielte nicht nur für die Öffnung zum Westen und für den Nachweis zunehmender Freiheiten eine Rolle, sondern auch im Rahmen einer kritischen Retrospektive der Vergangenheit. Die SchriftstellerInnen forderten weniger Pathos, dafür mehr psychologische Ansätze, weniger schematischen Heroismus, stattdessen die Berücksichtigung von Alltagsproblemen. In der Lyrik entwickelten sich neue Formen, die das reale Leben reflektierten und die keine Triumphgesänge mehr waren. Die DichterInnen vollzogen eine Bewegung weg von der historischen Epoche hin zum Menschen, weg von der großen Geschichte hin zum Alltag, weg von einer kollektiven Zukunft hin zur individuellen Vergangenheit.
Eines der zentralen Themen war schließlich der Tod als Reflexion poststalinistischer Trauer sowie die Tendenz, eher der Opfer zu gedenken, als die Helden zu feiern.
Auch die Belletristik wandte sich von der großen Gesamtschau ab. Viele Werke verfolgten einen analytischen Ansatz, der sich auf Konfliktsituationen im Alltagsleben konzentrierte. Auf formaler Ebene wich der große Roman nun Erzählungen und Kurzgeschichten. Die SchriftstellerInnen befassten sich nicht mehr mit politischen Kämpfen, sondern mit schwierigen moralischen Dilemmata in der sozialistischen Gesellschaft und übertrugen den sozialen Konflikt in die Innenwelt des Helden.
Während politische Großprojekte existenziellen Themen Platz machten, veränderten sich auch die HeldInnen, die komplizierter und innerlich zerrissener waren und nicht länger die Geschichte gestalteten. Es entwickelte sich eine Vorliebe für Figuren, die vom Hegelianischen Prozess ausgeschlossen waren: AußenseiterInnen, Underdogs und die Erniedrigten. Insbesondere lassen sich vermehrt jüdische und Roma-ProtagonistInnen beobachten.
Auch im Theaterschaffen brachte das Tauwetter der 1960er Jahre Veränderungen. Überwog bisher die Darstellung schematisch gezeichneter Widersprüche, was typisch für die Phase des Stalinismus war, folgten nun lyrische und auf Introspektion der HeldInnen bedachte Szenen im Sinne Tschechows. Dieser Ansatz trug dazu bei, zentrale Narrative in Theaterstücken zu demontieren. Inspiriert von zeitgenössischen westlichen Avantgarde-Stücken, entwickelten die DramatikerInnen ein sehr tschechisches absurdes Drama, wie man es in Václav Havels Stücken Das Gartenfest (1963) und Das Memorandum (1965) verkörpert findet. Havel und andere griffen die kafkaeske Darstellung stumpfsinniger Bürokratie und vollkommen entfremdeter Individuen auf und verbanden dies mit den zentralen Forderungen der aktuellen politischen Kritik.
Das Theaterleben in der Tschechoslowakei wurde von großen Ereignissen geprägt, bei denen Kunst und Politik aufeinandertrafen. Eines der bedeutendsten war die Aufführung von Friedrich Dürrenmatts Die Wiedertäufer im März 1968, einer Parabel über Glaube und Täuschung, über politischen Fanatismus und intriganten Zynismus.
Die tschechoslowakischen Filmemacher entfernten sich ebenfalls von der Darstellung historischer Großereignisse und ideologischer Vorgaben und stellten individuelle Erfahrungen in den Mittelpunkt. Häufig ging es um elementare menschliche Probleme mit all den damit verbundenen komischen, manchmal Mitgefühl erregenden und zum Teil unbeschreiblichen Phänomenen. Die jungen FilmemacherInnen erforschten das Leben jenseits großer gesellschaftlicher Strukturen, was sie auf besonders eindrückliche Weise in ihrem Manifest Perlen auf dem Grund (1966) festhielten, einer Serie von Kurzfilmen, auf der Basis von Erzählungen Bohumil Hrabals.
Diese Erzählungen offenbaren authentische Beobachtungen des Lebens und verbanden Absurdität, schwarzen Humor und Tragikomik. Doch Perlen auf dem Grund und die Neue Welle des tschechoslowakischen Kinos traten nicht mit einem expliziten Programm in Erscheinung. Vielmehr waren sie Teil einer allgemeinen Entwicklung hin zu mehr Vielfalt, geprägt von der Ablehnung vorgegebener Strukturen.
Obwohl die meisten dieser Filme keine offene politische Kritik betrieben, beunruhigte die Parteiführung vor allem die Tatsache, dass es sich nicht um bloße Realitätsflucht handelte, sondern die Filme vielmehr ganz subtil ein hohes Maß Aktualität vermittelten. So erzählt etwa Miloš Formans Film Der Feuerwehrball (1967) auf geschickte Weise indirekt die Geschichte vom Verfall kollektiver Pläne, indem diese mit der anarchischen menschlichen Natur konfrontiert werden. Und dabei scheint es ganz unerheblich, wer an der Macht ist, ob Regierungen oder eben lokale Feuerwehrkomitees, denn schließlich wandeln sich auch die besten Intentionen allmählich in Heuchelei und Gleichgültigkeit.
Die Entwicklungen des tschechischen Kulturbetriebs bildeten die mentalen Grundlagen für den Prager Frühling und machen deutlich, warum neue übergreifende Modelle des Sozialismus so schwer umzusetzen waren.
Ob in Literatur, Film oder Theater, die Erosion der „sozialistischen Revolution“ trat überall zutage. Der Niedergang der großen Erzählung in der Literatur und die Absage an den dramatischen Konflikt im Theater halfen allerdings, eine neue Form der Utopie zu erschaffen, eine, die in den Alltag übertragen werden konnte. Obwohl die KünstlerInnen eine sehr heterogene Gruppe darstellten, hatte kaum jemand im Sinn, die Parteiherrschaft zu destabilisieren. Die kontinuierliche Verbesserung der real existierenden Welt war das eigentliche Ziel ihrer künstlerischen Arbeit.
Übersetzung: Rainette Lange
[1] Die Liblice-Konferenz (oder Kafka-Konferenz) im Jahr 1963 war eine internationale Tagung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, von der wichtige Impulse für den Prager Frühling ausgingen.
Oft wird behauptet, der Prager Frühling sei nicht durch die Parteiführung von oben in Gang gesetzt worden, sondern durch die Intellektuellen des Landes, also eher von unten. Anders als in Ungarn 1956, in Polen 1980-81 oder die Perestroika in der UdSSR seit Mitte der 1980er Jahre, so die These, sei der Prager Frühling durch kritische WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen initiiert worden. Es ist wichtig, dieses Narrativ, nach dem es vor allem die kreativen Köpfe waren, die die Macht herausgefordert haben, in einem größeren Kontext zu betrachten.
Zwar wurde im Verlauf der stalinistischen Aufbauphase der 1950er Jahre in der Tschechoslowakei hauptsächlich die Arbeiterklasse gefördert, gleichzeitig verbesserten sich jedoch auch Status und materieller Wohlstand vieler Intellektueller, vor allem der SchriftstellerInnen.
Das künstlerische Schaffen wurde in hohem Maße durch die kommunistische Regierung gefördert: durch Stipendien, finanziell unabhängigere Verlagshäuser, Zeitschriften, günstige Kredite oder sogenannte „Schriftstellerheime”. Durch die materielle Autonomie, die den SchriftstellerInnen zugebilligt wurde, gestaltete sich ihre Beziehung zum Staat komplizierter, als es das Klischee des „Transmissionsriemens“ nahelegt. Der Tschechoslowakische Schriftstellerverband als wichtigste Dachorganisation für AutorInnen setzte sich beispielsweise häufig für die Existenz von SchriftstellerInnen ein, die bei den staatlichen Autoritäten in Ungnade gefallen waren, indem er ihnen Schutz gewährte. Offene Konfrontationen gab es vor dem Prager Frühling im Jahr 1968 daher selten.
Obwohl andere Kunstformen und besonders das Kino zunehmend an Bedeutung gewannen, genossen die SchriftstellerInnen und ihre jeweiligen Interpretationen des Zeitgeschehens eine ungeheure öffentliche Aufmerksamkeit. Dies gilt insbesondere für die 1960er Jahre und vor allem für die Zeit nach der Lockerung der Zensur. Man denke nur an den beispiellosen Einfluss der Literární listy. Diese tschechische intellektuelle Wochenzeitschrift erreichte im Jahr 1968 eine Auflage von rund 300.000 Exemplaren in einer Nation von weniger als zehn Millionen EinwohnerInnen (in der Slowakei existierte eine ähnliche Zeitschrift: Kultúrny život).
Ironischerweise hatte die Wertschätzung der Literatur und ihre besondere Position ihre Ursprünge der Aufwertung des gedruckten Wortes durch Stalin zu verdanken. Schließlich hatte Stalin seine maßgeblichen ideologischen Entscheidungen durch Bücher, Artikel und „Leserbriefe” verbreitet. Das außerordentlich starke Interesse an Literatur in den 1960er Jahren war daher auch eine Folge stalinistischer Ideologie- und Politikvermittlung.
Der Hunger nach Büchern in breiten Teilen der Gesellschaft kommt schließlich in wichtigen Editionsprojekten zum Ausdruck, die in der Öffentlichkeit viel Beachtung fanden. Besonders wichtig war etwa die 1963 erschienene tschechische Ausgabe von Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, die unmittelbar nach Erscheinen ein Verkaufserfolg wurde. Eine ähnliche Sensation war die Publikation des slowakischen Romans Verspätete Reportagen von Ladislav Mňačkos (1963) und Milan Kunderas Der Scherz (1967). In beiden Romanen stellen die Autoren die Rolle des Menschen als Schöpfer ihrer Geschichte vehement in Frage.
Die Zerstörung des monumentalen Stalin-Denkmals in Prag im Jahr 1962 markierte symbolisch die zweite Entstalinisierungswelle nach dem XXII. Parteitag der KPdSU. Erst im Anschluss daran begann die kulturelle Szene und auch die jüngere Schriftstellergeneration eine kritische Agenda zu entwickeln. Zeitschriften mit starker Ausrichtung auf westliche intellektuelle und künstlerische Strömungen florierten in dieser Zeit. Literarische Ereignisse lösten Debatten aus und verstärkten das Interesse der LeserInnen. Die Kafka-Konferenz in Liblice 1963[1] war in dieser Hinsicht ein Höhepunkt, denn das Werk Franz Kafkas wurde für eine marxistische Analyse zugänglich gemacht. Zudem folgte ein Besuch Jean-Paul Sartres in Prag im Herbst 1963. Die Führung der KPT wollte von nun an die Bereiche Kultur und Kunst weniger stark kontrollieren. Man zielte vielmehr darauf ab, dem Westen die Fähigkeit der tschechischen Gesellschaft zur Moderne zu präsentieren. Dafür wurde Kunst als Aushängeschild für einen progressiven Sozialismus genutzt.
Kultur spielte nicht nur für die Öffnung zum Westen und für den Nachweis zunehmender Freiheiten eine Rolle, sondern auch im Rahmen einer kritischen Retrospektive der Vergangenheit. Die SchriftstellerInnen forderten weniger Pathos, dafür mehr psychologische Ansätze, weniger schematischen Heroismus, stattdessen die Berücksichtigung von Alltagsproblemen. In der Lyrik entwickelten sich neue Formen, die das reale Leben reflektierten und die keine Triumphgesänge mehr waren. Die DichterInnen vollzogen eine Bewegung weg von der historischen Epoche hin zum Menschen, weg von der großen Geschichte hin zum Alltag, weg von einer kollektiven Zukunft hin zur individuellen Vergangenheit.
Eines der zentralen Themen war schließlich der Tod als Reflexion poststalinistischer Trauer sowie die Tendenz, eher der Opfer zu gedenken, als die Helden zu feiern.
Auch die Belletristik wandte sich von der großen Gesamtschau ab. Viele Werke verfolgten einen analytischen Ansatz, der sich auf Konfliktsituationen im Alltagsleben konzentrierte. Auf formaler Ebene wich der große Roman nun Erzählungen und Kurzgeschichten. Die SchriftstellerInnen befassten sich nicht mehr mit politischen Kämpfen, sondern mit schwierigen moralischen Dilemmata in der sozialistischen Gesellschaft und übertrugen den sozialen Konflikt in die Innenwelt des Helden.
Während politische Großprojekte existenziellen Themen Platz machten, veränderten sich auch die HeldInnen, die komplizierter und innerlich zerrissener waren und nicht länger die Geschichte gestalteten. Es entwickelte sich eine Vorliebe für Figuren, die vom Hegelianischen Prozess ausgeschlossen waren: AußenseiterInnen, Underdogs und die Erniedrigten. Insbesondere lassen sich vermehrt jüdische und Roma-ProtagonistInnen beobachten.
Auch im Theaterschaffen brachte das Tauwetter der 1960er Jahre Veränderungen. Überwog bisher die Darstellung schematisch gezeichneter Widersprüche, was typisch für die Phase des Stalinismus war, folgten nun lyrische und auf Introspektion der HeldInnen bedachte Szenen im Sinne Tschechows. Dieser Ansatz trug dazu bei, zentrale Narrative in Theaterstücken zu demontieren. Inspiriert von zeitgenössischen westlichen Avantgarde-Stücken, entwickelten die DramatikerInnen ein sehr tschechisches absurdes Drama, wie man es in Václav Havels Stücken Das Gartenfest (1963) und Das Memorandum (1965) verkörpert findet. Havel und andere griffen die kafkaeske Darstellung stumpfsinniger Bürokratie und vollkommen entfremdeter Individuen auf und verbanden dies mit den zentralen Forderungen der aktuellen politischen Kritik.
Das Theaterleben in der Tschechoslowakei wurde von großen Ereignissen geprägt, bei denen Kunst und Politik aufeinandertrafen. Eines der bedeutendsten war die Aufführung von Friedrich Dürrenmatts Die Wiedertäufer im März 1968, einer Parabel über Glaube und Täuschung, über politischen Fanatismus und intriganten Zynismus.
Die tschechoslowakischen Filmemacher entfernten sich ebenfalls von der Darstellung historischer Großereignisse und ideologischer Vorgaben und stellten individuelle Erfahrungen in den Mittelpunkt. Häufig ging es um elementare menschliche Probleme mit all den damit verbundenen komischen, manchmal Mitgefühl erregenden und zum Teil unbeschreiblichen Phänomenen. Die jungen FilmemacherInnen erforschten das Leben jenseits großer gesellschaftlicher Strukturen, was sie auf besonders eindrückliche Weise in ihrem Manifest Perlen auf dem Grund (1966) festhielten, einer Serie von Kurzfilmen, auf der Basis von Erzählungen Bohumil Hrabals.
Diese Erzählungen offenbaren authentische Beobachtungen des Lebens und verbanden Absurdität, schwarzen Humor und Tragikomik. Doch Perlen auf dem Grund und die Neue Welle des tschechoslowakischen Kinos traten nicht mit einem expliziten Programm in Erscheinung. Vielmehr waren sie Teil einer allgemeinen Entwicklung hin zu mehr Vielfalt, geprägt von der Ablehnung vorgegebener Strukturen.
Obwohl die meisten dieser Filme keine offene politische Kritik betrieben, beunruhigte die Parteiführung vor allem die Tatsache, dass es sich nicht um bloße Realitätsflucht handelte, sondern die Filme vielmehr ganz subtil ein hohes Maß Aktualität vermittelten. So erzählt etwa Miloš Formans Film Der Feuerwehrball (1967) auf geschickte Weise indirekt die Geschichte vom Verfall kollektiver Pläne, indem diese mit der anarchischen menschlichen Natur konfrontiert werden. Und dabei scheint es ganz unerheblich, wer an der Macht ist, ob Regierungen oder eben lokale Feuerwehrkomitees, denn schließlich wandeln sich auch die besten Intentionen allmählich in Heuchelei und Gleichgültigkeit.
Die Entwicklungen des tschechischen Kulturbetriebs bildeten die mentalen Grundlagen für den Prager Frühling und machen deutlich, warum neue übergreifende Modelle des Sozialismus so schwer umzusetzen waren.
Ob in Literatur, Film oder Theater, die Erosion der „sozialistischen Revolution“ trat überall zutage. Der Niedergang der großen Erzählung in der Literatur und die Absage an den dramatischen Konflikt im Theater halfen allerdings, eine neue Form der Utopie zu erschaffen, eine, die in den Alltag übertragen werden konnte. Obwohl die KünstlerInnen eine sehr heterogene Gruppe darstellten, hatte kaum jemand im Sinn, die Parteiherrschaft zu destabilisieren. Die kontinuierliche Verbesserung der real existierenden Welt war das eigentliche Ziel ihrer künstlerischen Arbeit.
Übersetzung: Rainette Lange
[1] Die Liblice-Konferenz (oder Kafka-Konferenz) im Jahr 1963 war eine internationale Tagung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, von der wichtige Impulse für den Prager Frühling ausgingen.
Kultur und Macht im Vorfeld des Prager Frühlings
Eine komplizierte Beziehung