Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Nina Verheyen bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil VII: Wozu brauchen Historiker*innen Theorie?
Diskussion am 5. Mai 2023 (online)
Eingangsstatement von Nina Verheyen (Freie Universität Berlin)
Wie sich nach den Beiträgen von Birgit Emich und Thomas Mergel andeutet, stimmen wir Vortragende in relativ vielen Punkten überein. Allerdings glaube ich nicht, dass die Debatten über Geschichtstheorie ausgedient haben: Meiner Vermutung nach wird uns in Zukunft gerade die Geschichtstheorie wieder verstärkt beschäftigen oder sie sollte dies zumindest tun, ebenso wie Fragen nach den methodisch-theoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Wir können darauf hoffentlich in der Diskussion zurückkommen, denn gemäß der Anfrage der Veranstalter:innen möchte ich zunächst ausgehend von meiner eigenen Forschungspraxis darüber reflektieren, wozu ich selbst als Historikerin Theorie ‚brauche‘ und davon ausgehend: wie Historiker:innen in meinem Umfeld praktisch mit Theorie umgehen. Dazu vier Beobachtungen, vier Thesen:
- Die Omnipräsenz des Theoretischen oder: Ein erster Blick in die Praxis
Wenn man bei der Frage nach der Theorie der Geschichtswissenschaft an deren Praxis ansetzt, wird schnell deutlich, dass die oft formulierte These von der Theorieferne dieses Fachs irreführend ist. Denn auch wenn viele Historiker:innen ihre Studien nicht dezidiert als theoriegeleitet beschreiben, so ist die Theorie in diesen Arbeiten doch oft sehr präsent. Schon gängige Begriffe geschichtswissenschaftlicher Praxis sei es ‚Geschichte‘, ‚Diskurs‘, ‚global‘ verweisen bereits auf theoretische Vorannahmen. Diese Vorannahmen prägen die Praxis geschichtswissenschaftlichen Schreibens, sie bestimmen darüber, was Historiker:innen erkennen, denken, sagen und sagen können. Sie bestimmen das Fach.
Die Geschichtswissenschaften sind in diesem Sinne also überaus theoretisch und sie sind dies auch immer schongewesen. Bestenfalls hat es Verschiebungen bezogen auf die konkret genutzten Theorien sowie den Explizitheitsgrad von Reflexion des Theoretischen gegeben. Als beispielsweise die Sozialgeschichte seit den 1970er eine stärkere Theoretisierung der Geschichtswissenschaften einforderte, war damit genauer eine ‚Versozialwissenschaftlichung des Theoretischen‘ der Geschichtswissenschaften gemeint, verbunden mit dem Plädoyer, Theorien anders zu nutzen und sie expliziter zu reflektieren – genau, wie es die Sozialwissenschaften eben tun. Das führt schon zu:
- Soziologisch informierte Kulturgeschichte oder. Ein Blick in meine eigene Praxis
Ich selbst habe eine ganze Weile Sozialwissenschaften studiert, bevor ich in die Geschichte gewechselt habe – in die Alte Geschichte zunächst. Mit dem bereits erwähnten Jürgen Kocka als späterem Doktorvater war ich dann mit der deutschen Sozialgeschichte verbunden, wobei ich mich vor allem als soziologisch geschulte Kulturhistorikerin sehe, als jemand, der ‚Kultur‘ im weiten ethnologischen Sinne aufzuschlüsseln versucht, auch weil diese Kultur bedeutsam ist für das Soziale: Wie Menschen miteinander agieren, welche sozialen Beziehungen sie ausbilden und welche sozialen Institutionen, hängt maßgeblich davon ab, was sie als bedeutsam erkennen und damit bedeutsam machen. Das Ergebnis ist kulturell variabel und: historisch gewachsen. Das verweist auf eine Kulturgeschichte auf der Grundlage von theoretischen Vorannahmen, die maßgeblich aus der Ethnologie und der Kultur- und Wissenssoziologie stammen, wenngleich auch feministische Theorien und postocolonial studies, bestimmte philosophische Strömungen und genuin geschichtswissenschaftliche Theoriedebatten für eine solche Kulturgeschichte wesentlich sind.
Auf dieser Grundlage zieht sich die Beschäftigung mit Theorie als roter Faden durch mein Akademikerinnenleben, vom Beginn des Studiums bis in die Gegenwart – gerade liegt Stefan-Ludwig Hoffmanns „Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik“ auf dem Schreibtisch, demnächst diskutieren wir zusammen das Buch. Für mich schließt sich damit insofern ein Kreis, als Koselleck der erste Historiker war, in dessen Vorlesung ich überhaupt jemals saß – an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Vortrag war faszinierend, aber als jemand, der eine spezifisch zeitgeschichtliche Historik vorlegte, wie Stefan-Ludwig Hoffman überzeugend argumentiert, erkannte ich ihn damals nicht, und zum ‚Fan‘ bin ich nie geworden. Das allerdings lässt sich verallgemeinern: Zwar haben mich Theoriedebatten und Theorielektüren immer wieder intensiv beschäftigt, manchmal regelrecht erschüttert, aber die Anhängerschaft an eine Theorie oder einen Theoretiker war mir immer suspekt. Vielmehr ist die Beschäftigung mit Theorie für mich vor allem Mittel zum Zweck gewesen, Mittel, um als Historikerin besser zu verstehen. Insofern bin ich vielleicht Paradebeispiel für eine Historikerin, die über Theorien zwar regelmäßig explizit reflektiert, die Theorien aber in erste Linie auch braucht im Sinne von gebraucht. Wie nun genau?
- Theorien amalgamieren oder: Fröhlicher Eklektizismus?
Zweifellos nutze ich Theorien, vor allem Sozial- und Kulturtheorien, eklektizistisch, womit ich meine, dass ich sie in einzelne Teile zerlege und neu zusammenfüge. Andreas Reckwitz hat ein ganzes Buch darüber geschrieben wie man Michel Foucault und Pierre Bourdieu kohärent aufeinander beziehen und zusammendenken, mit beiden gleichzeitig arbeiten kann. Ich beziehe mich in meiner Doktorarbeit nicht nur auf Foucault und Bourdieu, sondern auch auf Geertz und Habermas, auf Berger/Luckmann und Adorno/Horkheimer, um nur eine schmale Auswahl der Zitierten zu nennen. In der Habilschrift geht es um Chakrabarty und Said, aber wieder auch um Berger/Luckmann und Geertz, außerdem um Koselleck, Simmel, Latour und viele andere mehr. Und in beiden Schriften brauche ich stets nur relativ wenige Seiten oder sogar nur wenige Sätze, um Elemente aus mit diesen Namen verbundenen und in vielem gerade nicht miteinander kompatiblen Oeuvres zu einem mehr oder weniger kohärenten Ganzen zu amalgamieren oder zumindest: sie in einen Zusammenhang zu stellen, um im Dschungel methodisch-theoretischen Perspektivenwechsels die eigene Perspektive zu schärfen. Mit dieser Praxis bin ich nicht allein. Es scheint mir typisch für den Gebrauch von Theorien durch Geschichtswissenschaftler:innen meiner Generation und meines Umfelds zu sein, Dinge zusammenzufügen, die auf den ersten Blick nicht zueinander passen wollen. Ist das nun oberflächlich oder sogar unsinnig oder sogar versteckt untheoretisch? Verkommt das hohe Geschäft der Theorie hier zum bunten Selbstbedienungsladen oder zum angeberischen Namedropping?
Nun, jedenfalls nicht notwendig. Als eine am Sozialen interessierte Kulturhistorikerin möchte ich im Gegenteil die These aufstellen, dass hinter dem Amalgamieren unterschiedlicher theoretischer Versatzstücke als in einem bestimmten Segment typischen Element geschichtswissenschaftlichen Arbeitens zumindest im günstigen Fall eine höhere theoretische Einsicht steht: Die Sozial- und Kulturtheorien, die wir fast immer aus anderen Disziplinen beziehen, sind mehrheitlich in westlich-liberalen Gesellschaften der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit entwickelt worden. Als Theorien mittlerer Reichweite beschreiben sie vorrangig diese Gesellschaften und – kohärent angewendet – passen sie damit oft nicht zu nicht zu unseren historischen Untersuchungsgegenständen. Sie greifen an den Sinnwelten von Menschen der Vergangenheit und damit in Zusammenhang stehenden sozialen Beziehungen systematisch vorbei. Geschlossen eingesetzt, helfen sie daher auch nicht, vergangenes Handeln, Fühlen, Denken besser zu beschreiben, sondern sie verstellen den Blick. Wir müssen diese Theorien aufbrechen, um überhaupt sinnvoll geschichtswissenschaftlich mit ihnen arbeiten zu können, wir können von ihnen immer nur Versatzstücke entlehnen. Denn würden wir Theorien etwa des späten 20. Jahrhunderts gleichsam kohärent anwenden, schauten wir mit Blick auf das 19. und 18. Jahrhundert an der Lebenswirklichkeit der Akteur:innen und damit auch den Logiken ihrer Welten vorbei. Und schauten wir mit diesen Theorien auf das späte 20. Jahrhundert, reproduzierten wir letztlich zeitgenössische Perspektiven, anstatt diese zu dechiffrieren – Rüdiger Graf hat dazu zusammen mit Kim Christian Priemel einen erhellenden Aufsatz geschrieben. Mit anderen Worten: wir dürfen Theorien nicht nur zerlegen und neu zusammensetzen, wir sollten sogar. Das Ergebnis ist weder untheoretisch noch multitheoretisch, sondern geschichtswissenschaftlich. Und es entsteht dabei etwas Neues, neues empirisches Wissen, aber manchmal auch neues theoretisches Wissen. Das führt zum vierten und letzten Punkt.
- Theorien kritisieren und differenzieren oder: Geschichtswissenschaften als Verkomplizierung
Auch wenn es nicht das vorrangige Ziel ist, so ergeben sich aus geschichtswissenschaftlicher Forschung immer wieder Pointen für sozial- und kulturwissenschaftlichen Theoriedebatten selbst. Ohne Sie und Euch mit einer Zusammenfassung meiner beiden Qualifikationsschriften zu strapazieren, möchte ich entsprechend der Bitte, an meiner eigenen Praxis anzusetzen, an dieser Stelle auf beide knapp verweisen.
Die Dissertationsschrift ist auf der empirischen Ebene ein Beitrag zur Geschichte alltäglicher Diskussionslust in der alten Bundesrepublik aus teilweise transatlantischer Perspektive, wobei sie – als Aufhänger – die Diskurstheorie von Jürgen Habermas in diesen konkreten soziokulturellen Kontext einbettet. Auf sozialtheoretischer Ebene ist sie aber weniger ein Beitrag zur Habermas‘ Diskurstheorie, der sich für den Alltag ja gar nicht interessiert, sondern vor allem ein Beitrag zur Theorie der Civil Society von Jean Cohen und Andrew Arato. Diese beiden sozialwissenschaftlichen Autoren setzen ahistorisch voraus, dass Menschen in ein argumentatives, ein deliberatives Gespräch eintreten, wenn sie dies aufgrund struktureller Rahmenbedingungen können. Das aber verkennt, dass der Wille zum argumentativen Gespräch keine anthropologische Konstante ist, sondern erst gelernt werden, genauer: sich in Deutungsmuster und Routinen einschreiben muss. An konkreten Beispielen zeige ich in der Studie, wie sich solche alltäglichen Routinisierungen in verschiedenen Praxisfeldern der alten Bundesrepublik vollzogen, was manchen Beteiligten nicht nur enorme Freude bereitete, sondern ihnen auch Vorteile verschaffte, während es anderen Menschen Nachteile und Schmerz verursachte.
Die Habilitationsschrift widmet sich empirisch der subjektiven Bedeutung von sozialen Konstruktionen persönlicher Leistung in Deutschland um 1900 in transnationaler Perspektive. Es geht unter anderem um die Sorge einer Frauenrechtlerin, nicht leistungsstark zu sein, um den Suizid eines Schülers wegen schlechter Schulnoten und um einen Radsport-Weltmeister, der vom Sohn eines Steinmetzes zu einem der ersten Besitzer eines Privatflugzeugs avancierte – und damit abstürzte. Auf theoretischer Ebene ist die Arbeit ein Beitrag zu soziologischen Debatten über sogenannte Leistungsgesellschaften. Diese soziologischen Debatten, so der Ausgangspunkt der Arbeit, setzen Leistungsgesellschaften nicht nur vorschnell mit kapitalistischen Gesellschaften gleich, sondern sie sind auch hochgradig eurozentristisch, indem sie primär die westliche Moderne als leistungsorientierten Sozialzusammenhang konturieren und dieses Merkmal als Ergebnis europäischer Geschichte deuten. Demgegenüber zeigt und argumentiert meine Schrift, dass das oft überschätzte Leistungsstreben von Männern der deutschen Mittel- und Oberschichten um 1900 nicht zuletzt eine durchaus widerstrebende Anpassung an neue soziale und bürokratische Dynamiken inmitten einer frühen Hochphase globaler Interaktionen war. Zudem war das, was Menschen des Kaiserreichs als herausragende Leistungen feierten, auch Ergebnis einer asymmetrisch verflochten und nur deshalb in bestimmten Segmenten erstaunlich produktiven Welt, ein relationaler Zusammenhang, über den die substantialistische und anthroprozentrische Vorstellung einer genuin persönlichen Leistung erfolgreich hinwegtäuschte.
Wie dies in aller Kürze andeuten soll, sollten Theorien aus den Nachbardisziplinen nicht nur zerlegt werden, um sie freimütig neu zusammenzusetzen, sondern es geht manchmal und zusätzlich auch darum, einen dezidiert kulturhistorischen kritischen Impuls zu sozialwissenschaftlichen Theoriedebatten der Gegenwart zu leisten. Zugespitzt formuliert: Wir brauchen Theorien (selbstverständlich für noch viel mehr, als ich hier ansprechen konnte). Aber die Theorien ‚brauchen‘ auch uns – als kritisches Korrektiv und zur Verkomplizierung. Und damit danke ich für die Aufmerksamkeit.
Nina Verheyen Teil 7): Wozu brauchen Historiker*innen Theorie?